30. November 1907
BAUZEIT DN G
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sich das Leben einer Stadt abspielt. Hier ist unbedingt
erforderlich, mit dem Auge das Ganze als Bild aufzu
nehmen oder, kurz gesagt, so zu schauen, wie der Künstler
schaut.
Das künstlerische Sehen also ist es, das wieder Gemein
gut werden muß, wenn wir von der Zukunft durchschlagende
Besserung erhoffen wollen, und dazu sind die Wege be
reits angebahnt. Durch richtige Entwicklung der Anlage
zur Kunst im Lehen des Kindes wird das heranwachsende
Geschlecht in höherem Maße befähigt, ein eignes, sichereres
Urteil über das Schöne in künstlerischen Dingen zu er
werben, als das augenblicklich herrschende.
Schon jetzt machen sich günstige Anzeichen dafür
bemerkbar; unter anderm ist der vom Münsterbaukomitee
zu Ulm ausgeschriebene Wettbewerb für die Umgestaltung
des Münsterplatzes dortselbst ein bemerkenswertes Ereig
nis schon insofern, als man hier den Gedanken einer
baulichen Veränderung der Umgebung des Baudenkmals
überhaupt ins Auge fassen konnte, dann aber auch, weil
gerade die junge Architektenwelt mit ihren Vorschlägen
für die neu gewonnene Auffassung des Städtebaues so
nachdrücklich eingesetzt und dadurch die beruhigende
Gewähr für eine künftige gesunde Weiterentwicklung
geboten hat.
Das Ergebnis dieses Wettbewerbes ist in der Fach
presse wiederholt besprochen worden.*) Die drei preis
gekrönten Entwürfe, und zwar der der Architekten
Th. Eauser und R. Wörnle in Stuttgart mit dem I., der
des Prof. Dr. Vetterlein in Darmstadt mit dem II. und
der des Regierungsbaumeisters Felix Schuster in Stuttgart
mit dem III. Preis ausgezeichnete, nehmen mit größeren
oder geringeren Variationen alle drei gleichmäßig eine
Wiederbebauung des Münsterplatzes an, wie sie früher
in ähnlicher Weise schon bestanden und zur eindrucks
vollen Erscheinung dieses bedeutenden kirchlichen Monu
mentalwerkes so nachdrücklich beigetragen hat. Auch
das ülmer Münster gehört zu denjenigen Bauten, welche
ihr künstlerisches Gleichgewicht nicht in sich seihst tragen,
sondern von außen her darin unterstützt werden müssen.
Die durch den übermächtigen Turm emporgetriebene
Vorderfront wirkt auf die weiter rückwärts gelegenen
Teile nachteilig verkleinernd ein; dieses ungünstige Bild
wurde durch die vormals vorgelagerten Massen ab
geblendet und dem Turm ein Rahmen gegeben, der die
nach hinten zutage tretende Gleichgewichtsstörung in
der Weise wieder ausglich, daß der emporragende Turm
riese gewissermaßen zum Mittelpunkt der ihn umgebenden
niedrigen Baumassen erhoben worden ist, wobei außer
Betracht kommt, ob diese der Kirche selbst oder ihrer
nächsten vorderen Umgebung angehörten. Seiner ehe
maligen Umgebung wurde das Münster ganz allmählich
entkleidet. Abgesehen von kleineren Bauten und Bau
teilen am Münster selbst und seiner allernächsten Nachbar
schaft, deren Entfernung einer früheren Zeit angehört,
wurden in den Jahren 1874—1879 die einschneidendsten
*) Vergleiche die von der „Bauzeitung für Württemberg etc.“
am 27. Oktober 1906 eigens herausgegebene Extranummer „Wett
bewerb Ulmer Münsterplatz“.
