2.) Den Gegenstand der Versicherung bildet die Ent—
chädigüng a) für die durch Abnahme der körperlichen eder geistigen
träfte, in Folge von Krankheit, Altersichwäche, von Unfallen, welche
richt unfallversicherungspflichtig sind ꝛc, verursachte Erwerbsunfähigkeit
Invalidität). Erwerbsunfähig ist, wer nicht mehr im Stande ist,
»in Dritttheil seines bisberigen Arbeitsverdienstes durch eine seinen
Kräften und Fäbigkeiten entsprechende Arbeit zu erwerben. Unfähigkeit
blos zur Berufsarbeit genügt nicht, der Invalide braucht sich aber
auch nicht auf für ihn ganz ungeeignete Arbeiten (Kotbschippen ꝛc.)
berweisen lassen. Das Dritttheil des bisherigen Arbeitsverdienstes
ist aber nicht wörtlich zu nehmen, vielmehr wird es zu einem Sechs-
theil berechnet aus dem ertsüblichen Tagelohn und zu einem Sechs—
beil aus dem fünfjährigen Durchschnitt der Lohnsäße, mit welchen
der Betreffende zu den Versicherungsbeiträgen veranlagt war. Das
Besetz berücksichtigt nämlich nicht den wirklich bezogenen Lohn, den
ogenannten Individuallohn, sondern theilt alle Versicherten zum Zweck
owohl der Rentenbemessung, als der Beitragsfestsetzung in vier Lohn—
klassen (mit einem Jahreslehn bis zu 350 Mk., von 350—- 550 Mk.,
»on 550—850 Mk. und über 850 Mk.). Sofern nicht Arbeitgeber
ind Arbeiter einen gewissen Betrag als Arbeitsverdienst angeben,
vird die Lehnklasse ermittelt aus dem 300fachen Betrage des für die
»etreffende Ortskrankenkasse oder Fabrikkrankenkasse bestimmten durch—
ichnittlichen Tagelohnes, und wenn der Betreffende einer organisirten
Krankenkasse nicht angehört, aus dem Zrachen Betrag des für den
Beschäftigungsort festgeietzten ortsüblichen Tagelbbnes. Der für die
Erwerbsunfähigkeit in Betracht kommende Arbeitsverdienst wird nun
auch nach der Lohnklasse berechnet, zu welcher der Erwerbsunfähige
'in den letzten fünf Jahren durchschnittlich) veranlagt war. Auch der
Versicherte, welcher von einer chronischen Krankheit befallen wird,
exhalt die Rente, wenn er in Folge der Krankheit länger als ein
Jahr erwerbsunfähig ist, für die weitere Dauer der Erwerbsunfäh'gkeit.
Aber ein schon Erwerbsunfähiger kann natürlich nicht mehr in die
Versicherung eintreten, denn sie ist ja eine Versicherung gegen Erwerbs—
infähigkeit und nicht Armenversorgung! b) Auf die Altersrente hat
derjenige Versicherte Anspruch, welcher, ohne erwerbsunfähig zu sein
im Sinne von a), das 70. Lebensjahr vollendet hat. Sobald der—
elbe aber erwerbsunfähig wird, erhält er die höhere Invalidenrente.
3) Träger und Organisation der Versicherung. Hier—
ür werden territoriale (nicht berufsgenossenschaftliche, wie bei der Un—
allversicherung) Versicherungsanstalten eingerichtet, in Preußen für
ede Provinz und in Bayern für jeden Kreis je eine; die Mittel—
taaten werden je eine Landesversicherungsanstalt errichten und die
Kleinstaaten sich zu Versicherungsanstalten zusammenschließen. Jede
Versicherungsanstalt umfaßt also alle, in ihrem Gebiete ansässigen Ver—
icherten. Mit dem Wegzuge aus diesem Gebiete wechselt der Ver—
—B
uristische Personen, können als solche in eigenem Namen klagen, ver—
tagt werden ꝛc. An der Spitze jeder Versicherungsanstalt steht der
Vorstand, ein oder mehrere öffentliche Beamte; derselbe besorgt die
igentliche Geschäftstührung und Verwaltung. Die sonst der General—
rersammlung zustehenden Obliegenheiten werden von dem Ausschuß
vahrgenommen, welcher aus mindestens je fünf Vertretern der Arbeit—
jeber und Arbeiter besteht; sofern nicht auch im Vorstande Arbeit—
zeber und Arbeitnehmer vertreten sind, ist ein besonderer Aufsichtsrath
zu bilden. Als örtliche Auskunfts- und Kontrolorgane werden Vertrauens—
destellt; ferner zur Wahrung der Interessen des Reiches und der mit—
oetheiligten Versicherungsanstalten bei jeder Anstalt ein Staatskommifsar
und zur Enticheidung streitiger Rentenfälle ein Schiedsgericht (wie
ür Unfallsachen).
