24. Dezember 1909
BAUZEITUNtf
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Regierung und Parteien haben ein dringendes Interesse
daran, daß mit der Sparsamkeit nun Ernst gemacht wird.
Weder Regierung noch Parteien werden Neigung ver
spüren, noch eine Reichstinanzreformkampagne durchzu
machen. Wir haben alle von der letzten genug. Des
halb können wir der Regierung nur dringend empfehlen,
den Entwurf der Reichsversicherungsordnung, insbeson
dere die Yersicherungsärater fallen zu lassen. A. B.
Ein interessanter Bauprozeß
„Kommt der Dienstberechtigte init der Annahme
der Dienste in Verzug, so kann der Verpflichtete
für die infolge des Verzuges nicht geleisteten Dienste
die vereinbarte Vergütung verlangen, ohne zur Nach
leistung verpflichtet zu sein.“ So bestimmt § 615
des Bürgerlichen Gesetzbuches. Der Dienstberechtigte
arbeitet. Im März wurde bei einem Brückenbau an
einem Strompfeiler und einem Laudpfeiler gearbeitet,
doch mußte die Arbeit schließlich am 4, März wegen
hohen Wasserstandes eingestellt werden. Die Maurer
behaupten nun, es sei ihnen vom Arbeitgeber oder vom
Bauleitenden gesagt worden, sie sollten sich täglich mel
den, damit die Arbeit fortgesetzt werden könne, sobald
das Wasser wieder gefallen sei.
Nach einigen Tagen konnte dann auch die Arbeit an
dem Landpfeiler wieder fortgesetzt werden, an dem
Strompfeiler aber noch nicht, denn das Hochwasser
dauerte fort. Die Kläger waren ursprünglich am Land
pfeiler tätig gewesen, wurden aber nicht weiter beschäf
tigt, als das Wasser gefallen war, vielmehr wurden die
ursprünglich am Strompfeiler tätigen älteren Leute nun
bei dem Landpfeiler plaziert. Die Kläger sind der An
sicht, daß sie nur wegen des Hochwassers aussetzen
Waisenhaus Straßburg
Speisesaal
Blick in die Fensternischen
ist der Arbeitgeber, der Dienstverpflichtete der Arbeit
nehmer. „Der zur Dienstleistung Verpflichtete,“ so fährt
§ 616 weiter fort, „wird des Anspruchs auf die Ver
gütung nicht dadurch verlustig, daß er für eine verhält
nismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in der Person
liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Dienst
leistung verhindert wird.“
Es handelt sich in dem Falle, den ich hier be
handeln will, um die Frage, ob Maurer, die durch un
vermutete Störungen der Bauarbeit zum Aussetzen ge
nötigt werden, Fortzahlung des Lohnes beanspruchen
können. Die Frage ist für Baumeister und Bauarbeiter
von höchstem Interesse, denn unvermutete Störungen
kommen fast bei jedem Bau vor, sei es durch Ausbleiben
wichtiger Kontsruktionsteile, sei es durch Unglücksfälle,
durch Zutreten von Grundwasser, durch Ueberschwem-
mungen oder Feuersbrunst, durch polizeiliche Maß
nahmen u. s. w.
Die Kläger haben im Jahre 1907 und in den ersten
Monaten des Jahres 1908 als Maurer bei der Baufirma X.
in Stettin gegen einen Stundenlohn von 56 Pfennigen ge-
mußten und daß sie, sobald der Landpfeiler wieder frei
war, zur Fortsetzung ihrer Arbeit hätten zugelassen
werden müssen. Sie verlangen nun je 26 M. für den
Zeitverlust gemäß § 615 B.G.B., da sie für die Zeit
vom 4. bis 8. März hätten aussetzen müssen. Der Maurer
Abel verlangt aber außerdem 63,30 M., weil er am 7. März
ohne Kündigung entlassen worden sei.
Die beklagte Firma wendete ein. daß im Maurer
gewerbe nur die wirklich geleisteten Arbeitsstunden be
zahlt werden; die Leute hätten aber auch die Arbeits
ordnung unterschrieben, nach welcher für Aussetzen keine
Entschädigung gezahlt werde.
Die Kläger wurden am 7. April 1908 vom Gewerbe
gericht zu Stettin abgewiesen; gegen dieses Urteil legten
sie Berufung ein, doch wurde die Berufung durch Urteil
des Landgerichts zu Stettin am 10. Februar 1909 ver
worfen.
Das Gewerbegericht führte namentlich folgendes aus:
Die Kläger sind organisierte Maurer, also dem Tarif
vertrag ohne weiteres unterworfen. Zwar war der Tarif
vertrag am 31. Dezember 1907 abgelaufen — er sollte