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BAÜZEITUNG
Nr. 37
dem Einfluß für das Geschick seines Lebens waren. Unser
Gewährsmann schreibt:
Als Leutnant der Reserve im Infanterieregiment Nr. 48
ins Feld rückend, wurde v. Ernst beim Sturm auf die Spicherer
Höhen durch einen Oberschenkelschuß verwundet. Ohne
seine vollständige Heilung abzuwarten, kehrte er im
Oktober aus dem Lazarett zu seinem Regiment zurück,
das vor Metz lag, und erhielt bei seiner Meldung das
ihm inzwischen in Spichern verliehene Eiserne Kreuz.
Mit seinem Truppenteil machte er alle Kämpfe vor
Orleans und an der Loire mit, bis er schließlich am
6. Januar 1871 bei Yendöme so schwer verwundet wurde,
daß die Erhaltung seines Lehens jahrelang bedroht blieb.
Sein ungebrochener Lebensmut und seine Tatkraft führten
ihn, unterstützt durch das opferwillige Vertrauen seiner
Braut, einer Tochter des Geheimrats v. Beguelin, nach
fünfjährigem Krankenlager endlich wieder einer bürger
lichen Berufstätigkeit zu. Noch während seines Kranken
lagers bereitete er sich auf die Staatsprüfung für das
Lehrfach an höheren Gewerbeschulen in Preußen vor und
bestand sie im Frühjahr 1876 mit dem Zeugnis „vor
züglich“ für die eingereichte wissenschaftliche Arbeit.
Die im Herbst desselben Jahres erfolgte Anstellung in
Halberstadt als Lehrer für Maschinenbau und technische
Mechanik an der höheren Gewerbeschule ermöglichte
seine Verheiratung. Selten ist ein junger Hausstand
unter so schweren Sorgen gegründet worden wie dieser;
denn wiederholt kehrten durch schwere Operationen Zeiten
wieder, wo nach dem Unterricht das Mittagessen im Bett
eingenommen werden mußte, weil der Körper nicht das
Sitzen auf die Dauer vertrug, und nicht wenige der
v. Ernstschen Schüler haben Untex-richt von ihm genossen,
als er vor ihnen auf Krücken gestützt an der Tafel
skizzierte oder mathematische Gleichungen entwickelte.
Nichtauffindhare Kugelreste der im Januar 1871 emp
fangenen Verwundung veranlaßten, daß die Wunde bis an
sein Lebensende offen gehalten wurde.
An sich durch innere Neigung und Veranlagung zum
Lehrer geschaffen und durch die vorangegangene prak
tische Berufstätigkeit für das besondere Lehi'gebiet als
Maschineningenieur eigens voi’bereitet, wurde er durch
seine gesundheitlichen Verhältnisse in eine Zwangslage ver
setzt, die ihm zunächst nur einen bescheidenen Wirkungs
kreis eröffneten, der auf die Dauer seinem Streben nicht
genügen konnte, das in früheren Zeiten die akademische
Laufbahn ins Auge gefaßt hatte. So tauchte jetzt erst
recht dieses Ziel wieder auf und damit der Entschluß,
sich den Weg dazu durch erneute Anspannung aller
Kräfte, durch Veröffentlichung eines größeren wissen
schaftlichen Werkes zu bahnen. Unter diesen Umständen
— zum größten Teil im Krankenbett liegend und unter
Aufwendung monatelanger Nachtarbeit — verfaßte v. Ernst
die 1883 erschienene erste Auflage seiner „Hebezeuge“,
ein Werk, das im Laufe der Jahre durch drei weitere
Auflagen (die letzte aus dem Jahre 1903 stammend) den
Verfasser zur hervorragenden Autorität auf diesem Ge
biete machte. Dieses Werk stellt in seinen vier Auflagen
seine eigentliche Lebensarbeit dar und liefert gleichzeitig
ein Spiegelbild der ganzen praktischen und wissenschaft
lichen Entwicklung dieses Zweigs des Maschinenbaues.