4) Wer zahlt? Der Versicherungsaufwand wird bestritten vom
Reiche, von den Arbeitgebern und von den Arbeitern. Das Reich
ziebt zu jeder Rente den sogenannten Reichszuschuß mit 50 Mark;
's zahlt also nach dem Umlagesystem. Die Beiträge der Arbeitgeber
und der Arbeiter dagegen werden nach dem Kapitaldeckungsverfahren
entrichtet, und zwar näch Lohnklassen (vgl. 2a). Für Versicherte der
ersten Lohnklasse beträgt der Versicherungswochenbeitrag, welcher den
Arbeitgebern und den Ärbeitern je hälftig zur Last bleibt, 14 Pfennig,
in der zweiten Lohnklasse 20 Pfennig, in der dritten 24 und in der
bierten 30 Ptennig. Für Krankheitszeiten ist kein Beitrag zu leisten
und für Militärdienstzeiten leistet das Reich den Versicheruͤngsbeitrag
voll. Wer nach dem Aufhören der Versicherungspflicht freiwillig sich
elbst weiter versichert (z3. B. der Werkmeister oder Kommis, dessen Ge⸗—
balt über 2000 Mik. steigt; die Fabrikarbeiterin, die sich verheirathet ec.),
dat natürlich den vollen Versicherungsbeitrag und zwar immer nach
der zweiten Lobnklasse selbst zu entrichten und dazu einen Zusatzbeitrag
oen 8 Pfennig pro Woche; ven letzterem sind nur Kleinunternebmer
efreit. Die Bestimmungen über die Weiterversicherung gelten auch
nut die Fälle, in welchen überhaupt freiwillige Selbstversicherung (poun
vornherein) zulässig ist.
eedu etraa dee enien Die Nemen stufen sich ab nach den
ieinn na vr Zeitdauer der Versicherung, beziehungsweise
* 3 J Die Invalidenrente beträgt mindestens 110 Mark
Mia rundbetrag und 50 Mark Reichszuschuß) und steiat mit
Vesetzgebung.
380
eder zurückgelegten Beitragswoche um 2 Pfennig in der ersten Lohn—
lasse, 4 Pfennig in der zweiten, 9 Pfennig in der dritten und
13 Pfennig in der vierten Klasse. Ein Höchstbetrag ist für die In—
»alidenrente gesetzlich nicht bestimmt. Die Altersrente beginnt mit
50 Mark und steigt mit jeder Beitragswoche um 4 Pfennig in der
»rsten Lebnklasse, 6 Pfennig in der zweiten, 8 Pfennig in der dritten
ind 10 Piennig in der vierten Klasse. Diese Renten erhält aber nicht
Jeder, der etwa alsbald nach dem Eintritte in die Versicherung in—
»alid wird, sondern das Gesetz schreibt für den Rentenanspruch eine
Wartezeit vor, während deren Dauer der Betreffende im Versicherungs—
»erhältnisse gestanden haben muß, 5 Jahre für die Invalidenrente
ind 30 Jahre für die Altersrente. Das Jahr wird aber auch hier
iur zu 47 Beitragswochen gerechnet. Für die Uebergangszeit nach
Finführung des Gesetzes ist die Wartezeit erheblich herabgesetzt, nämlich
auf 1 Jahr, beziehungsweise 3 Jahre.
An dieser Stelle ist noch die Erstattung von Beiträgen zu er—
vähnen. Für solche Versicherte, welche nicht in den Genuß einer
Rente kommen, hat das Gesetz die Rückzahlung der Versicherungs—
»eiträge vorgesehen in zwei Fällen: a) Wenn ein Versicherter nach
ünfjähriger Versicherungsdauer stirbt, ohne eine Rente bezogen zu
saben, so haben seine Wittwe und die Kinder unter 15 Jahren An—
pruch auf Rückzahlung der von dem Versicherten bezahlten Beiträge
Wochenbeitrag 7 Pfge, 10 Pfg., 12 Pfg. und 15 Pfg.); dasselbe
Recht haben die Kinder einer versicherten Frau, sofern dieselben noch
nicht 15 Jahre alt sind. 0) Wenn eine weibliche Versicherte in Folge
Verheirathung aus dem Versicherungsverhältnisse ausscheidet, so kann
ie die von ihr eingezahlten Beiträge zurückfordern, sie kann aber auck
die Versicherung freiwillig fortsetzen (Ziff. 4).
