Full text: Deutsches Baugewerks-Blatt : Wochenschr. für d. Interessen d. prakt. Baugewerks (Jg. 47, Bd. 6, 1887)

Die Wiederbelebung der Gothik. 
Bilbert Scott im ersten Viertel dieses Jahrhunderts bildete, 
wofür man sich keinen rechten greifbaren Grund denken konnte, 
seute ist es eine hervorstechende Geschmacksrichtung in der 
Architektur, namentlich der Kirchen, und alle Gründe dafür sind 
Jeute verständlich. Im Anlehnen an die Gothik und Renaissance 
uchte die Baukunst die Kraft, um sich zu verjüngen. 
Jedenfalls trat die Neigung des jungen Scott für das 
Studium alter Kirchen so entschieden hervor, daß sie die, Art 
eines künftigen Berufes vorzuschreiben schien, und ein Glück für 
den Knaben 'war es, daß sein Vater ein Verständniß dafür 
»esaß. Er brachte ihn zu einem Maurermeister und Architekten 
n die Lehre und Gilbert ergriff die praktische Seite des Bau— 
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chon erfüllte. 
Nur wonach er in einer merkwürdigen Sehnsucht strebte, 
arin geschah ihm kein Genüge bei seinem Meister, der nicht 
zie geringste Hochachtung für die alten Spitzbogenbauten zeigte. 
Mit“ gothischer Baukunst, die Scott des Näheren zu studiren 
edachte, beschäftigte sich überhaupt zur Zeit noch Niemand im 
handwerk. Wie dieses war und wie es sich an den Bauten 
ꝛethätigte, so mußte es Scott erlernen und seine idealen 
Neigungen als ein Privatvergnügen auffassen, dem er sich nur 
in den Meußestunden hingeben konnte. Vielleicht kam ihm dies 
zu gut, wie energische, ihres Zieles bewußte Naturen gewöhnlich 
die Hindernisse nützen, die sich ihnen entgegenstellen. Der Kampf 
des Lebens wird in den meisten Fällen bergan geführt und es 
hieße ihn ohne Ehren bestehen, wenn keine Anstrengung dabei 
wäre. Die Schwierigkeiten, die der junge Scott hinsichtlich 
eines Lieblingsstudiums bewältigen mußte, machten ihn um so 
entschiedener in seiner Neigung und wurden die Ursache jener 
Festigkeit, mit der er in späteren Jahren bei dem verharrte, 
vas er unter Mühe und Drangsal und lediglich gestützt auf 
eigene Kraft sich angeeignet hatte. 
Bis zu seinem dreißigsten Jahre arbeitete Scott im Sinn 
ind Geist Anderer, die ihm so wenig Befriedigung gewährten. 
Nun aber fand er Gelegenheit, selbstständig mit einer archi— 
ektonischen Leistung hervortreten zu können, nachdem ihm die 
Ansführung eines Monuments in Orford, des Märtyrer-Denk— 
mals, übertragen worden war. Als es errichtet dastand, machte 
s großes Aufsehen, und mit der Menge derer, die es zu be—⸗ 
rachten kamen, mehrte sich der Beifall, den der Meister für 
ein Werk erntete. Eigenartig war es nur insofern, als es den 
Engländern, eine Arbeit in gothischem Stil zeigte, worauf 
ie nicht gefaßt gewesen waren. Es erinnerte sonst in seinem 
Aufbau wie im ganzen Arrangement an die gothischen Brunnen, 
vie sie in Augsburg und anderen süddeutschen Städten vor— 
handen waren, theilweise auch an das gußeiserne Siegesdenkmal 
zuf dem Krenzberg bei Berlin, eine herrliche Pyramide nach 
Zchtukel8. Entwurf, welche auch längst vorhanden war. 
