Full text: Bauzeitung für Württemberg, Baden, Hessen, Elsaß-Lothringen (1907)

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BAUZBITUNG 
Nr. 48 
sich, wie hier, um ein reines, durch andre Einflüsse un 
getrübtes Schauen handelt. Einzig und allein das Wohl 
behagen des Auges an dem zu Schauenden soll maßgebend 
sein; liier gibt es kein Hervorholen von Einzelheiten. 
Wir empfinden beim reinen Schauen nur dann Wohl 
behagen, wenn wir uns in dem Erschauten sofort zurecht 
finden; das bietet uns die Wahrung einer gewissen Ein 
heit in dem Erschauten. Jede Einheit setzt sich aber 
nun wieder aus einer Vielheit zusammen oder umgekehrt, 
die geschaute Vielheit soll sich zu einer höheren Einheit 
zusammengeben. Das geschieht der Hauptsache nach 
dann, wenn die Teile sich zunächst in Herrschende und 
Beherrschte voneinander sondern und nebenher doch 
wieder in Beziehungen treten, die man im allgemeinen 
mit Aehnlichkeits- und Kontrastbeziehungen kennzeichnen 
kann. Auf diese Dinge näher einzugehen, ist hier nicht 
der Ort; aber um mich auch vor dem Nichtfachmann 
verständlich zu machen, seien einige Beispiele einge 
flochten. Eine Scheidung in Herrschendes und Be 
herrschtes tritt zum Beispiel ein, wenn die um die 
Kirche gruppierten Häuser in ihren Dimensionen sich 
zurückhalten und damit bescheiden dem wichtigeren 
Kirchenbau unterordnen oder wenn eine öffentliche 
Gartenanlage sich nicht als Ding für sich gebärdet, son 
dern in der dienenden Bolle als Zubehör zu einem öffent 
lichen Gebäude sich gefällt. In beiden Fällen entstehen 
auch durch Wechselwirkung die erwähnten Kontraste. 
Diese ergehen sich aber auch in mannigfach andrer Weise, 
zum Beispiel in dem Gegensatz zwischen rauhen oder 
verzierten Flächen neben glatten, in silhouettierten, zu 
langgesteckten Baukörpern, in der Abwechslung der 
Gebäuderichtungen, dem Wechsel von Licht und Schatten 
und dem von Warm und Kalt der Farben u. s. w. Ärm 
lichkeiten treffen wir an in dem Auftreten gleichgerichteter 
Baukörper, in der Wiederholung gleicher Flächenfiguren 
durch Unterteilung größerer Flächen, in der Wiederholung 
von ähnlichen Körperfiguren im kleinen, wie es zum 
Beispiel die Laterne als kleines Abbild des Turmes auf 
dem Turmhelm darstellt. All diesen Dingen ist das 
Anknüpfen von Beziehungen des einen zu einem andern 
gemeinsam und für unsern Fall das Wesentliche. Von 
den vielen Beziehungen sind nun für Städtebilder be 
sonders diejenigen der Lagerichtung von großer Bedeu 
tung. Die Richtungen der Baukörper im Gefüge der 
städtischen Bauten dürfen, wenn sie interessant wirken 
sollen, nicht immer die gleichen sein, sondern sie müssen 
abwechseln, und das tun sie stets ganz von selbst, wenn 
ihre Aufstellung zugleich eine Raumumschließung bewirkt. 
Man kann ausnahmlich der Fernwirkungen direkt sagen, 
das Stadtbild ist nur dann schön, wenn es zugleich ein 
Raumbild ist. Zur Erzielung einer Raumwirkung genügt 
aber nicht ein einfaches lockeres Umstellen eines freien 
Platzes, sondern es muß ein inniges Zusammenschließen 
der einzelnen Baukörper in möglichst individueller Weise 
gesucht werden. Darin unterscheiden sich unsre modernen 
Platzanlagen sehr unvorteilhaft von den alten historischen. 
Die Platzbildungen im modernen Stadtplan sind nicht 
nur von schematischer Nüchternheit und daher überall 
von gleicher ermüdender Wirkung, ihre Wandungen sind 
auch bei weitem nicht so festgefügt wie bei den Alten. 
