Nr. 5: ; Neubauten und Concurrenzen in Oesterreich und Ungarn.
antiker Reinheit. Sie gewann hinzu die Würdigung alter deutscher
Kunstwerke, die, jahrhundertelang kaum beachtet, seither vielfach be-
wundert wurden. Anlass zu diesem Wandel, diesem Geschmacks-
wechsel, bot vor Allem die damalige Begeisterung für unsere eigene
Vergangenheit, für den alten geistigen Besitz unseres Volkes. Sie
brachte den sogenannt »gothischen« als vermeintlich »germanischen«
Baustil wieder zu Ehren. Damit hatte eine Doppelstrômung die
Künstler ergriffen: aus der Antike einerseits, aus dem Mittelalter
andererseits führte sie durch zwischenliegende Zeiten hindurch zur
Gegenwart herüber. Deutlich ist an unserem grossen Schinkel zu
sehen, wie, derselbe Mann von beiden Strömungen ergriffen ward,
auch, wie er seinerseits thatkräftig auf beide zurückwirkte. Das geschah
im ersten Drittel des Jahrhunderts.
Der doppelte Strom theilte sich bald weiter. Das nun auch
für Mittelalterliches empfänglich gewordene Auge entdeckte namentlich
jenseits der Alpen Werke, die sich unseren gothischen Domen zur
Seite stellen liessen und dabei den Vorzug duldsamerer, weniger ex-
clusiver Formen hatten. So brachte man neben dem gothischen dem
romantischen Baustil Achtung und Sympathie entgegen. Und gleich-
zeitig, wührend man die Antike suchte, fand man, zógernd, sogar
gegen sie voreingenommen, die Renaissance; Schinkel und Semper,
diese beiden grossen Geister, haben es an sich erlebt, zu ihrem und
zu unserem Besten. Es musste wohl so sein: denn unsere Bauten
stehen, ihrer Bestimmung nach, denen der Renaissance näher als
denen der Antike. Bald folgte man gern, wenn auch nicht durch-
gehends, den alten Italienern, namentlich im Privatbau, So war aus der
doppelten Strömung eine vierfache geworden, Das geschah im zweiten
Viertel oder Drittel des Jahrhunderts:
Damit nicht genug, die Zertheilung ging weiter, In den Kreisen
der Renaissance-Bewunderer erweckte die patriotische Begeisterung
der Zeit um 4870 den nachdrücklichen Hinweis auf Werke, die einst,
als die Renaissance siegreich durch die civilisirten Lànder zog, natür-
lich auch bei uns in Deutschland entstanden waren. Von der soge-
nannten deutscheu Renaissance zum ausgesprochensten Barock und
dann zur Rococo-Decoration ist aber nur ein Schritt, zu dem man
jetzt nicht einmal Jahrzehnte, sondern nur Jahre gebraucht hat. Wir
haben kürzlich erlebt, wie eine dieser modernen Stilarten nach der
anderen vom Banne befreit, der Nacheiferung freigegeben wurde.
Das geschah im laufenden letzten Drittel des Jahrhunderts.
Aus dem einheitlichen Strome ist somit im Verlaufe eines
Jahrhunderts ein Neben- und Durcheinander vieler Silberfáden ge-
worden; wir sehen sie allerseits am uns her blinken und glitzern.
Und nun: das praktische Ergebniss dieser Stilvielheit unserer
Zeit? Unsere neuen Stadttheile sind »eine Art Pantheon, wo allen
Göttern der Schönheit, allen Stilarten gehuldigt wird, die am Schönen
participiren«. Mit diesem Ausdrucke wurde schon das München
Ludwig's I. bezeichnet, mit seiner antiken Glyptothek, altchristlichen
Basilika, romanischen Ludwigskirche, gothischen Auerkirche, dem
Palazzo Pitti der neuen Residenz. Unter derselben Bezeichnung kann
man die herrlichen Neubauten am Ring zu Wien zusammenfassen:
das antike Reichsrathsgebdude, das gothische Rathhaus, die Renais-
sance-Universitát. — Wirkónnen heute Bauten errichten sehen in antikem,
altchristlichem, romanischem, gothischem, Renaissance-, Barock, Ro-
coco-, auch in venezianischem, maurischem, skandinavischem Stile,
je nachdem es dem Erbauer beliebt. Dabei wird sich jedesmal der
Architekt zu fragen haben, wie weit die Ankniipfung an einen alten
Stil, die Aufnahme seiner Formensprache, den heutigen Bedürfnissen
genügt, wie weit die heutige Technik Verbesserungen bietet. Solche
zeitgemässe Verbesserungen vorausgesetzt, ist unserer Zeit das Recht
der freien Stilwahl an der Hand der Thatsachen nicht zu bestreiten.