Indessen hatte Scott sich mit den Ideen des großen, bereits 
verstorbenen Berliner Baumeisters ungesucht begegnet. Dem— 
elben künstlerischem Zuge, dem einst Schinkel gehuldigt, folgte 
der englische Architekt mit setbstständiger Ueberzeugung. Er hatte 
non Jugend auf für die Gothik geschwärmt, nun ihm als Bau— 
neister Ruf und Aufträge zufielen, verwirklichte er seine Ideen 
nit einer fast eigensinnigen, einseitigen Beharrlichkeit. Im 
Kirchenbau, dem er sich speziell zuwandte, ging er nicht von der 
jothischen Weise ab; er schuf in diesem Stil, rein und schön, 
ie Kirche zu Camberwell, einer Vorstadt von London, dann die 
kirchen zu Croydon, Leeds, Liverpool, Doncaster und St. John 
auf der Insel Neufundland, die ersten seiner Werke. 
Aber noch bedeutendere Triumphe waren ihm vorbehalten. 
Nach dem großen Brande von Hamburg im Jahre 1846 wurde 
sür den Wiederaufbau der Nicolaikirche daselbst eine Konkurrenz 
ausgeschrieben, bei welcher die Architekten aller Länder Europas 
als Mithewerber austraten. Der von Gilbert Sceott ein— 
zesandte Plau erwarb den Preis und nach ihm wurde der stolze 
Bau, der mit seinem schlank emporstrebenden Thurm an die beite 
Epoche deutscher Gothik mahnte, ausgeführt. 
Neun Jahre später fand eine ähnliche Wettbewerbung um 
en neuen Rathhausbau statt, welchen der Hamburger Senat 
deschlossen hatte. Wiederum betheiligte sich auch Scott daran 
uind wiederum ging er als Sieger hervor. Der Triumph war 
int so größer, als das Schiedsrichter-Komitee zum Theil aus 
Mitgliedern bestand, die durchaus kein Gefallen an dem gothischen 
Stil hatten und am allerwenigsten ihn bei diesem Gebäude durch⸗ 
geführt wissen wollten. Aber die Gothik hatte sich schon zu feh 
illgemeiner Anerkennung zu erfreuen; immer mehr kam sie bei 
Rathhäusern, Kirchen, Schlössern wieder zur Ehren und Scott 
sah seine Triumphe auch in denjenigen seiner Sache. 
Mit dem Meißel und mit der Feder stritt er dafür, wie 
für eine heilige Mission; denn es blieb nicht aus, daß man ihn 
rus Neid und seine Kunstrichtung aus Abneigung energisch 
hekämpfte. Diese Wiederbelebung der Gothik war nament— 
ich innerhalb des Baugewerks durchaus nicht populär und fand 
sier noch zahreiche Gegnerschaft, als die Erfolge schon bewiesen, 
vie sehr sich der öffentliche Geschmack mit dieser Richtung be— 
reundete. Man bekämpfte sie als unpraktisch und als eine 
»loße Modesache, die über kurz oder lang durch eine andere 
VYtode verdrängt werden würde. Dieser Ängriff, dieser Streit 
var natürlich; er umtost jedesmal die Bahnbrecher einer neuen 
Aera in der Kunst wie in der Wissenschaft; er hat um alle 
zroßen Baumeister gewogt, die dem verderbten Geschmack ihrer 
Zeit durch ein originales, an edlen Mustern der Vergangenheit 
Jebildetes Schaffen entgegenzutreten suchten. Es war, wie wir 
ehen werden, Brunellechi in Florenz beim Bau des Domes so 
ergangen und ebenso auch Schlüter in Berlin und Schinkel, der 
auf den griechischen Stil zurückkam. Für die Sache war dies 
»ei alledem nur von Vortheil; denn mochte auch die strenge 
BHothik nicht überall angebracht sein, so griff doch durch den 
geistigen Kampf deswegen die Ueberzeugung immer mehr um 
ich, daß jede Wiedergeburt der Baukunst, jede Rückkehr zur 
vahren Schönheit nur durch die Rückkehr zu den Bauten der 
zroßen Vergangenheiten möglich sei; daß aus ihrem Geist zu 
chöpfen, ein neues, originales Schaffen zur Vorbedingung haben 
nüsse. 