Es lassen sich Teile ohne Verstümmelung des Gesamt 
eindrucks leicht entfernen. Ganz anders ist es mit den 
alten historisch gewordenen Plätzen bestellt; hier kann 
gerade bei den auffallend schönen Beispielen nichts von 
einander gelöst werden, ohne das Ganze stark zu be 
einträchtigen oder überhaupt zu zerstören; so innig ver 
bunden, auf gegenseitige Beziehung gestellt und damit 
organisch verwachsen erscheinen hier die Teile mit dem 
Ganzen. So etwas hat Charakter; aber ein Ganzes, an 
dem etwas dableiben oder auch wegbleiben kann ohne 
störende Wirkung, hat keinen Charakter. Und hier 
haben wir den Punkt, an dem wir einsetzen müssen in 
der Frage der früher mit so viel Leidenschaft betriebenen 
Freilegungen hervorragender Bauwerke. Es ist ein nicht 
oft genug hervorzuhehendes Verdienst Camillo Sittes, 
zuerst auf die Schönheit einer gewissen Gruppierung von 
Plätzen im Zusammenhang mit öffentlichen Gebäuden in 
alten Stadtkernen aufmerksam gemacht zu haben, und 
zwar unter besonderer Berücksichtigung der Art und 
Weise, wie Kirchen als Mittelpunkt von Platzgruppen 
aufgestellt worden sind. 
Gewöhnlich sind es drei sich bestimmt abgrenzende 
Plätze, für deren jeden die Kirche eine andre Seite als 
Schauziel darbietet, eine Gruppierung, die sich also von 
der heute noch vielfach üblichen Art, Kirchen auf freie 
große Plätze zu stellen, ganz wesentlich unterscheidet. 
Die Absonderung dieser drei, manchmal auch vier Plätze 
wird dadurch bewirkt, daß die die Kirche umsäumenden 
Häuser an bestimmten Stellen recht nahe an sie heran 
treten. Dieses Herantreten fremder Baumassen an die 
Kirche ist aber oft auch noch aus einem andern Grunde 
ein ästhetisches Erfordernis. Es ist bekannt, daß nicht 
jede architektonische Form der Kirche eine in sich selbst 
ausgeglichene Massenanordnung besitzt; diese ist in 
idealer Weise eigentlich nur in dem Zentralbau vor 
handen, und ein solches Bauwerk wirkt deshalb auch am 
besten in freier Aufstellung. Die meisten Kirchen, 
namentlich diejenigen mit ein oder zwei Westtürmen, 
bedürfen einer Anlehnung an fremde Baumassen, um 
ihnen in der Erscheinung das ihnen selbst mangelnde 
Gleichgewicht der Masse zu ersetzen. 
Nun denke man sich diese an die Kirche heran 
tretenden Häuser, welchen die Funktion der Abtrennung 
in einzelne Plätze oder der Herstellung des mangelnden 
Gegengewichts zugewiesen ist, zu dem Zwecke entfernt, 
um die Kirche freizulegen, so wird natürlich gerade das, 
auf was es hier in erster Linie ankommt, vernichtet, und 
das hat man in vielen Fällen — wenn auch in der besten 
Absicht — zum Schaden und auf Kosten einer vorher 
bestandenen Fülle von architektonischen Reizen tatsäch 
lich getan. Rechnet man dann noch alles das dazu, was 
dem Moloch Verkehr an solchen ästhetischen Zusammen 
hängen alles schon geopfert worden ist, und das ist 
weitaus der größere Anteil, so haben wir viel, viel un 
wiederbringlich verloren an baulichen Schönheiten unsrer 
deutschen Städte, was bei einigem pietätvollen Maßhalten 
hätte erhalten werden können. 
Daß solche störende Eingriffe in künstlerisch wirkende 
Gefüge überhaupt Vorkommen konnten und noch weiter 
zu befürchten sind, diese betrübende Tatsache ist wohl 
auf die beiden schon erwähnten verschiedenen Möglich 
keiten des Schauens, kurz gesagt, einerseits des Ohjekt- 
schauens, anderseits des Bildschauens, zurückzuführen. 
Den Anstoß zu den jetzt so beklagten Freilegungen gab 
offenbar das Objektschauen, man wollte das Objekt zur 
freien Betrachtung aus allem Zusammenhang heraus 
schälen, von allem Zubehör isolieren, und um es so von 
allem unbeeinträchtigt ganz für sich genießen zu können, 
ähnlich wie der Gelehrte den Gegenstand seiner Unter 
suchung von allen Nebenumständen zu befreien und in 
ein bestimmtes Beobachtungsfeld eng zu begrenzen be 
müht ist, oder wie ein wertvolles Museumsobjekt, wie 
eine seltene Pflanze in einem botanischen Garten, wie 
ein besonders interessanter Gegenstand in irgendeiner 
naturwissenschaftlichen Sammlung von der Masse heraus 
gehoben wird, um die Aufmerksamkeit darauf besonders 
zu lenken. Das ist aber eine Auffassung des Schauens, 
die in einem Museum am Platze sein mag, wo die ver 
schiedenartigsten Dinge für das Studium zusammen 
getragen sind, wo also schon der Zweck in einer Iso 
lierung von Benachbartem — wenn auch nicht in allen 
Fällen — an sich besteht; ganz sicher aber ist diese 
Auffassung des Schauens da nicht am Platze, wo die 
Objekte zusammen den Rahmen abgeben sollen, in welchem
	        

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