Das Heidelberger Tonnen-System. — Der sechswöchentliche Tischlerstrike in Hannover.
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Das Heidelderger Tonnen-ystem.
Hierzu 4 Fig.)
Seine Entstehung verdankt dieses System den Bemühungen
des Herrn Dr. med. Carl Mittermaier zu Heidelberg, welcher
auf Grund mehrjähriger Untersuchungen über' die Gesundheits—
verhältnisse dieser Stadt, und gestützt auf mehrfache zu dem Zwecke,
die verschiedenen Systeme der Städtereinigung kennen zu lernen,
unternommenen Reisen zu dem Ergebniß kam, daß für Heidelberg
eine gute geregelte Abfuhr vermittelst eines vervollkommneten
Tonnensystems die zweckmäßigste Art zur Entfernung und Ver—
werthung der mienschlichen Abfallstoffe sei.
Bei der bedeutenden Ausdehnung, welche das Heidelberger
Tonnensystem bereits erlangt hat, und bei den bedeutenden Ver—
besserungen, welche es in neuerer Zeit erfuhr, glaubten wir es
an der Zeit, eine Besprechung und Beschreibung desselben an dieser
Stelle bringen zu müssen.
Im Verein mit dem Fabrikanten einer Sanitäts-Apparaten—
Fabrik, Herrn Eduard Lipowsky, stellte Herr Dr. Mittermaier in
seinem Hause verschiedene Abortanlagen nach dem Tonnensystem
her, um durch die That zu beweisen, daß sein System praktisch
und richtig sei. Diese erste Probecinrichtung hat sich gleich auf
das Beste bewährt, so daß im Prinzip noch heute, wie diese im
Jahre 1869 hergestellte Musteranlage, die Abortanlagen nach dem
System „Mittermaier-Lipowsky“ ausgeführt werden.
Der Natur des Gegenstandes gemäß, konnte der Kampf, der
damals über das Tonnensystem entbrannte, zu einem durchschla⸗
zenden Erfolge in der Praxis nicht früher führen, bis auf wissen—
chaftlichem Gebiete eine Meinungsklärung stattgefunden hatte.
Dieser Aufgabe unterzog sich Herr Dr. Mittermaier und wurden
jeine Bemühungen mit bestem Erfolge gekrönt.
Man hätte nun glauben sollen, daß, nachdem alle Vorbe—
dingungen erfüllt waren, das Tonnensystem in seiner Geburtsstadt
schnelle Verbreitung finden würde; dem war jedoch nicht so. Trotz—
dem in Wort und Schrift in uneigennützigster Absicht und rein
sachgemäß das Tonnensystem erörtert wurde, bildete sich eine
Oppositionspartei, die einen recht unerquicklichen Kampf herbei—
führte. Doch auch aus diesem Kampfe ist das Tonnensystem sieg—
reich hervorgegangen und hat dasselbe wohl aus diesem Grunde
den Namen „Heidelberger Tonnensystem“ erhalten, obgleich man
es eigentlich das System „Mittermaier-Lipowsky“ nennen müßte.
Eine Hauptbedingung für das Gedeihen des Menschen—
zgeschleches ist die, daß der ständige Aufenthaltsort des Menschen,
d. h. seine Wohnung, gesund ist, was nur bei richtiger Beseitigung
der Exkremente möglich sein kann. Die bestehenden Uebelstände
in dieser Richtung werden durch das Tonnensystem in natürlichster
und einfachster Weise beseitigt, und sollte man es in der That
nicht für möglich halten, daß dem System so viele Schwierigkeiten
bereitet werden kounten, wodurch eine allgemeine schnelle Verbrei—
tung erschwert, ja sogar zeitweilig unmöglich gemacht wurde. Die
Hauptgegner des Tonnensystems sind prinzipielle, die in ihrer
Lebensstellung für andere Systeme der Städtereinigung durch
Wort und Schrift gewirkt haben, in Folge dessen diese Systeme
mit einem Kosteuaufwand von vielen Millionen in großen und
mittleren Städten eingeführt wurden.
Zu bedauern ist, daß ein großer Theil der Menschen die
zanze Angelegenheit überhaupt für viel zu unwichtig hält und der
Meinung ist, diese Frage durch Anbringung einer leidlich sauberen
Abtrittsschüssel und eines entsprechenden Sitzes gelöst zu haben.
Obgleich für diese Gegner einer geregelten Entfernung der Exkre—
mente eine solche Selbsttäuschung häufig von den übelsten Folgen
ist, so sind sie doch der Einführung eines bestimmten Systems
nicht gerade gefährlich.
Wir sind der Meinnng, daß es aber zur Einbürgerung des
Tonnensystems nöthig ist, daß die städtischen Behörden dasselbe
von vorn herein richtig handhaben und demselben mit dem Ver—
ständniß entgegen kommen, welches dasselbe verdient. Die Billig—
keit des Systeins wird hierzu ebenfalls wesentlich beitragen; voör
allen Dingen ist aber durchaus von Hause aus für eine exakt ge—
regelte Absuhr auf's Streugste Sorge zu tragen, da der Einzelne,
hesonders in Städten, sich nicht mit der Abjuhr der Tonnen be—
jassen kann.
Bemerken wollen wir hier aber, daß wir selbstverständlich
es für möglich halten, daß auch das Schwemmsystem mit und
ohne Berieselung unter bestimmten Voraussetzungen den Vorzug
berdienen kann, obgleich wir der Ueberzeugung sind, daß es unter
allen Umständen wesentlich theurer zu stehen kommt, als das
Tonnensystem.