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als ein persönlicher, er war der eines Prinzips, dem er zwei 
denkwürdige und musterhafte Bauwerke in der großen Handels— 
tadt an der Elbe setzte. Hier rief er den Kampf auf, der doch 
zu Gunsten seines Prinzips entschieden ward, wovon z. B. das 
Rathhaus zu München, wie das zu Berlin, ebeuso die Peters⸗ 
irche daselbst imposante Zeugnisse ablegen. In England, seinem 
deimathlande, fand Scott lange nicht solchen Widerspruch; viel⸗ 
nehr hob ihn hier die nationale Sucht, etwas Eigenartiges zu 
jaben, um so lieber auf den Schild, als in England der gothische 
Ztil noch aus vielen Bauten der Vorzeit zu dem Sinn des 
Bolkes sprach. So legten denn die englischen Gemeinden mit 
einem wahren Wetteifer in Gilbert Scott's Hände den Auf— 
»der Umbau von Domkirchen in gothisch stilgerechter Herstellung. 
Die ganze neuere Kirchen-Architektur auf dem britischen Insel— 
and wurde durch Scott in diesem Sinne gestaltet und alle die 
»edeutenden Bauten zu Ely, Lichfield, Hereford, Ripon, Glocester, 
Chester, Salisbury, Exeter, Peterboraugh, Worecester, Rochester 
uind Orford, denen er der Vater war, haben ihm den Ruhm 
eines der fruchtbarsten und charaktervollsten unter den Baumeistern 
gesichert, eines Bahnbrechers der neuen Aera unserer Tage, 
iamentlich für England. Die Rückkehr zum reinen, strengen 
Stil, ob nun zu dem klassisch-griechischen oder ernst gothischen, 
»der dem heiter florentinischen und venetianischen, war die Grund— 
»edingung zu einer solchen neuen Aera. Danach konnte die 
Erfüllung des künstlerischen Werkes mit dem eigenen Geist der 
ieuen Zeit in Harmonie mit den ewigen Gesetzen der Schön— 
jeit erfolgen. In gothischem Stil hat Scott diese Aufgabe 
nerdienstvoll gelöst. Allenthalben im Lande sind, wie erwähnt, 
pon ihm entworfene neue Kirchen zu finden und auch an welt— 
ichen, von ihm geplanten Gebaͤuden fehlt es nicht. Neben einer 
Anzahl von Schlössern, Rathhäusern und Krankenanstalten seien 
»esonders der schöne burgartige, gothische Eisenbahnhof von St. 
bancraz in London und das Älbert-Denkmal in Kensington 
Bardens hervorgehoben, von welchem letzteren der architektonische 
Theil Scott's Werk ist. 
Selbst seine entschiedensten Gegner haben eins nicht ab⸗ 
uleugnen versucht: die nicht hoch genug zu schätzenden Verdienste 
Scott's als Restaurator. Mögen uͤber den Werth seiner eigenen 
Bothik die Meinungen sich widerstreiten: über das feine Ver— 
taändniß, das eingeheude Geschick, mit dem er alte gothische 
Bauten zu restauriren oder, wo es nöthig war, zu erweitern 
»erstand, waren die Ansichten aller Parteien einig. Dergleichen 
Arbeiten hatte er in seinem, an alten Kathedralen so reichen 
Baterlande denn auch vielfach zu leiten und anzuordnen gehabt. 
Vorzüglich gelang es ihm bei denen von Ely und Hereford. 
Seit 1849 lag ihm auch die bauliche Ueberwachuͤng des britischen 
Vanutheons. der herrlichen Westminster-Abtei, in amtlicher Eigen—
	        

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