6) Wie werden die Beiträge der Arbeitgeber und Ar—
»eiter erhoben? Durch Einkleben von Marken auf Quittungskarten.
Die Marken werden von der Post auf Rechnung der Versicherungs—
instalten verkauft; sie sind verschieden für jede Versicherungsanstalt
uind für jede Lohnklasse. Der Arbeitgeber, welcher den Arbeiter während
einer Woche beschäftigt (bezw. zuerst beschäftigt), bat für denselben die
Wochenmarke (zu 14 Pfg., 20 Pig., 24 oder 30 Pfg. vergl. Ziffer 4)
u kaufen und in die Quittungskarte einzukleben. Die Hälfte des
Markenwerthes darf er dem Arbeiter dann bei der Lohnzahlung in
Abzug bringen. Für unständig beschäftigte Arbeiter kann der Bundes—
rath die Selbstversicherung vorschreiben mit der Weipflichtung des
Arbeitgebers, dem Arbeitgeber die Hälfte des Tagesbeitrages (in erster
Klasse 1 Pfennig, in vierter 2, Pfennig) zu vergüten. Jede Quittungs—
»rte sell für ein Jahr dienen und bietet daher Raum für 47 Marken
47 Beitragswochen, vergl. oben unter 1) und außerdem für Be—
cheinigungen von Krankenzelt und Militärdienstzeit. Die ausgefüllten
sarten werden bei der Wersicherungsanstalt, welche die erste derselben
ausgestellt hat, gesammelt (vergl. unter Ziffer 7); sie tragen daher
den Namen des Versicherten, der Versicherungsanftalt und eine fort—
aufende Nummer.
1) Rentenfeststellung und Rentenzahlung. Wer eine
Invaliden- oder Alters-) Rente beansprucht, hat sich ünter Vorlage
der Beläge (laufende Quittungskarte und Erwerbsunfähigkeitszeugnisse
»ezw. Geburtsschein) an die Verwaltungsbehörde (Landrathsamt, Kreis-
)irektion, Bezirksamt ꝛc.) zu wenden. Diese macht die erforderlichen
Erhebungen (Anhören der Vertrauensmänner ?ꝛc., vergl. Ziffer 3) und
endet dann die Verhandlungen an die Versicherungsanstalt ein. Letztere
zat nach Einforderung der früheren Quittungskarten von der Ver—
icherungsanstalt, welcher der Versicherte zuerst angehörte (vergl. Ziffer 6),
die Rente festzustellen und giebt dem Antragsteller Bescheid. Im
Falle der Rentengewährung erhält derselbe einen Berechtigungsausweis,
iuf Grund dessen er dann die Rente monatlich von der Post erhält
wie bei Unfallrenten). Die Renten sind unpfändbar ꝛc., wie Unfall—
enten. Gegen den von der Versicherungsanstalt erlassenen Fest—
tellungsbescheid ist (seitens des Arbeiters, wie des Staatskommissars,
»ergl. Ziffer 3) die Berufung an das Schiedsgericht zulässig, von
diesem geht der Rekurs (aber nur als Rechtsbeschwerde, wegen Ver—
etzung des Gesetzes ꝛc. und nicht auch wegen Thatfragen, wie bei der
Unfallversicherung) an das Reichsversicherunggamt. Die Vertheilung
ind Ausgleichung der Rentenlast auf die einzelnen Versicherungs
Anstalten (nach Verhältniß der verwendeten Beitragsmarken) erfolgt
dann durch das Rechnungsbüreau des Reichsversicherungsamtes, und
nach diesem Vertheiler haben die Versicherungsanstalten an die Post—
auptkasse Ersatz zu leisten (wie bei Unfallberufsgenossenschaften).
8) Finanzielle Folgen und wirthschaftliche Bedeutung
des Gesetzes. Dasselbe vbezieht sich auf 114212, Millionen ver—
sicherungspflichtige Personen; der Reichszuschuß ist für das erste Jahr
auf Maͤrk 3 830000 berechnet, für das zweite auf 4 800 000, dritte
auf Mark 6 760 000 und steigt so bis auf Mark 79 230 000 im
Beharrungszustande; dazu kommt der Versicherungsbeitrag des Reiches
für die Mälitärdienstpflichtigen (vgl. Ziffer 4) mit alljährlich etwa
4 Millionen.
Wenn wir vergleichen, was der Arbeiter an Beiträgen entrichtet,
und was er dafür an Rente erhält, so ergiebt sich: Der Versicherte
hat an Versicherungsbeiträgen zu zahlen in