Full text: Bauzeitung für Württemberg, Baden, Hessen, Elsaß-Lothringen (1907)

FÜR WÜRTTEMBERG’ 
BADEN HESSEN ELr 
SASS-LOTHRINGEN 
Stuttgart, 30. November 1907 
Inhalt; Gedanken über das künstlerische Sehen im Zusammenhang mit dem Ausgang des Wettbewerbes 
zur Umgestaltung des Münsterplatzes in Ulm. — Die Renovierung der Kirche zu Unterriexingen. — 
Architektenfragen. — Neue Bauordnung Württembergs. — Unterweisungen im Baugesetz. — Vom Holz- 
raarkt. — Vereinsmitteilungen. — Wettbewerbe. — Kleine Mitteilungen. — Personalien. 
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Alle Rechte Vorbehalten 
Gedanken über das künstlerische Sehen im Zusammenhang mit dem Ausgang des 
Wettbewerbes zur Umgestaltung des Münsterplatzes in Ulm 
Zu dem allgemeinen Interesse an unsrer deutschen 
Baukunst, das sich vor 20 Jahren noch fast ausschließlich 
nur an die Schönheit des einzelnen Bauwerkes geknüpft 
hatte, gesellte sich in den letzten Dezennien auch die 
Freude an schönen baulichen Zusammenhängen, den 
jetzt so häufig gepriesenen schönen Städtebildern. Man 
fängt an, für Erhaltung oder Ergänzung alter, ja selbst 
Schaffung ganz neuer solcher Bilder mit Wärme einzu 
treten. In diesem Abspringen der Bewunderung vom 
Einzelbauobjekt auf eine höhere bauliche Gesamtheit, 
dem Städtebild, darf man erfreulicherweise ein gesundes 
Fortschreiten im Sehvermögen der Allgemeinheit nach 
der künstlerischen Seite hin erblicken. 
Es gibt zwei wesentlich voneinander verschiedene 
Arten, in welchen wir unser Sehorgan zum Schauen be 
nutzen. Professor v. Hildebrand hat schon darauf auf 
merksam gemacht und in seinem „Problem der Form“ 
festgestellt, daß wir beim Sehakt einmal einen einzelnen 
Gegenstand aufs Korn nehmen, wir tasten gleichsam 
seine Oberflächen mit bewegten Augen hintereinander 
ab, um ihn so genau kennen zu lernen; dabei wird das, 
was in seiner unmittelbaren Nähe ist, wie zum Beispiel 
die haltende Hand, überhaupt alles, was in demselben 
Gesichtskegel liegt, nur nebenher gesehen, ohne daß dieses 
Nebengesicht so eigentlich bewußt wird; das andre Mal 
lassen wir den Blick gleichmäßig in Ruhe haften auf 
einem Gesichtsfeld, ohne daß wir einen Einzelgegenstand 
aus ihm besonders hervorholen, wir überschauen dann 
mit ruhendem Auge ein Ganzes, ohne irgendeine Einzel 
erscheinung davon auszuschließen, und wir heißen das, 
was wir so sehen, ein Bild. 
Es liegt auf der Hand, daß die beiden eben beschrie 
benen Sehvorgänge, wenn sie auch gleichzeitig auftreten, 
je nachdem der eine oder der andre mehr vorherrscht, 
auf den Gestaltungsprozeß aller sichtbaren Dinge einen 
verschiedenen Einfluß ausüben müssen, daß also da, wo 
die Betonung auf die Ueberblickung des ganzen Gesichts 
feldes gelegt ist, etwas ganz andres entsteht als da, wo 
das Interesse nur für einen oder mehrere Teile der im 
Gesichtsfeld vorkommenden Dinge konzentriert ist und 
das andre übersehen oder nicht beachtet wird. 
Zugleich leuchtet aber auch ein, daß ein im Entstehen 
begriffenes Gesamtbild nur im ersteren Fall sich wirklich 
schön gestalten kann; denn bei diesem ersteren Seh 
vorgang wird alles berücksichtigt, -was im Bilde, im 
Gesichtsfeld überhaupt erscheint; im letzteren Falle wird 
nur ein Teil von diesem Ganzen der Betrachtung unter 
zogen, der wohl für sich seine eigne Schönheit erhalten 
kann, im Zusammenhänge mit seiner Umgehung aber ins 
Auge gefaßt, doch als ein das Ganze störender Teil dann 
empfunden werden muß, wenn die Nebenteile im Gesamt 
gesichtsfeld oder er selbst zu diesen nicht zufällig in 
Harmonie treten. 
Auf diese letztere Art können also ebensogut an 
ziehende wie abstoßende Bilder in die Erscheinung treten. 
Ist das Geschaute schon vorher als ein Ganzes organi 
siert, so sitzt im Bilde schon der Keim dafür, daß es 
anziehend werden kann; im zweiten Falle ist das Ge 
lingen eines guten Bildes dem Zufalle überlassen, der 
uns aber nicht immer den Gefallen tut, eiuzutreten. 
Wenn vorhin vom Organisieren gesprochen wurde, so 
soll damit nicht durchaus eine bewußte Handlung voraus 
gesetzt sein. An den schönsten Städtebildern haben ja 
die verschiedensten Zeiten geformt, und es kann deshalb 
ein bewußt organisierender Einzelwille nicht vorausgesetzt 
werden. Die langsame Entstehung dieser Schönheiten 
kann nur erklärt werden, wenn man ein ausgesprochenes 
Bedürfnis unsers Sehorgans annimmt, das durch Genera 
tionen hindurch stets gleichbleibt, immer wieder nach 
Erfüllung verlangt, und wir werden nicht fehlgehen, 
wenn wir als ein solches Bedürfnis das unbewußte Ver 
langen nach wohlgefälliger Ordnung ansehen. Ein solcher 
für das Wohlbehagen des Sehorgans vorauszusetzender 
Ordnungssinn ist auch ganz unabhängig vom Zeit 
geschmack. Die treibenden Faktoren dieses Ordnungs 
sinnes sind dieselben, wie sie dem Werdeprozeß der 
ganzen organischen Welt innewohnen müssen, gehören 
also unserm Empfindungsleben an und können sich nur 
dann rein entfalten, wenn dabei unsre intellektuelle Seite 
möglichst ausgeschaltet ist. Unser Verstandesleben kann 
uns im reinen Schauen manchen Streich spielen, und es 
ist ihm allein zuzuschreiben, wenn man heute bei einem 
Schauen mit Ausnahmen angelangt ist. Was muß heute 
alles als nicht vorhanden betrachtet werden, um den 
Genuß am Schönen nicht zu stören? Wir dürfen nur 
an die Oberleitungsnetze unsrer Trambahnen denken, an 
unsre die Luft durchziehenden Telephonleitungsdrähte 
mit ihren unvermeidlichen Ständern auf den Dächern, 
an die vielen unverkleideten Feuermauern, die uns ent 
gegenstarren, an häßliche hohe Kamine u. s. w., um uns 
dessen bewußt zu werden. Alle diese Dinge können 
nicht so ohne weiteres weggedacht werden da, wo es
	        

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