Full text: Bauzeitung für Württemberg, Baden, Hessen, Elsaß-Lothringen (1915/16)

STUTTGART 
Dez. 1915 
OTT PK! 
FÜR WÜRTTEMBERG 
BHDGN* HESSEN-GLr 
SHSS- LOTHRINGEN- 
KUM 
MER 
Theoretische Versuche — Tarifverträge. — Hypothekenwesen. — 
— Wettbewerbe. — Vereinsmitteilungen. — Personalien. — Bücher. 
Im 
Alle Rechte Vorbehalten. 
Theoretische Versuche. 
Von Rudolf Lerapp, B.D.A. 
Es ist bekannt, daß gewisse Gebiete der Aesthetik 
große Verwandtschaft mit mathematischen Gesetzen zei 
gen. Besonders auffallend ist dies bei der Musik, wo be 
kanntlich die denkbar einfachsten zahlenmäßigen Verhält 
nisse der Tonschwingungszahlen auch den einfachsten 
Klangharmonien entsprechen. 
In ähnlicher Weise wurden nun schon seit Jahr 
tausenden Gesetze für die auf streng geometrische Formen 
angewiesene Architekten gebildet. Ich erinnere an Pro 
portionalitätsregeln, Regeln vom goldenen Schnitt u. a. 
Während nun aber einerseits diese Regeln äußerst 
interessante Beziehungen zwischen Mathematik und 
Aesthetik eröffnen, begegnen wir andererseits hier — wie 
auf allen Pfaden der Hypothese — häufig dem Fehler, daß 
die Regeln weiter in Anspruch genommen werden, als ihre 
Gültigkeit tatsächlich reicht. 
Es sei hier ein solcher Fall herausgegriffen: Wir sind 
gewohnt, die Funktion des Sehens als eine einfache Pro 
jektion des äußeren Gegenstandes auf die Netzhaut anzu 
sehen, genau so, wie der photographische Apparat das 
Bild selbsttätig auf der Platte entstehen läßt, und doch 
macht uns gerade die photographische Aufnahme auf eine 
Eigentümlichkeit unseres Sehens aufmerksam. Bekannt 
lich läßt ein schräg aufwärts gerichteter Apparat ein Bild 
entstehen, bei dem die senkrechten Kanten eines Gebäudes 
nach oben zusammenlaufen. Obgleich dieses Bild im 
Wesentlichen durchaus demjenigen entspricht, das auf 
unserer Netzhaut entsteht, wenn wir schräg nach oben 
sehen, so lehnen wir jene photographische Aufnahme 
doch als nicht der Wirklichkeit entsprechend ab. Wir 
verlangen vielmehr von jeder Darstellung eines Körpers, 
daß die Bildebene lotrecht (nur in Ausnahmefällen wag 
recht) steht. 
Hiefür nun gibt es nur eine Erklärung, nämlich die, 
daß in unserem Sehen die „absolut Senkrechte“ eine allen 
anderen Richtungen gegenüber gesonderte Stellung ein 
nimmt. Die Ursache hievon zu untersuchen, wie weit 
dem optische Veranlagung (die Symmetrie des Augen 
apparats in Beziehung auf eine senkrechte Ebene) und wie 
weit statische Erfahrung zu Grunde liegen, ist hier nicht 
am Platze.* Die Tatsache mag jeder an zahlreichen Bei 
spielen kontrollieren: 
Ein Maß von 20 Meter, senkrecht an einem Gebäude 
angelegt, erscheint uns hoch, dasselbe Maß wagrecht an 
gelegt, nicht sehr lang. Ein Baum, der von einem Felsen 
gesehen 200 Meter unter uns liegt, scheint sehr weit, ein 
solcher in 200 Meter horizontaler Entfernung sehr wenig 
weit entfernt zu sein. 
*) Verg!. E. Mack, Die Analyse der Sinnesempfindungen u. a.
	        

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