Full text: Deutsches Baugewerks-Blatt : Wochenschr. für d. Interessen d. prakt. Baugewerks (Jg. 53, Bd. 12, 1893)

Der Baustyl im 19. Jahrhundert. 
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Der Baustyl des 19. Jahrhunderts.*) 
age ist zu breit und zu solid gegründet, als daß wir in die 
ruͤheren Armseligkeiten zurückfallen könnten. 
Und hiermit möge diesen Zeilen der Vorwurf erspart 
»leiben, daß sie tolle Stylmengerei, wahrhaftigen Hexensabbath 
»redigten, wie seiner Zeit der verstorbene Doktor Reichensperger 
zus Köln die modernen städtischen Bauweisen charakterisirte. 
er vergaß dabei wohl, daß dieser gefürchtete Sabbath bereits 
da war, also gar nicht erst gepredigt zu werden brauchte, und 
voch wohl mindestens ebenso erträglich sein dürfte, wie die 
jothisch-dogmatische Zwangsjacke, mit der er uns beglücken 
vollte. Daß er hierbei die Unverträglichkeit von Dogmen 
nit der Religions- nud Denkfreiheit als ganz selbstverständlich 
inräumte, können wir ihm nur Dank wissen, und wollen 
dazu bemerken, daß der „feste Kanon, das Gesetz in der 
Architektur“, den er forderte, sich nicht mit der „Grammatik 
der Sprache“ vergleichen läßt. Grammatik ist niemals Styl 
»der Kanon, sondern Technik der Sprache. Wir haben auch 
hurchaus nicht ein und dieselbe Grammatik für hoch- und platt— 
ceutsch, für alt- und mittelhochdeutsch oder gar für gothisch. 
KRielmehr haben wir ebenso viele Sprachstyle wie Baustyle und 
benso viele Grammatiken und sie sind alle national deutsch; 
iber Dr. Reichensperger schien, außer der gothischen Haus— 
auordnung, auch von uns für die Sprache Lessing's und 
Hoethe's die gothische Grammatik des unralten Ulfilas fordern zu 
vollen. 
Doch hiermit würde sich Dr. Reichensperger noch nicht 
viderlegt fühlen, er wies seine Landsleute vielmehr mit über— 
egenem Lächeln auf die englischen Zustände hin und fragt, 
varum denn die Engländer innerhalb der Gothik so fröhlich 
zedeihen; nicht nach Italien, sondern nach England hätten 
vir zu gehen und dort zu lernen. 
Nun, zuvörderst baut sich der Durchschnittsengländer 
durchaus keine gothischen Wohnhäuser, vielmehr haben die 
2- und Zfenstrigen Familienhäuser in den Städten nicht mehr 
—A 
prosftls von Gesimsen und Feusterumrahmungen und endigen 
»hne jede Dachbekrönung, wie die Straßen z. B. in der Naͤhe 
»on Bakerstreet in London. Die englischen Straßen athmen 
die tödtlichste Langeweile; ohne Nummer wäre es oft unmöglich, 
»arin ein bestimmtes Haus herauszufinden. So bilden aller— 
ings diese englischen Fensterkisten in der völligen Abwesenheit 
edes Wechsels und Schmuckes ein einheitliches Ganzes und 
ommen iusofern einer dogmatischen Uniformität näher, wie sie 
Dr. Reichensperger zu wünschen schien. Im Uebrigen sehen 
vir die englische Profan-Gothik nur noch an den town-halls 
ind colleges der Städte, sowie an den Landsitzen der Großen; 
rhebt sich ja doch selbst die große Paulskirche in London 
nicht im Style der alten Westminster-Abtey, sondern im 
estlichen Prunke der italienischen Hochrenaissance. Wenn 
nun jenseits des Kanals durchschnittlich mehr gothisch gebaut 
vird, als auf dem Kontinent, so kommt dies einzig und 
allein auf Rechnung des ultra-konservativen angelsächsischen 
Bauernblutes, das sich gleich geduldig dem gothischem Babel— 
hurme seiner Rechtspflege unterwirft So wird auch das 
euglische Auge von dem wirren, jedoch historisch gewordenen, 
»ft malerischen Gebäudecomplexe der halls und colleges be— 
riedigt. Dieselben bilden geradezu den baulichen Ausdruck dieser 
gistoxisch-konservativen Volksgesinnung. Solche Gebäudegruppen 
iber zur Nachahmung zu empfehlen, mit ihrem naiven Neben— 
inander je nach den wachsenden Bedürfnissen der Jahr— 
junderte entstanden, hieße von uns fordern, ganze Straßen 
»es alten Nürnberg gedankenlos nachzubauen, anstatt von 
vornherein für die größeren Anforderungen der Neuzeit einen 
inheitlich klaren Grundriß zu entwerfen, Darum dürften 
ruch die reiden Neubauten der Universitäten Oxford und 
Fambridge, sowie dergleichen welfische Nachahmungen auf 
deutschem Boden einen nur getheilten Eindruck auf uns hervor— 
»ringen. Der malerische Wechsel des Gewordenen ohne die 
Patina der Jahrhunderte verwandelt sich eben zum bizarren 
unruhigen Nebeneinander. 
