Full text: Bauzeitung für Württemberg, Baden, Hessen, Elsaß-Lothringen (1907)

30. November 1907 
BAUZEIT DN G 
379 
sich das Leben einer Stadt abspielt. Hier ist unbedingt 
erforderlich, mit dem Auge das Ganze als Bild aufzu 
nehmen oder, kurz gesagt, so zu schauen, wie der Künstler 
schaut. 
Das künstlerische Sehen also ist es, das wieder Gemein 
gut werden muß, wenn wir von der Zukunft durchschlagende 
Besserung erhoffen wollen, und dazu sind die Wege be 
reits angebahnt. Durch richtige Entwicklung der Anlage 
zur Kunst im Lehen des Kindes wird das heranwachsende 
Geschlecht in höherem Maße befähigt, ein eignes, sichereres 
Urteil über das Schöne in künstlerischen Dingen zu er 
werben, als das augenblicklich herrschende. 
Schon jetzt machen sich günstige Anzeichen dafür 
bemerkbar; unter anderm ist der vom Münsterbaukomitee 
zu Ulm ausgeschriebene Wettbewerb für die Umgestaltung 
des Münsterplatzes dortselbst ein bemerkenswertes Ereig 
nis schon insofern, als man hier den Gedanken einer 
baulichen Veränderung der Umgebung des Baudenkmals 
überhaupt ins Auge fassen konnte, dann aber auch, weil 
gerade die junge Architektenwelt mit ihren Vorschlägen 
für die neu gewonnene Auffassung des Städtebaues so 
nachdrücklich eingesetzt und dadurch die beruhigende 
Gewähr für eine künftige gesunde Weiterentwicklung 
geboten hat. 
Das Ergebnis dieses Wettbewerbes ist in der Fach 
presse wiederholt besprochen worden.*) Die drei preis 
gekrönten Entwürfe, und zwar der der Architekten 
Th. Eauser und R. Wörnle in Stuttgart mit dem I., der 
des Prof. Dr. Vetterlein in Darmstadt mit dem II. und 
der des Regierungsbaumeisters Felix Schuster in Stuttgart 
mit dem III. Preis ausgezeichnete, nehmen mit größeren 
oder geringeren Variationen alle drei gleichmäßig eine 
Wiederbebauung des Münsterplatzes an, wie sie früher 
in ähnlicher Weise schon bestanden und zur eindrucks 
vollen Erscheinung dieses bedeutenden kirchlichen Monu 
mentalwerkes so nachdrücklich beigetragen hat. Auch 
das ülmer Münster gehört zu denjenigen Bauten, welche 
ihr künstlerisches Gleichgewicht nicht in sich seihst tragen, 
sondern von außen her darin unterstützt werden müssen. 
Die durch den übermächtigen Turm emporgetriebene 
Vorderfront wirkt auf die weiter rückwärts gelegenen 
Teile nachteilig verkleinernd ein; dieses ungünstige Bild 
wurde durch die vormals vorgelagerten Massen ab 
geblendet und dem Turm ein Rahmen gegeben, der die 
nach hinten zutage tretende Gleichgewichtsstörung in 
der Weise wieder ausglich, daß der emporragende Turm 
riese gewissermaßen zum Mittelpunkt der ihn umgebenden 
niedrigen Baumassen erhoben worden ist, wobei außer 
Betracht kommt, ob diese der Kirche selbst oder ihrer 
nächsten vorderen Umgebung angehörten. Seiner ehe 
maligen Umgebung wurde das Münster ganz allmählich 
entkleidet. Abgesehen von kleineren Bauten und Bau 
teilen am Münster selbst und seiner allernächsten Nachbar 
schaft, deren Entfernung einer früheren Zeit angehört, 
wurden in den Jahren 1874—1879 die einschneidendsten 
*) Vergleiche die von der „Bauzeitung für Württemberg etc.“ 
am 27. Oktober 1906 eigens herausgegebene Extranummer „Wett 
bewerb Ulmer Münsterplatz“. 
