1903
ARCHITEKTONISCHE MONATSHEFTE
Heft 1
NN
Landhaus mit Stallgebäude in Frankfurt a. M.,
Architekt: Alfred Günther in Frankfurt a. M.
Einfache Land- und Stadthäuser.
langen nach eigenem Haus und Herd. Die wachsende
Erkenntnis der zahlreichen Mängel der bisherigen
NZ Durchschnittsmietwohnung, der Widerwille gegen
die poesielosen Häusermassen der Grossstädte und das Be-
dürfnis nach Ruhe und Erholung in einer den persönlichen
Wünschen und Gewohnheiten angepassten Wohnung lassen
die dem Deutschen angeborene Sehnsucht nach einem eigenen
Besitztum auch da immer lebendiger wieder aufleben, wo sie
jahrzehntelang unterdrückt schien.
Nicht mehr bloss vereinzelt und in vornehmer Abge-
schlossenheit als Luxuswohnsitze der oberen Zehntausend,
sondern oft dicht gedrängt, in langen Reihen oder in bunt
zusammengewürfelten Kolonieen, auch den Minderbemittelten
zugänglich und mit bescheidenen Mitteln durchgeführt, erstehen
jetzt überall wieder kleine Einfamilienhäuser, die in ihrer mannig-
faltigen Gestalt ein beredter Ausdruck wiedererwachender Selb-
ständigkeit im Denken und künstlerischen Empfinden unsrer
Bevölkerung sind. ;
Die anfänglich vereinzelten Versuche einer malerischen
Gestaltung des Aeusseren und eigenartiger Raumentwickelung
im Inneren haben einen ungeahnten Aufschwung in der
künstlerischen Entwickelung des modernen Wohnhausbaues
herbeigeführt. Aus den bescheidenen Anfängen ist bereits ein
zielbewusstes Vorgehen auf der ganzen Linie geworden, dessen
Einwirkung auch auf die Strassenbilder unsrer Grossstädte
überall zu bemerken ist. ı ;
Auch hier vollzieht sich, langsam noch, aber sicher die
Abkehr von den endlosen geradlinigen Strassen mit der öden
Wiederholung sinnloser Palastarchitekturen durch den Ueber-
gang zu. einer den inneren Bedürfnissen und der esSeren
künstlerischen Erkenntnis Rechnung: tragenden Bebauung.
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Die vergleichende Wohnungsstatistik zeigt, dass selbst für
die dichtgedrängte Bevölkerung der Industriestädte die Massen-
quartiere keineswegs eine unabweisbare Notwendigkeit sind,
da die jüngste Entwickelung der Verkehrsmittel eine früher
undenkbare Ausbreitung der Wohnquartiere in entlegenere und
billigere Teile der Umgebung ermöglicht. Andrerseits gestatten
die Fortschritte der Technik auch im Innern der Städte die
grossen Miethäuser so zu gestalten, dass sie allen billigen
hygienischen und sittlichen Anforderungen entsprechen.
So steht gegenwärtig das einfache Land- und
Stadthaus im Vordergrunde des allgemeinen Inter-
esses. Die hervorragendsten Privatarchitekten und die be-
deutendsten Autoritäten auf dem Gebiete des Städtebaues, wie
Henrici, Stübben, Rettig, Gruner u. a., arbeiten rastlos an der
Klärung der mannigfachen sozialen und baurechtlichen Fragen,
welche für die gesunde und kunstgerechte Entwickelung unsres
bürgerlichen Wohnhausbaues von entscheidendem Einfluss sind.
Diese für unser Volks- und Familienleben wie für unsre sozialen
Verhältnisse nicht hoch genug einzuschätzende Abkehr von
den verflachenden und veräusserlichenden Einflüssen des Gross-
stadtlebens, das immer kräftiger an den Tag tretende Sich-
auf-sich-selbst-besinnen der produktiven Stände lassen eine
langsame, aber nachhaltige Gesundung auch unsrer kleinbürger-
lichen Baukunst erhoffen. Ja wir dürfen darin wohl den
wurzelechten, lebenskräftigen Anfang einer volkstümlichen Bau-
kunst erblicken, die unter der Ungunst der Verhältnisse ver-
loren gegangen war, und es verlohnt sich deshalb gewiss,
auch an dieser Stelle die Bedingungen zu prüfen, welche für
die Entwickelung des einfachen Stadt- und Landhauses der
Gegenwart ausschlaggebend sind.
Es ist natürlich ausgeschlossen, hier eine auch nur an-
| nähernd vollständige Uebersicht alles dessen zu geben, was für