Full text: Bauzeitung für Württemberg, Baden, Hessen, Elsaß-Lothringen (1915/16)

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BAUZEITUNG 
Nr. 50/52 
Oder ein anderes Beispiel: 
Niemand baut ein Haus mit horizontaler Symmetrie 
achse nach oben und unten gleich. Ganz abgesehen von 
der technischen und statischen Unmöglichkeit könnte sich 
niemand eine bedeutende Wirkung hievon versprechen, 
während die Symmetrie in Beziehung auf eine senkrechte 
Achse eines der wirksamsten Architekturmittel ist. Ande 
rerseits denkt niemand daran, in horizontaler Richtung 
fortschreitende Proportionen, wie etwa die des goldenen 
Schnitts, zu verwenden, während in vertikaler Richtung 
solche den regelmäßigen (Oleich-)Teilungen vorgezogen 
werden. Oder: wir können einen quadratischen Grund 
riß sehr wirksam ästhetisch verwerten, jedoch nur schwer 
eine quadratische Fassade. 
Alle diese BeispieleJaeweisep, daß für unser Empfin 
den die vertikale und die'horizontale Richtung zwei ganz 
verschiedenartige incpmmensurable Dinge sind. 
Daraus folgt nun sofort eine Beschränkung der An 
wendung geometrischer Gesetze auf Fassaden und Raum 
bildungen. 
Vor allem: Die geometrisch einfache Form des auf 
recht stehenden Quadrats, also' die Gleichsetzung von 
Höhe und Breite, ist ästhetisch ohne jede besondere Be 
deutung. 
Es hat sich in den letzten Jahrzehnten die Tradition 
herausgebildet, Gebäudehöhen an Straßen gleich der 
Straßenbreite zu machen. Zweifellos ist diese Tradition 
auch mitschuldig an unseren schlechten Straßenbildern. 
Man vergleiche ältere und neuere Straßen. Nicht nur die 
engen Gassen unserer Altstädte, sondern auch ihre breiten 
Straßen hatten weit mehr Charakter als unsere quadra 
tischen modernen. (Abbildung 1.) Man nehme z. B. in 
Stuttgart die außergewöhnlich angenehmen Verhältnisse 
der Hauptstätterstraße mit ihren früheren Gebäudehöhen 
oder aus späterer Zeit die Goethestraße. (Abbildung 2.) 
Es folgt hieraus auch, daß die Diagonale unter einer 
Neigung von 45° nicht zur Konstruktion besonders her 
vorragender Fassaden benutzt werden kann, wie man dies 
schon an antiken Bauten nachweisen wollte. Nicht als 
ob sich nicht eine vorzügliche Architektur denken ließe, 
auf die dieses System der Parallelen unter 45° angewandt 
werden kann,.doch kann dieser Winkel nicht ein Schlüssel 
zur Gewinnung schöner Proportionen gewesen sein. Denn 
was ihn vor anderen auszeichnet ist nur das, daß stets 
Höhe und Breite gewisser Teile gleich werden, und eben 
für diesen Sonderfall ist unser Sehen unempfindlich. Die 
Schräge unter 45° nimmt daher keinerlei Sonderstellung 
gegenüber anderen Schrägen ein. 
Die parallelen Diagonalen dagegen können wohl eine 
bedeutende Rolle spielen. Sie bewirken, daß das Ver 
hältnis von Höhe zu Breite sich in verschiedenen Ab 
messungen wiederholt, und für dieses, vor den Meistern 
der Renaissance vielgeübte Schema, ist das Auge sehr 
empfindlich, denn hier wird Höhe mit Höhe und Breite 
mit Breite verglichen, (Vergleiche Abb. 3.) 
Aus diesem Gesetz der Harmonie ähnlicher Figuren, 
das an zahlreichen Bauten beobachtet werden kann, 
wurde nun in Analogie zur Geometrie geschlossen, daß 
diese Harmonie auch in der Umkehrung der Verhältnisse 
zu finden sei, also wenn die Höhe zur Breite einer Figur 
sich verhält wie die Breite zur Höhe an einer andern, 
oder geometrisch ausgedrückt, daß ein Rechteck, dessen 
Diagonale senkrecht auf der Diagonale eines andern 
Rechtecks mit parallelen Seiten steht, zu diesem in gutem 
Verhältnis stehen müsse, (s. Abb. 4.) 
Suchen wir diese Regel auf gute Beispiele anzu 
wenden, so werden wir meistens finden, daß sie nicht 
stimmen will, daß vielmehr ein zu einem vorliegenden 
breiten Rechteck passendes hohes Rechteck fast immer 
andere Proportionen aufweist als das erstere. (s. Abb. 3.) 
Der Grund dieser Unstimmigkeit ist klar. Diese Um 
kehrung der Verhältnisse setzt voraus, daß wir Höhen 
und Breiten sozusagen mit demselben Maßstab messen. 
Da dies jedoch nicht der Fall ist, so kommt die An 
wendung dieses geometrischen Gesetzes auf die Gebiete 
des Sehens nicht in Frage. 
Es dürfte interessant sein, in dieser Weise die ver 
wandten Gebiete der Aesthetik und der Mathematik zu 
durchstöbern. Es kann sich dabei natürlich nur um ein 
fachste Funktionen handeln, da komplizierte Methoden 
dem ästhetischen Apparat fremd sind. Jedoch gerade die 
Grundfunktionen bieten schon eine Reihe interessanter 
Fragen. 
Dabei muß aber eine Eigentümlichkeit der ästhetischen 
Gebiete im Auge behalten werden: lassen nämlich die 
mathematischen und geometrischen Gesetze in ihren Grenzen 
keinerlei Ausnahmen zu, so haben sie auf ästhetisches 
Gebiet angewandt stets Ausnahmen und vermögen oft 
gerade in der Nüancierung der Abweichung von der 
Regel ihre reizvollsten Künste zu entfallen. 
Tarifverträge. 
Der Staatssekretär des Innern hat am 19. November 
1915 — II 7022 — folgendes Schreiben an den Deutschen 
Arbeitgeberbund für das Baugewerbe gerichtet: 
„Mit lebhafter Anteilnahme habe ich die Entwickelung 
der Verhältnisse unter dem geltenden Reichstarifvertrag 
für das Baugewerbe, der in der Kriegszeit eine be 
sondere Bedeutung gewonnen hat, verfolgt. Gegen 
stand meiner ernsten Aufmerksamkeit ist nunmehr der 
Ende März 1916 bevorstehende Ablauf des Vertrags. Es
	        

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