Veränderungen vorgenommen, indem man, wie Professor 
Th. Eischer darlegte, dem Münster zuliebe das Barfüßer- 
kirchle mit dem Gymnasium und den anstoßenden niederen 
Häusern niederriß, gerade denjenigen Block, der für 
das Zustandekommen des Münsterplatzbildes von so ein 
schneidender Bedeutung war.*) 
Der Wettbewerb hatte leider nicht den Erfolg, den 
man füglich von ihm erwarten konnte. Es mag vielleicht 
auch der Umstand mitgewirkt haben, daß sich ältere, 
erfahrene Bauktinstler von bedeutendem Rufe an der 
Sache anscheinend gar nicht beteiligt und das Feld der 
aufstrebenden talentvollen Jugend ganz allein überlassen 
haben. Vielleicht hätte ihr reges Mitwirken die Stimmung 
in Ulm, die in den Tagen der Entscheidung des Wett 
bewerbs zugunsten einer teilweisen Wiederbebauung des 
Mtinsterplatzes gewonnen zu sein schien, doch nicht 
so rasch wieder Umschlägen lassen, wie es tatsächlich 
geschah, so daß jetzt die Mehrheit trotz der nach 
gewiesenen Notwendigkeit einer Einbettung des Münsters 
von einem solchen Eingriff in die bestehenden Platz 
verhältnisse nichts mehr wissen will. Diese Stellung 
nahme ist ja gewiß verständlich in Ansehung dessen, 
daß erst vor 25 Jahren zu dem Abbruch des den Platz 
teilenden und deshalb an die Kirche herantretenden Bau 
blockes eine Kommission hervorragender Fachmänner 
geraten hat und heute zugegeben werden soll, daß dies 
ein Fehlgriff war. 
Aber die Anschauung in diesen Dingen hat sich eben 
später gewandelt in einer Weise, wie sie in diesen Zeilen 
zu schildern versucht wurde. Soll sie deshalb nicht 
zur Geltung kommen, weil eine spätere Zeit an den 
Fehlern einer früheren gelernt hat? 
Der Uebergang dieser neuen Einsicht in das öffent 
liche Leben, in die Praxis, ist nur eine Frage der Zeit; 
daß er kommen wird, dafür sprechen alle Anzeichen auch 
andern Orts. Die Frage des Ausbaues des Domplatzes 
zu Worms zum Beispiel nimmt immer bestimmtere Formen 
an, die Vorschläge zur Umgestaltung des Platzes um den 
Dom zu Köln sind zwar bis jetzt noch akademischer 
Natur, sie werden aber immer wieder auftauchen und 
schließlich zu irgendeiner greifbaren Form führen. In 
manchen Fällen schon sind, wenn auch in bescheidenerem 
Rahmen, drohende Freilegungen glücklich verhütet oder 
künstlerisch einwandfreie Anpassungen an Monumental 
werken erreicht worden. Aber immer noch fehlt es daran, 
daß die neue Ueberzeugung noch viel zu isoliert steht 
und zu wenig alle Schichten der menschlichen Gesell 
schaft begeisternd durchdringt. 
Möge sich die Stadt Ulm den Ruhm nicht nehmen 
lassen, als erste die Hand dazu geboten zu haben, ihrem 
edelsten Bauwerke wieder diejenige Umgebung verschafft 
zu haben, welche ihm frühere Zeiten in Verkennung ihrer 
wahren Bedeutung — wenn auch in bester Absicht — 
entzogen haben. 
München, den 22. November 1907. 
C. H o c h e d e r. 
*) Siehe Lageplan vom alten und neuen Zustand. Jahr 
gang 1905, Nr. 50. 
Die Renovierung der Kirche zu Unterriexingen 
Die Pfarrkirche zu Unterriexingen im freundlichen 
Enztal ist ein besonders schönes Werk der Spätrenaissance, 
das bei aller Freiheit der Formengebung und Grundriß 
komposition eine große Reife und Sicherheit zeigt. Der 
flachgedeckte Gemeinderaum bildet mit dem Chor ein 
wunderbares Raumverhältnis, das wegen der nahen Be 
ziehungen zwischen Altar und Gemeinde durchaus pro 
testantischen Charakter trägt, wie auch das Bauwerk von 
vornherein dem evangelischen Gottesdienst bestimmt war. 
Doch die späteren kühlen Zeiten, besonders die des neun 
zehnten Jahrhunderts, gingen auch an diesem intimen 
Kirchenraum nicht spurlos vorbei. Farbig erhielt er das 
bekannte Gemisch von grauen und gelblichbraunen Tönen, 
der Chor wurde ganz verbaut, dann eine wenig schöne 
Orgel hineingestellt u. a. m., wie aus dem Grundriß und 
der Photographie des alten Bestandes ersichtlich. Da 
das Gestühl auch zu schadhaft war, so entschloß sich die 
Gemeinde, namentlich auf Betreiben des dortigen Pfarrers
	        

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