Die Zeit ist vorüber, in der nur ein Stil gut gekannt wurde und
herrschte. Unsere Kenntniss des vorhandenen Formenschatzes ist bei
der Leichtigkeit des Reisens und des Photographirens in den letzten
Jahrzehnten ausserordentlich gewachsen. Mit der Vielseitigkeit der
Kenntnisse ist aber auch die Môglichkeit vielseitigeren Geschmackes
gewachsen, und von dieser mannigfacheren Anregung macht unsere
Zeit, die Bahnen der jüngstvergangenen Zeit rascheren Schrittes
weiter verfolgend, vollen Gebrauch.
Fragen wir nun schliesslich: Welche Charakteristika er-
geben sich bei dieser allgemeinen Fortwirkung des Uebernommenen,
dieser Weiterbildung des Jiingsterrungenen, fiir die Baukunst un-
serer Zeit?
. . Erstens: Wie gesagt, eine früher unerhórte Mannigfaltig-
keit, die keine Beschrünkung auf einen bestimmten Formenkreis, auf
ein bestimmtes Streben gelten lässt.
Und zweitens: Wir erfreuen uns im Zeitalter rüstigen wissen-
schaftlichen und praktischen Strebens, wie gleichfalls bereits. dar-
gelegt wurde, einer ausserordentlichen Ausbildung der Technik,
welche die alten Bahnen von Hemmnissen befreit, neue Bahnen
eróffnet.
Beide Errungenschaften unserer Zeit, die Vermehrung der
Kenntnisse und die Ausbildung der Technik, sind von grósster Trag-
weite. Sie ziehen noch andere nach sich, namentlich die folgenden.
Drittens: Mit der Würdigung aller móglichen Stile geht eine
regere Belebung der Bauten, eine lebhaftere Detailbehandlung
Hand in Hand. Während die Meister der jüngstvergangenen Gene-
rationen, ausschliesslich antike und mittelalterliche Muster vor Augen,
das Detail dem Ganzen sehr vorsichtig unterordneten, lassen die in-
zwischen aufgetauchten Muster jener neueren Stilarten eine solche
Zurückhaltung als unnóthige oder selbst schädliche Beschränkung er-
scheinen. Wer, wie ein betrüchtlicher Theil des jetzigen Publicums,
die deutsche Renaissance, das Barock, das Rococo liebt, ist gewöhnt,
das Detail sehr vernehmlich sprechen zu lassen. Vorlaute Einwürfe,
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gelegentliche Widersprüche, oder auch gemüthliches Ausspinnen eines
zufällig sich bietenden anregenden Themas machen ihm den Bau
interessant, wie sié ihm eine Unterhaltung würzen. Und Verehrer
anderer Stile stehen theilweise unter demselben Eindruck. Wir sehen
es klar bei Umbauten, wo wir den Vergleich unabweislich zur Hand
haben. Wird ein Bau aus der Mitte des Jahrhunderts heute um-
oder neugebaut, was ja häufig der Fall ist, so verschwinden seine
einfachen, zarten, spärlich geschmückten Formen, die den früheren
Jahrzehnten zur Freude gereicht haben, unserer Zeit aber leicht zu
bescheiden und eintönig erscheinen, und wuchtige, reiche Formen
treten an ihre Stelle. Jene schweigsame Schönheit freilich wollte vom
Beschauer gesucht sein; die moderne Schönheit sucht oft den Be-
schauer. Sie muss es vielleicht, kann man denken, will sie nicht neben
den vielen lauten Concurrenten übersehen werden und im Verborgenen
blühen. Leicht aber verfehlt sie dabei das Ziel. Denn nach einer
alten Erfahrung lässt sich oft mit geringeren Mitteln mehr erreichen.
Und viertens: Aus den genannten Eigenschaften ergibt sich
ferner eine auffällige Farbigkeit unserer Architektur. Das Streben
danach geht wieder ein halbes Jahrhundert weit zurück. Als man
damals entdeckte, dass die Bauten der griechischen Antike, denen
man nachstrebte, dem Beschauer ursprünglich einen mehrfarbigen
Anblick dargeboten haben, lag der Wunsch nahe, auch hierin den
bewunderten Vorbildern zu folgen. Dieser Weg hat nicht zum Ziele
geführt. Semer, der ihn theoretisch für richtig hielt, fand ihn praktisch
ungangbar, und wenige haben ihn seither betreten. Andere Wege zu
gleichem Ziele boten sich aber von selbst, und sie waren volksthüm-
lich. Die Aufnahme des echten Backsteinbaues neben dem Putz-
und Quaderbau brachte in unser farbloses Stüdtebild eine frische
Farbe, das Roth, und die weitere Pflege derselben Technik ergab
mancherlei Abstufungen von Roth und Gelb, auch den Wechsel von
rothen und gelben Ziegeln am selben Bau, mit gelegentlicher Bei-
mischung von glasirten Ziegeln, weiss, schwarz oder farbig. Seitdem
dann die deutsche Renaissance Beachtung fand, wurde eine Ver-
schmelzung beider Techniken, der Wechsel von Quader- und Back-
steinen am gleichen Gebäude, beliebt. Matt, steinfarben ist nun oft
das Gerüst des Baues (Sockel, Seiten und Krönung der Fronten und
der Fenster), die füllenden Wandflächen hingegen haben den leb-
haften Schein des Backsteins. Und weiter: Nachdem schon vorher
die Beachtung der italienischen Renaissance uns dann und wann
nach Semfer's Vorgang mit bescheidenen schwarz-weissen Friesen in
Sgraffito-Technik bekannt gemacht hatte, brachte uns jene ,Hin-
neigung zur deutschen Renaissance vollstindig buntbemalte Háuser-
fagaden, Das Ergebniss dieser, von mehreren Seiten nach und nach
auf uns wirkenden Einflüsse ist: unser gesammtes Stádtebild, vorher
mattfarben, eintónig, grau, hat ein heiteres, buntes Aussehen ge-
wonnen.