Wir aber entnehmen aus vorstehenden Betrachtungen, der 
Berechtigung der exclusiv gothischen Schwärmerei bei uns 
Vor politischen Belästigungen haben wir uns vor den 
Segnungen des grünen Tisches allgemach zu schützen gesucht; 
es häte Noth, daß wir nun bald ein Kunstparlament in's 
Leben ricfen, um uns vor der Stylwiuth unserer Kunst— 
Bureaukralten zu schützen. Kunsthistoriker wie Architekten, 
akademische Professoren, sowie vornehmlich die Direktoren der 
neueren Kunstgewerbeschulen — sie alle sind auf der Suche nach 
einem neuen Styl, nach einem allein seligmachenden, der uns 
styllosen Unglückskindern des 19. Jahrhunderts aus dem 
Pfuhle der Kunstsünden verhelfen soll. Sie alle glauben, 
daß unser herrliches Jahrhundert noch auf ihre Erfindung 
wartet, und bereit ist, in seinem letzten Jahrzehnt sich reumüthig 
hrer Führung anzuvertrauen. Der Eine erblickt die Rettung 
in der „neuzeitlichen Wiedergeburt“, zu deutsch: moderne 
Renaissance, der Andere predigt von den lebenssprühenden 
Formen des Rokoko, ein Dritter erblickt nur in der Gothik 
das rechte Kleid seiner Nation, ein Vierter sucht sogar das 
Heil in einer europäisch-japanischen Renaissanuce, die er sich 
aus England verschreibt, und sie alle sehen nicht, daß das 
19. Jahrhundert längst seinen eigenen Styl hat und sie 
selbst als Sklaven ihrer Zeit widerwillig und unbewußt in 
demselben arbeiten. Die Menschen sind ja nur zu oft blind 
und ungerecht gegen ihre besten Vorzüge; so sind wir in 
der Geringschätzung und Mißachtung der in der heutigen 
Architektur zur Erscheinung getretenen Vielseitigkeit ungerecht 
gegen die großartigen Leistungen und Toleranz unseres Jahr— 
hunderts. Denn daß mit noch nie dagewesenem Verständniß 
zriechische Bauten wie die Schinkel's und Strack's entstehen 
sonnten, gleichzeitig mit dem stylistisch reinen Ausbau des 
Kölner Domes durch Zwirner und Schmidt, daß wir uns 
wieder in den Vollbesitz des Formenreichthums der italienischen 
und deutschen Renaissance sowie des Rokoko setzen, daß nicht 
nur unsere Gelehrten und Künstler, wie Gottfried Semper., 
dan der Nüll und Sickardsburg nebst ihren Schulern, diesen 
Reichthum in sich aufnahmen, sondern daß derselbe auf die 
Straße stieg und in die Kunstfertigkeit der Handwerker, sowie 
in die künstlerische Genußfähigkeit des breitesten Publikums 
sich einlebte, dies ist etwas unendlich Neues und Großartiges. 
Hierin lassen wir alle früheren Zeiten weit hinter uns und 
sind zu Riesen angewachsen, welche die Arbeit von Jahrtau— 
senden meistern. Bekanntermaßen verachteten die Hellenen 
weidlich asiatische Kunst und Kultur, die Gothiker die Antike, 
die Renaissance die Gothiker, und endlich wieder der Zopf 
die Rengissance; nur erst wir sind auf die Höhen gestiegen, 
von wo aus, an der Hand eruster Studien, wir allen Kulturen 
in's Herz schauen und durch die gewonnene geistige Freiheit 
zur Toleranz uns erheben. Die alten Werke zerstören wir 
nicht mehr, sondern wir stützen sie, wir belegen die alten 
Formen nicht mehr mit dem Verbot, sondern stellen sie 
mitten hinein in's bunte Leben. 
Dieser Toleranz verdankt der Kölner Tom seine Voll— 
endung und die gleiche Toleranz darf jedes andere Kunstwerk 
beanspruchen. Die politische und religiöse Freiheit des Ein— 
zelmenschen, das konstitutionelle Leben, die zeigt sich solcher 
Gestalt in der Architektur. 
Nur hierin ist der geistige Stempel, der stolze Styl des 
universellen 19. Jahrhunderis zu finden und wird sich vor— 
aussichtlich innerhalb der nächften Jahre nicht ändern. Ob 
es immer so bleiben soll, wohl kaum; wie es aber werden 
wird, weiß noch kein Sterblicher, am allerwenigsten unsere 
Jeutigen Kunstbeamten vom grünen Tisch mit ihrer selbstge— 
fälligen Siylerfindung. Trotz alledem brauchen wir an unferer 
künstlerischen Zukunftenicht zu verzweifeln. Sopiel ernste und 
solide Arbeit, wie in unseren Studien und Neubelebungs⸗ 
dersuchen der verschiedensten Techniken niedergelegt ist, kann 
und wird nicht ohne Frucht vergehen. Die gewonnene Unter— 
Aus der Wochenschrift „Unsere Zukunst“ bringen wir diesen 
interessanten Beitrag, die Arbeit eines hochbedeutenden Fuchmannes, der 
seine Zeit qut versteht.
	        
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