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Die Arbeiterstadt zu Mühlhausen im Elsaß.
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Die Arbeiterstadt zu Mühlhausen im Elsaß.
In Mühlhausen im Elsaß, einer Fabrikstadt von ca. 60000
Finwohnern, wird für das sittliche und leibliche Wohl der arbei—
enden Klasse so viel githan, wie fast an keinem anderen Orte.
Die Mittel zur Linderung der Noth, über welche die Gemeinde—
Lerwaltung verfügt, sind im Ganzen gering, da die Stadt als
olche wenig Vermögen besitzt und ihre regelmäßigen Einnahmen
'aum genügen, die vielen Ausgaben zu bestreiten, welche das Ge—
neindewohl erfordert. Der privaten Mildthätigkeit eröffnete sich
daher mit der zunehmenden Bevölkerung ein reiches Feld der
Wirksamkeit und es fehlte nicht an organisatorischen Talenten, um
die Hauptfragen praktisch zu beantworten und die Wohlthätigkeit
in die richtigen Bahnen zu lenken Die Wohnungsverhältnisse
ser Arbeiter sind nirgends so grüudlich studirt und dies schwierige
Problem ist von Niemand so glücklich gelöst worden, als in Mühl—
hausen von denjenigen Männern, welche hier die Sache angeregt
ind schließlich zu einem guten Ende geführt haben.
Die Arbeiterwohnungen ließen in Mühlhausen, ohne gerade
chlecht zu sein, doch Vieles zu wünschen übrig und einzelne Firmen,
. B. André, Köchlin u. ECo., suchten den Uebelständen dadurch
abzuhelfen, daß sie den Wohnungsbau für ihre Arbeiter selbst in
die Hand nahmen. Diese Miethwohnungen sind, was Lage, Kon—
ttruktion, Räumlichkeit und Ventilation anlangt, vortrefflich und
ontrastiren wohlthuend mit gewissen unsauberen und überfüllten
Kasernen, aus deren Miethe die Besitzer einen schlecht verdienten
Bewinn zu ziehen pflegen. Der wahre Reformator des Arbeiter—
jauses aber wurde ein Menschenfreund, dessen Name auch den
päteren Geschlechtern erhalten bleiben wird, Jean Dollfus, der
Schöpfer der berühmten Arbeiterstadt zu Mühlhausen.
Kommt man vom Bahnhofe durch das Gewirre der krummen
Bassen der Stadt in die jenseitigen Vorstädte, so befindet man
ich plötzlich am Eingange einer langen Straße, deren beide
Seiten mit sauberen, von Gärten umgebenen Häusern besetzt sind.
Es ist die Napoleonsstraße, die wohl eine Viertelstunde lange
Dauptstraße der Arbeiterstadt, welche die Kolmarer-Vorstadt mit
den großartigen Etablissements von Dollfus, Mieg u. Co. in
Dornach in grade Verbindung bringt. Trottoirs und wohl⸗
zepflegte Lindenalleen begleiten die Straße und freundliche Gärten,
nit Blumen aller Art geziert, trennen sie von den Häusergruppen.
Diese sind nach allen Seiten frei und in gleichen Abständen von
einander gebaut, so daß die gesunde Luft überall Zutritt hat.
Diese Hauptstraße führt auf einen viereckigen Platz, dessen
eiine Seite von einer Wasch- und Badeanstalt, die gegenüberliegende
yon einer Speiseanstalt und Bäckerei begrenzt wird. Die dritte
Seite ist durch zwei ansehnliche Wohnhäuser geschlossen, die nach
einem besonderen Plane gebaut find, während eine Front von
niedrigen Arbeiter-Wohnungen die vierte Seite bildet. Mehrere
Rebenstraßen, theils der Hauptstraße parallel, theils sie im rechten
Winkel schneidend, münden auf den genannten Platz, von wo aus
nan den Plan der großartigen Anlage jedoch nur zum kleinsten
Theil exbien tann.