Das sind die hauptsächlichsten Charakteristika, die ich an der
heutigen deutschen Baukunst bemerke: unbegrenzte Mannigfaltigkeit
der Formen, hohe Ausbildung der Technik, vernehmliche Sprache
der Details und Beseitigung der Farbenfurcht. Nur ein bis zwei
Menschenalter früher war das Gesammtbild, das die deutsche Bau-
kunst dem kunstfreudigen Wanderer darbot, in all diesen Hinsichten
ein anderes: die Formenwahl war beschränkt, die Technik noch weit
zurück, das Detail sprach leise, Farbigkeit fehlte.«
Wie man sieht, steht Professor Brockhaus nicht im Lager der
Unzufriedenen und Unbefriedigten, er findet, dass wir auf Grund der
erweiterten kunsthistorischen und technischen Kenntnisse zu unserer
heutigen Baukunst auf dem Wege der natürlichen Entwicklung gelangt
sind, und dass wir daher vollkommen recht haben, so zu bauen, wie
wir bauen, ein wohlthuendes Urtheil, den vielen abfálligen gegenüber.
Wir kónnen die aufmerksame Durchsicht der in Buchform
erschienenen Vorlesung, die hier nur auszugsweise wiedergegeben
werden konnte, unseren Lesern nur würmstens empfehlen.
Ein Baukrach in Paris. Die Bauthätigkeit war in den letzten Jahren
so umfangreich, dass Paris vor einem Baukrache ‘steht, wie er hier
noch niemals stattgefunden hat. Die Miethspreise waren von der
Mitte der Sechziger-Jahre bis zum Jahre 1882 unaufhorlich gestiegen,
so dass um diese Zeit die Rente der Immobilien sehr hoch war.
Nach dem Bontouxkrach, der mit diesem Höhepunkte. der Mieths-
preise zusammenfiel, zog sich das Capital von der Borse zuriick und
warf sich auf den Bau von Zinshäusern. Besonders in der Richtung
der westlichen Vororte, in Passy, Ternes, Curcelles u. s. w. entstan-
den zahlreiche neue Strassen und Stadttheile. Viele Geschäftsleute
bezogen die neuen comfortablen Wohnungen in diesen wie aus der Erde
gezauberten Quartieren, theilweise auch in der Erwartung, dass es mit
der Metropolitanbahn endlich Ernst werden würde. Die Hoffnungen
sind. bis jetzt unerfüllt geblieben. Es ist weit über das Bedürfniss
hinaus gebaut worden. Die Zahl. der Wohnungen im Miethspreise von
9000 Francs aufwärts, die gegenwärtig leer stehen, ist ungeheuer
gross. Durch die Stockung in der Vermiethung der vielen Neubauten
sind auch die Miethspreise in der inneren Stadt zurückgegangen, ob-
gleich: hier das Angebot nicht so überwältigend ist, als in den neuen
Theilen der Aussenstadt. Im Ganzen ist die Rente. von Häusern, die
früher 6 bis 7% betrug, auf 3%, bis 4'/,% zurückgegangen. Weniger
gross ist der Ueberfluss an kleineren Wohnungen im Preise von 500
bis 1500 Francs. Der ,Figaro* rüth den Capitalisten dringend, Hàáuser
mit gróssen Wohnungen gar nicht mehr zu bauen, sondern ihre
Speculation nur auf die Herstellung kleiner, billiger Wohnungen zu
richten. x
Im Berliner Architektenvereine berichtete am 8. April d. J. Geh.
Baurath Garde im Auftrage eines grösseren Ausschusses, welchem ausser
zahlreichen Männern der Praxis àuch mehrere Docenten der tech-
nischen Hochschule angebórten, ausführlich über die Frage der prak-
tischen Ausbildung der Studirenden des Baufaches wihrend des