Veränderungen vorgenommen, indem man, wie Professor
Th. Eischer darlegte, dem Münster zuliebe das Barfüßer-
kirchle mit dem Gymnasium und den anstoßenden niederen
Häusern niederriß, gerade denjenigen Block, der für
das Zustandekommen des Münsterplatzbildes von so ein
schneidender Bedeutung war.*)
Der Wettbewerb hatte leider nicht den Erfolg, den
man füglich von ihm erwarten konnte. Es mag vielleicht
auch der Umstand mitgewirkt haben, daß sich ältere,
erfahrene Bauktinstler von bedeutendem Rufe an der
Sache anscheinend gar nicht beteiligt und das Feld der
aufstrebenden talentvollen Jugend ganz allein überlassen
haben. Vielleicht hätte ihr reges Mitwirken die Stimmung
in Ulm, die in den Tagen der Entscheidung des Wett
bewerbs zugunsten einer teilweisen Wiederbebauung des
Mtinsterplatzes gewonnen zu sein schien, doch nicht
so rasch wieder Umschlägen lassen, wie es tatsächlich
geschah, so daß jetzt die Mehrheit trotz der nach
gewiesenen Notwendigkeit einer Einbettung des Münsters
von einem solchen Eingriff in die bestehenden Platz
verhältnisse nichts mehr wissen will. Diese Stellung
nahme ist ja gewiß verständlich in Ansehung dessen,
daß erst vor 25 Jahren zu dem Abbruch des den Platz
teilenden und deshalb an die Kirche herantretenden Bau
blockes eine Kommission hervorragender Fachmänner
geraten hat und heute zugegeben werden soll, daß dies
ein Fehlgriff war.
Aber die Anschauung in diesen Dingen hat sich eben
später gewandelt in einer Weise, wie sie in diesen Zeilen
zu schildern versucht wurde. Soll sie deshalb nicht
zur Geltung kommen, weil eine spätere Zeit an den
Fehlern einer früheren gelernt hat?
Der Uebergang dieser neuen Einsicht in das öffent
liche Leben, in die Praxis, ist nur eine Frage der Zeit;
daß er kommen wird, dafür sprechen alle Anzeichen auch
andern Orts. Die Frage des Ausbaues des Domplatzes
zu Worms zum Beispiel nimmt immer bestimmtere Formen
an, die Vorschläge zur Umgestaltung des Platzes um den
Dom zu Köln sind zwar bis jetzt noch akademischer
Natur, sie werden aber immer wieder auftauchen und
schließlich zu irgendeiner greifbaren Form führen. In
manchen Fällen schon sind, wenn auch in bescheidenerem
Rahmen, drohende Freilegungen glücklich verhütet oder
künstlerisch einwandfreie Anpassungen an Monumental
werken erreicht worden. Aber immer noch fehlt es daran,
daß die neue Ueberzeugung noch viel zu isoliert steht
und zu wenig alle Schichten der menschlichen Gesell
schaft begeisternd durchdringt.
Möge sich die Stadt Ulm den Ruhm nicht nehmen
lassen, als erste die Hand dazu geboten zu haben, ihrem
edelsten Bauwerke wieder diejenige Umgebung verschafft
zu haben, welche ihm frühere Zeiten in Verkennung ihrer
wahren Bedeutung — wenn auch in bester Absicht —
entzogen haben.
München, den 22. November 1907.
C. H o c h e d e r.
*) Siehe Lageplan vom alten und neuen Zustand. Jahr
gang 1905, Nr. 50.
Die Renovierung der Kirche zu Unterriexingen
Die Pfarrkirche zu Unterriexingen im freundlichen
Enztal ist ein besonders schönes Werk der Spätrenaissance,
das bei aller Freiheit der Formengebung und Grundriß
komposition eine große Reife und Sicherheit zeigt. Der
flachgedeckte Gemeinderaum bildet mit dem Chor ein
wunderbares Raumverhältnis, das wegen der nahen Be
ziehungen zwischen Altar und Gemeinde durchaus pro
testantischen Charakter trägt, wie auch das Bauwerk von
vornherein dem evangelischen Gottesdienst bestimmt war.
Doch die späteren kühlen Zeiten, besonders die des neun
zehnten Jahrhunderts, gingen auch an diesem intimen
Kirchenraum nicht spurlos vorbei. Farbig erhielt er das
bekannte Gemisch von grauen und gelblichbraunen Tönen,
der Chor wurde ganz verbaut, dann eine wenig schöne
Orgel hineingestellt u. a. m., wie aus dem Grundriß und
der Photographie des alten Bestandes ersichtlich. Da
das Gestühl auch zu schadhaft war, so entschloß sich die
Gemeinde, namentlich auf Betreiben des dortigen Pfarrers