13. März 1909
BAUZEITUNÖ
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Wettbewerb. II. Preis Karl Mink-Darmstadt
wirklicher oder vermeintlicher Er
folge. Das gilt sowohl für die Be
strebungen des Pi’ivatmenschen wie
für die öffentlichen Angelegenheiten.
Im allgemeinen leben wir alle
— ich meine damit diejenigen, die
an der berufsgenossenschaftlichen
Verwaltung direkt oder indirekt
interessiert sind — der frohen Ueber-
zeugung, es in der Unfallverhütung
herrlich weit gebracht zu haben.
Der Förderung dieser Sache sind
seit bald fünfundzwanzig Jahren die
Fortschritte der Technik, die prak
tischen Erfahrungen der Aufsichts
beamten, die Ergebnisse der Unfall
statistik und beträchtliche, in die
Millionen gehende Geldsummen
dienstbar gemacht worden. Wir
haben in zahllosen Versammlungen
und SitzungenHunderte von Geboten
und Verboten mühevoll ausgesonnen
und zu langen Paragraphenreihen
zusammengestellt. Wir haben diese
Paragraphenreihen, säuberlich auf
Papier oder Metall gedruckt, in den
Tausenden von Fabriken und Werkstätten an die Wände
gehängt oder, wie der Schreibstubenausdruck lautet,
„durch Aushang zur Kenntnis der Versicherten gebracht“.
Mit dieser sozusagen papierenen Unfallverhütung hat die
wirksamere praktische gleichen Schritt gehalten.
Alle gefährdenden Maschinenteile sind verkapselt,
Getriebe verkleidet, Treppen, Bühnen und Luken um
wehrt, Gruben und Vertiefungen verdeckt worden. Man
hat Schutzkörbe und Schutzhauben, Schutzgitter und
-brillen beschafft, Leitern gegen Ausgleiten gesichert,
Fußböden und Wege geebnet, die Beleuchtung der Ar
beitsräume verbessert, gegen Feuer und giftige Gase Vor
kehrungen getroffen und Warnungstafeln ohne Zahl an
gebracht. So sind dank der Tätigkeit der technischen
Aufsichtsbeamten im Laufe der Jahre die Betriebe immer
seltener geworden, in denen es überhaupt noch etwas zu
verkapseln, zu verkleiden und zu verdecken gibt. In der
äußerlich - mechanischen Unfallverhütung ist ohne Frage
das Menschenmögliche geleistet worden. Wären Schutz
vorrichtungen und Verbote allein imstande, Unfälle zu
verhüten, so müßten Betriebsunfälle heute zu den außer
gewöhnlichen Ereignissen gehören, mindestens aber müßte
die Statistik eine stetige, wenn auch langsame Abnahme
der Unfälle im Verhältnis zu der Zahl der Arbeiter er
kennen lassen.
In Wirklichkeit liegen nun die Dinge ganz anders.
Von 1892 bis Ende 1906 ist die durchschnittliche jähr
liche Arbeiterzahl bei den gewerblichen Berufsgenossen
schaften von rund 5 093 000 auf 8 600 000, die Zahl der
entschädigungspflichtigen Unfälle aber von 28 200 auf
71200 im Jahre angewachsen. Die Zunahme der Un
fälle hat an sich nichts Ueberraschendes. Wir wissen,
daß die Zahl der jährlichen Eheschließungen, der Selbst
morde, der Verbrechen, ja daß selbst die Zahl der Briefe,
die jährlich ohne Adresse zur Post gegeben werden, zu
der Bevölkerungszahl in einem bestimmten, nur geringen
Schwankungen unterworfenen Verhältnis steht. Alle diese
Vorgänge sind demnach nicht ausschließlich von der Will
kür und Laune des einzelnen, sondern auch von dem
allgemeinen Zustande der Gesellschaft abhängig. Auch
die Zahl der Unfälle zeigt nicht nur im allgemeinen,
sondern sogar bezüglich der Unfallhäufigkeit bei der Be
dienung bestimmter Maschinen und bei bestimmten Ar
beitstätigkeiten eine Regelmäßigkeit, die auf das Vor
handensein bis jetzt unerforschter gesetzmäßiger Zusam men
hänge schließen läßt. Der Versuch, die Betriebsunfälle
gänzlich auszumerzen, wäre ein ebenso unmögliches und
törichtes Beginnen, als wenn wir die Bewegungen von
Ebbe und Flut oder den Wechsel der Jahreszeiten zu
ändern unternehmen wollten. Damit soll natürlich nicht
gesagt sein, daß wir auf die Häufigkeit und Schwere
der Unfälle überhaupt keine Einwirkung auszuüben ver
möchten und daß jeder Versuch einer planmäßigen Un
fallverhütung von vornherein ein aussichtsloses Unter
nehmen wäre.
Die mechanischen Einrichtungen, die wir unter dem
Namen von Schutzvorrichtungen zusammenfassen, haben
gewiß ihr Gutes gehabt. Allerdings können wir die Zahl
der Unfälle, die durch sie verhindert sein mögen, weder
messen noch zählen oder sonstwie statistisch erfassen.
Trotzdem sind sie, wie wir annehmen müssen, nützlich
gewesen, und die Unfallhäufigkeit würde ohne sie eben
noch größer sein. Diese üeberzeugung kann uns aber