Im Jahr 1884 wurde v. Ernst als Professor an die
Technische Hochschule in Stuttgart berufen. Hier war ihm
Gelegenheit geboten, eine seinen Kräften und Neigungen
entsprechende Tätigkeit zu entfalten. Zahlreiche Abhand
lungen, insbesondere in der Zeitschrift des Vereins deutscher
Ingenieure, sowie weitere selbständige Schriften legen
Zeugnis ab von der umfassenden und bei dem körper
lichen Zustand geradezu bewunderungswürdigen Tätigkeit
auf dem Gebiet des Maschineningenieurwesens. Für seine
Fähigkeit, auch auf andern Gebieten als denen seines
Fachs tätig zu sein, sprechen insbesondere seine Schriften
„Kultur und Technik“, Berlin 1888, und die rein geschicht
liche Monographie „Denkwürdigkeiten von Heinrich und
Amalie v. Beguelin“, Berlin 1892. In der letzteren ver
öffentlicht er Familienpapiere aus der Zeit nach Jena
1806 bis 1813, in der die Großeltern seiner Frau, der
Geh. Staatsrat v. Beguelin als Bevollmächtigter Preußens
und seine Gattin Amalie, eine hochbegabte und tatkräftige
Patiüotin, eine geschichtlich anerkannte Rolle für die
Wiederei’hebung Preußens und die Vorbereitung zu den
Fi'eiheitskriegen spielten. Für seine Neigung, auch die
fachlichen Dinge nach der Seite der geschichtlichen Ent
wicklung zu verfolgen, spricht weiter seine Schrift „James
Watt und die Grundlagen des modernen Dampfmaschinen
baus“, Berlin 1897.
Als Fachmann war v. Ernst ein eifriges Mitglied des
Vereins deutscher Ingenieure und wiederholt, teils im
Hauptverein, [teils im württembergischen Bozirksverein
Mitglied des Vorstandes, in letzterem 1899 Vorsitzender.
Eine Reihe von Jahren gehörte er dem Vorstand des
Württembergischen DampfkesselrevisionsVereins an. Jn
wichtigen Fragen wurde er als Sachverständiger und Rat
geber aufgesucht; unter anderm verdanken ihm die deutschen
Waffen- und Munitionsfabriken, vor allem die Waffenfabrik
von Mauser in Oberndorf, die erfolgreiche Verteidigung
der Mauserschen Patente. Diese liervorragenden, für
zwölf Armeelieferungen verwerteten Erfindungen waren
durch einen ränkevollen Prozeß, der sich jahrelang in
Deutschland und Belgien hinzog, mit allen Mitteln als
amerikanisches Eigentum in Anspruch genommen worden.
Von Ernst verfaßte, von den württembergischen Gerichten
als Sachverständiger berufen, umfangreiche Druckschriften,
die zum Teil ein Werk über moderne Waffentechnik dar
stellen, und stand Mauser auch in dem letzten Ent
scheidungsprozeß in Brüssel zur Seite, der endgültig
dem deutschen Erfinder sein geistiges Eigentumsrecht
zuerkannte und ihn vor großen materiellen Verlusten be
wahrte. Auch von Behörden wurde v. Ernst gelegentlich
zu Beratungen herangezogen. Wiederholt war er Jui’y-
mitglied für Ausstellungen in Berlin, Stuttgart, Düssel
dorf u. s. w. 1892 erging ein Ruf von der Kgl. Tech
nischen Hochschule in Dresden an ihn, 1904 verlieh ihm
die Technische Hochschule in Darmstadt die Würde eines
Doktor-Ingenieurs ehrenhalber, 1905 erhielt er das Ehren
kreuz des Oi’dens der württembergischen Krone.
Anfangs des vorigen Jahi’s begannen sich die nach
teiligen Wirkungen seiner Wunde deutlicher geltend zu
machen; er mußte im Sommersemester 1906 ganz aus
setzen und konnte seine Tätigkeit auch im Winter
semester 1906/07 nicht vollständig ausüben. Im letzten
Sommersemester beantragte er seine Pensionierung, die
ihm unter Verleihung des Titels eines Baudirektors auf
1. Oktober d. J. gewährt wurde. Die dankbare Studenten
schaft der Technischen Hochschule ehrte ihn durch einen
Fackelzug. Die Abteilung für Maschineningenieurwesen,
die in erster Linie berufen war, sich über die Tätigkeit
des Scheidenden zu äußern, sprach bei dieser Gelegenheit
aus: „23 Jahre hindurch hat v. Ernst als Lehrer an der
Hochschule mit bedeutendem Erfolge gewirkt und durch
hervorragende schriftstellerische Arbeiten auf den ihm
übertragenen Lehrgebieten zu dem Rufe beigetragen,
dessen sich unsre Hochschule erfreut. Trotz seiner
Wunde aus dem Feldzüge 1870/71 hat er unermüdlich
gearbeitet und ist jederzeit bereit gewesen, seine Kraft
in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen. Für alles
das dankt ihm die Abteilung herzlich.“
Die Lebensskizze des Mannes wäre unvollständig,
wenn nicht hervorgehoben würde, was er, der selbst
körperlich Schweres zu ertragen hatte, dadurch litt, daß
seiner Lebensgefährtin, die ihm eine treue Pflegerin ge
wesen und die ihm vier blühende Kinder geschenkt hatte,
eine im Jahr 1885 beginnende und bis zu ihrem Tode
im Februar 1907 weiter fortschreitende Lähmung be-
schieden war. Ueber all das Schwere konnten ihm die