Gegenwärtig bestehen nach dem System „Mittmaier-Lipowsky“
ca. 6000 Tonneneinrichtungen, was wohl ein Beweis für die
Zzweckmäßigkeit desselben sein dürfte. Es hat bereits weit über
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die Grenzen Deutschlands Anklang gefunden, da es alle Bedin—
Jungen, welche heutigen Tages von den Sanitätsbehörden an die
Abfuhr menschlicher Exkremente gestellt werden, bei möglichst ge—
ringem Kostenaufwand erfüllt. Als einen weiteren Vorzug kann
man es bezeichnen, daß jede einzelne Abortanlage vollständig isolirt
st, was besonders beim Ausbruch einer Epidemie nicht zu unter—
chätzen sein dürfte.
Um ein Bild zu geben, in welcher Weise das Tonnensystem
jür weitere Kreise verwendbar ist, theilen wir einiges über die
Organisation des „Heidelberger Tonnenvereins“ mit.
Die Leitung des Vereins liegt in den Händen des jeweiligen
Ausschußes, der aus seiner Mitte den Vorstand wählt. Alle
Aemter sind Ehrenämter.
Der Betrieb wird von einem Inspektor geleitet, dem auch
das Inkasso obliegt. Diesem besoldeten Beamten sind 5 Arbeitet
und 3 Pferde unterstellt. Zur Abfuhr der Tonnen dienen 2 aktive
und ein Reserve-Tonnenwagen, die für diesen Zweck besonders
onstruirt sind. Ferner besitzt der Verein 2 Kehrichtabfuhrwagen.
Mit Hülfe dieses Personals und Materials wird die Abfuhr be—
werkstelligt.
Des Morgens erfolgt die Anfuhr der Tonnen zur Station
und, des Nachmittags werden die Tonnen entleert und gespült,
jowie die sonstigen Arbeiten vorgenommen.
Die Arbeiter holen schablonenmäßig auf zweckmäßigster Route
die Tonnen ab und liegt hierin der Hauptschwerpunkt, damit durch
richtige Dispositionen die Tonnen schuell und auch zur richtigen
Zeit in jedem einzelnen Hause gesammelt werden. Jeder Arbeiter
ist gehalten, die kleinste Unregelmäßigkeit an den Tonnen sofort
u melden und werden die Uebelstände umgehend abgestellt. Die
Organisation und der Betrieb ist mustergültig geregelt und greift
Alles organisch in einander, so daß von ernstlichen Störungen keine
Rede sein kann; diese mustergültige Ordnung und Pünktlichkeit ist
iber auch von der eminentesten Bedeutung, da sonst Zustände her—
deigeführt werden können, die den Werth des Tonnensystems ganz
llusorisch machen.
Die Tonnen werden durch entsprechende Vorrichtung auf der
Station direkt in ca. 1500 Liter fassende Tonnenabfuhrwagen
entleert, mittelst welcher die Landwirthe den Inhalt direkt dem
Acker zuführen. Für diese unvergohrenen Exkremente werden jetzt
vro 100 Liter 20 Pfennige gezahlt.
(Forts. folgt.)
Der 6wöchentliche Tischlerstrike in Hannover,
dessen Ende noch nicht abzusehen. —
Immer allgemeiner tritt die brennende Frage zwischen Ar—
beitgeber und Arbeiter auf und spitzt sich an den meisten Plätzen
zum offenen Kampfe der Arbeitseinstellung zu, und immer an—
maßender werden die Gesellenforderungen und nicht nur in Deutsch—
land und in fast allen Branchen des Baugewerbes. Die Arbeiter
wissen ihren Zeitpunkt zur Eröffnung des Kampfes gar gut zu
vählen; der milde Winter und die allgemein verbesserte Geschäfts—
age haben viele Bauten schnell gefördert, die jetzt ihrer Vollen—
dung entgegensehen und neue aus dem Grunde erwachsen lassen;
das ist der geeignete Zeitpunkt zum Striken.“ Mancher Strike
»der Ansatz dazu ist beigelegt und hat ausgetobt, wie von vielen
Zeiten gemeldet; aber keiner hat wohl so lange gedauert und ist
nit solcher Energie auf beiden Seiten geführt worden als der
„Strike der Tischlergesellen von Hannover -Linden“. Das erklärt
ich einerseits durch die Unmäßigkeit der Forderungen der Gesellen,
indererseits durch die ausgezeichnete Organisation der Strike—
kommission, auf deren Besprechung wir weiter unten zurückkommen,
und die im unmittelbaren Zusammenhange mit ersterer steht.
Es sind jetzt gerade sechs Wochen her, daß die Arbeitsein—
stellung nach vorhergegangenen längeren Drohungen und Ver—
handlungsversuchen begonnen. Die Strikekommission der Tischler
hatte einen Lohntaris entworfen und den Meistern zur Anerken—
nung zugeschickt und dieselben daraufhin auf die Gesellenherberge
vorgefordert, um mit ihnen zu verhandeln; dieses Gebahren suchten
sie damit zu rechtfertigen, daß Alle vor dem Gesetze gleich seien.
Natürlich erschienen die Meister nicht und wurden in Kontumatiam
derdonnert, d. h. es wurde ihnen mitgetheilt, daß nunmehr von
riedlichen Verhandlungen nicht mehr die Rede sei und Arbeits—
»instellung eintrete, bis die Meister die von den Gesellen gestellten
Bedingungen ausnahmslos acceptirt und unterschrieben hätten.
Es ist doch nun gar zu interessant in diese Bedingungen einen
Einblick zu thun, deshalb lassen m sie abschriftlich folgen:
Tarif.
Den Herren Tischlermeistern resp. Arbeitgebern stellt unter—
zeichnete Kommission, laut Beschluß der öffentlichen Tischlerver—