Die Fortsetzung der Napoleonsstraße weiter verfoigeno, ge—
angt man an einen breiten Kanal, auf dessen jenseitigem Ufer sich
eine zweite Arbeiterstadt, doppelt so groß als die erste, ausdehnt
und mit ihren freundlichen, weißen Häusern, von Grün umgeben,
einen gar wohlthuenden Eindruck macht. Eine schöne Brücke führt
über den Kanal. Der erste Theil ist das ältere, gewissermaßen
pornehmere Quartier, wo die Häuser etwas geräumiger und besser
zebaut sind, als in dem zweiten jüngeren Theile. Eine Fortsetzung
der breiten Napoleonsstraße durchschneidet auch dieses, vor circa
20 Jahren vollendete Quartier, dessen Wohnhäuser in der Mehr—
jahl nach demselben Gruppensystem erbaut sind, das bei dem
ilteren zur Anwendung gekommen ist. Hier befinden sich einige
ogenannte Warteschulen — salles d'asile —, mit welchen eine
„Krippe“ für Säuglinge verbunden ist.
Der Gedanke und die Ausführung dieser, bis jetzt wenig—
tens, in ihrer Großartigkeit in Europa noch einzigen Schöpfung
Jgehört Herrn Jean Dollfus. Sein Hauptzweck war, Wohnhäuser
kür nur eine Familie zu bauen und sie den Arbeitern durch Ge—
währung einer langen Zahlungsfrist zu verkaufen, oder, in Er—
vartung des Verkauss, zu vermiethen. Zu diesem Zwecke bildete
sich im Jahre 1853 eine Gesellschaft von 12 Aktionären mit einem
Kapital von 300000 Fres. Ein Komité von 4 Miitgliedern,
welche sämmtlich Vollmacht besitzen, besorgt die Verwaltungs—
zeschäfte. Der Staat gewährte der Gesellschaft bei ihrer Gründung
einen Zuschuß aus den Geldern, welche 1852 zur Verbesserung
der Arbeiterwohnungen in den großen Fabrikstädten bewilligt
varen. Dieser Zuschuß betrug 1, der ersten Gesammtausgabe
und wurde für öffentliche Zwecke, als Straßenanlagen, Tröttoirs,
Rinnsteine, Einfriedigungen, Brunnen, Baumpflanzungen, besonders
zber für eine Bade- und Waschanstalt, eine Restauration und
Bäckerei mit drei Backöfen verwendet. Da ursprünglich nur die
Summe von 900000 Fres. zur Erbauung von 390 Wohnhäusern
erausgabt werden sollle, belief sich der Beitrag des Staates au
3000600 Fres. Er knüpffe daran die NRaHingungd daß die GSäus-
den Arbeitern nur zum Bauwerthe und ohne Voctheil verkauft
vürden und daß die Miethe 8 pCt. der Baukosten nicht über—
schreite. Dieser Satz, unterhalb dessen die Gesellschaft sich stets
gehalten hat, dient zur Deckung verschiedener Kosten, zur Verzin
fung der Kapitalien, zu Kontributionen, Feuerversicherüng, Unler.
haltung, Besoldung der Beamten ꝛc.
Die Gesellschaft hat in ihren Statuten auf jeden Vortheil
verzichtet; die Aktien werden mit 4, PCt. verzinst.
Der Käufer eines Hauses hat sich gewissen Bedingungen zu
unterwerfen. Er darf aun dem Aeußeren keine Beränderungen
»ornehmen und muß sich zur Unterhaltung und Bebauung seines
Bärtchens verpflichten. Die Einfriedigung seines Hauses muß im
juten Zustande erhalten werden und namentlich hat er die Linden,
welche die Trottoirs beschatten, zu schönen, obwohl sie sich inner—
halb der Umzäunung befinden. Auch ist es dem Käufer untersagt,
ein Haus vor Ablauf von zehn Jahren wieder zu verkaufen oder
an einen Anderen ohne Genehmigung der Gesellschaft zu ver—
miethen. Zu Beidem ertheilte die Gesellschaft die Erlaubniß, was
jsedoch zu vielen Mißbräuchen Veranlassung gegeben hat, da der
Besitzer, um einen möglichst großen Gewinn aus seinem erst zum
leinsten Theile bezahlten Hause zu ziehen, oft weit mehr Bewohner
aufnimmt, als es im Interesse der Gesundheit der Bewohner ge—
tattet ist, und sich und seine Familie auf den nothwendigsten
Raum beschränkt. Die Abnahme jenes Mißbrauchs hat man aber
in dem Grade wahrgenommen, als der Besitzer sich dem Zeitpunkte
aäherte, wo er schuldenfrei wird und die Nothwendigkeit begriff
sein Eigenthum in gutem Zustande zu erhalten.
