nur geringe Befriedigung gewähren, wenn wir mit Ruhe
und Objektivität die Zahlenreihen betrachten, die uns in
den Rechnungsergebnissen der Berufsgenossenschaften
entgegentreten. Diese dürren Zahlen mahnen gebieterisch
zu äußerster Bescheidenheit in der Abschätzung des Er
folges der Unfall verhütungsheströbungen. Von 1892 bis
Ende 1906 ist die Arbeiterzahl um 69 °/ 0 , die Zahl der
entschädigten Unfälle aber um 152 °/ 0 gestiegen! Auf
1000 Arbeiter kamen im Jahre 1892 nur 5,55, im Jahre
1906 dagegen 8,26 entschädigungspflichtige Unfälle. Wäre
die Zahl der Unfälle annähernd proportional zur Zahl
der beschäftigten Arbeiter gewachsen, so würde man diese
Tatsache zwar mit Unbehagen, aber als etwas Natürliches
hinnehmen, obschon auch in diesem Falle die berechtigte
Frage unbeantwortet bleibt, wo denn der Erfolg der Un
fallverhütung sichtbar werde. Ein Erfolg, wenn er zu
verzeichnen wäre, müßte doch in allmählichem Sinken
der jährlichen Gesamtzahl der Unfälle im Verhältnis zur
Gesamtzahl der beschäftigten Arbeiter zum Ausdruck
kommen. Statt dessen sehen wir, wie die Zahl der Un
fälle in andauernd verhältnismäßiger Zunahme begriffen
ist. Dabei weist die Kurve der ünfallhäufigkeit keine
nennenswerten Schwankungen oder Rückgänge auf; sie
bewegt sich mit unerbittlicher Stetigkeit nach oben. Die
Frage nach den Ursachen der unverhältnismäßigen Zu
nahme der Unfälle ist alsbald nach dem Erscheinen der
Rechnungsergebnisse für das Jahr 1906 vom Reichsver
sicherungsamt gestellt und den Berufsgenossenschaften
zur Beantwortung vorgelegt worden. Die Berichte der
Genossenschaften, die sich mit der Erklärung dieser
außerordentlichen und beunruhigenden Erscheinung be
schäftigten, werden vermutlich im wesentlichen ziemlich
übereinstimmend gelautet haben. Einzelne der Berichte
sind in den Fachhlättern auszugsweise wiedergegeben
worden. Soweit sich daraus ersehen läßt, wird für die
Zunahme der Unfälle in der Hauptsache die angespannte
Tätigkeit der Industrie, die zunehmende Verwendung
von Maschinen, die Vermehrung der Zahl der fremd
sprachigen und ungeübten Arbeiter, der ungeheure Wechsel
der Arbeiter, übermäßiger Alkoholgenuß und die mangel
hafte Beachtung der Unfallverhütungsvorschriften verant
wortlich gemacht. Schon die Uebereinstimmung aller Be
richterstatter nötigt uns, in diesen Erklärungsversuchen
das Ergebnis allgemeiner und zutreffender Beobachtungen
zu sehen und sie deshalb als wichtige Beiträge zur Lösung
des Problems gelten zu lassen.
Einer dieser Umstände ist aber, wie mir scheint, in
seinen Wirkungen bis jetzt nicht genügend gewürdigt
worden.
In allen europäischen Staaten hat sich die industrielle
Entwicklung, und zwar nicht zu ihrem Schaden, ruhiger,
Peter Petermann-Offenbach a. M.
langsamer und stetiger vollzogen als in unserin Lande.
In Deutschland ist die Umwandlung in einen Industrie
staat gewissermaßen ruckweise im Laufe eines Menschen
alters unter all den stürmischen Erscheinungen vor sich
gegangen, die dem plötzlichen Uebergange eines Volkes
zu andern Existenzbedingungen eigentümlich sind. Allein
von 1892 bis 1900 hat in Deutschland die Zahl der
eigentlichen Industriearbeiter, abgesehen von den Staats
betrieben, um rund eineinhalb Millionen, und von 1900 bis
1906 um weitere zwei Millionen zugenommen. Dieses
gewaltige Heer von dreieinhalb Millionen Köpfen ent
stammt nur zum kleinsten Teile der einheimischen Industrie
bevölkerung; das Groß ist vom platten Lande und aus
den ackerbautreibenden Distrikten des Auslandes zu
sammengeströmt. Alle diese Leute haben ihr Leben
lang, ihre Vorfahren vielleicht durch Generationen mit
schwerer Fußbekleidung die heimische Scholle getreten. Als
Masse betrachtet, sind sie durch Geburt und Gewöhnung
unbeholfen, von einer gewissen körperlichen und geistigen
Ungelenkigkeit, schwerfällig im Denken und Handeln,
dabei zum Teil der Landessprache gar nicht oder un
genügend mächtig. Es fehlt ihnen das Anpassungsver
mögen, die rasche Entschlußfähigkeit, die Intelligenz und
Gewandtheit, die der im industriellen Getriebe auf
gewachsene Arbeiter zum Teil bereits ererbt, zum Teil
durch langjährige Uebung erworben hat. Vermutlich
wird eine neue Generation heranwachsen müssen, ehe
diese Eigenschaften einigermaßen zum Gemeingut der
Industriebevölkerung geworden sind. Diese Massen nun,
die ihrer Zahl nach der gesamten Bevölkerung der Schweiz
gleichkommen, fanden sich ohne Vorbereitung und Ueber-
gang in das vielgestaltige Lehen des modernen Fabrik-
und Gewerbebetriebes und damit in Verhältnisse versetzt,
die ihren bisherigen Daseinsbedingungen völlig fremd
waren. Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß diese
Völkerwanderung sich in einem Zeitraum von kaum mehr
als einem Jahrzehnt vollzogen hat, so werden wir die
gewaltige Zunahme der Unfälle nicht mehr verwunder
lich finden.
Von den 71000 Betriebsunfällen, die nach den Rech
nungsergebnissen für 1906 auf das Konto der gewerb
lichen Berufsgenossenschaften kommen, haben sich nur
18 000 bei Motoren, Transmissionen, Arbeite- und Hebe
maschinen, dagegen 53000 beim Auf- und Abladen,
Heben, Tragen, durch Zusammensturz und Herabfallen
von Gegenständen, durch Fallen und beim Gebrauch
gewöhnlicher Handwerkszeuge ereignet. Durch diese
einfachen statistischen Tatsachen wird einerseits der weit
verbreitete Aberglaube an die besondere Gefährlichkeit
der Maschinen, anderseits der noch größere Aberglaube
an die Wirksamkeit paragraphenreicher papierener Ver-