Der Verkauf eines Hauses erfolgt nach einem sehr zweck
näßigen System. Der Kaͤufer hat, je nach dem Werthe des
Dauses, eine erste Zahlung von 300 bis 400 Fres. zu leisten, die
ihm gut geschrieben wird und dazu dient, die Kosten und Abgaben
des Verkaufs zu bestreiten, wenn der Augenblick gekommen ist, ihn
als definitiven Käufer anzusehen und den Kontrakt abzuschließen.
Außerdem verpflichtet sich der Käufer zu monatlichen Zihlungen
yon 15 bis 25 Fres. Auf diese Weise kommt das Haus. unter
Berechnung der gegenseitigen Zinsen, nach höchstens 14 Jahren in
den vollen Besitßz des Käufers. Es werden ihm aber 15 Jahre
zur Erwerbung gelassen. Hat der Arbeiter die Summe für die
erste Zahlung nicht in seinem Besitz, so kann er das Fehlende durch
eine Erhöhung der monatlichen Zahlungen nach und nach abtragen.
Es sind von der Gesellschaft Häuser von verschiedener Form
und Größe erbaut und zwar Häuser nur mit Erdgeschoß und
olche mit Erdgeschoß und einem Stockwerk. Auf diese Weise sind
mtstanden: Reihen von 10 und 20 Häusern, deren Rückseite sich
in 10 und 20 ähnliche lehnt, und Gruppen von 4 Häusern, von
senen je 2 mit der Rückseite gegen einander stoßen. Dieses zweite
System ist das herrschende geworden, da die Häuser ausf diese
Weise Luft und Licht von vorn und von einer Seite erhalten.
kin drittes System besteht aus Reihen von Häusern zwischen Hof
ind Garten, d. h. also aus einzeln stehenden Häusern. Ddie
reihenweise gebauten Häuser haben ihre Gärten vorn, die gruppen—
veise gebauten vorn und an der Seite bis zur Scheidewand de
Nachbars. Auf diese Weise sind Wohnungen und Gärten wv
einandei gtcennt und jeder Eigenthümer ist sein eigener Herr.
Die beba'lte Grundfläche eines Hauses beträgt ca. 40 qm,
der Garten har Tne Größe von ungeiuhr 120 qui. Diejenigen
däuser, welche nur Erdgeschoß enthalten, sind enses in Gruppen
hon vier Häusern angeördnet und haben etwas mehr Grundfläche
ils die mit einem Stockwerk. Die Hauptstraßen sind 11 mm breit,
zie Nebenstraßen haben eine Breite von 8m. Sie sind mit
Brunnen versehen, mit Linden bepflanzt und durch Gas beleuchtet
Die Bewohner dieser Stadt sind der großen Mehrzahl nach
Arbeiterfamilien aller Schattirungen und kann man an dem
Aeußeren des Hauses und an der Unterhaltung des Gartens ziem⸗
ich sicher erkennen, welcher Geist in dem Hause herrscht. Die
ilteren Theile dieser Arbeiterstadt sind die wohlhabendsten, sau⸗
hersten und am wenigsten bevölkerten. Zur Hebung des sittlichen
ind leiblichen Wohles der armen Familien hat sig ein Verein
yon Damen und Herren gebildet, welcher in regelmäßigen Sitzungen
iber die Vertheiling von Viktualien, Feuerung, Beiten, Kleidern
»der Geld gemeinsame Beschlüsse faßt. Die nöthigen Gelder liefert
ine jährliche Kollekte. Einem Arzte ist von der Gesellschaft ein
Lokal eingeräumt, wo er wöchentlich zweimal unentgeldlich Kon—
ultationen für die Armen abhält und außerdem die Kranken in
hren Wohnungen besucht. Eine kleine Apotheke enthält die ge—
präuchlichsten Medikamente, welche von einer Diakonissin auf Ver—
ordnung des Arztes gratis verabreicht werden, während wichtigere
Verordnungen von den Kranken aus den Apotheken der Stadt
»ezogen werden und dann der öffentlichen Armenverwaltung anheim
allen.
Das hier gegebene Beispiel sollte unserer Ansicht uach zu
recht fleißiger Nachahmung anspornen, da man jedenfalls durch
eine solche praktische Organisation die sozialen Gegensätze viel
eichter versöhnen wird, als durch philosophische Träumereien irgent
velcher Art