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gliedern hervor und erklärte sich durch Probſt, Gröber und Kiene zwar
für zwei Kammern, aber gegen jeden Rest von Adeligen in der 2. Kam-
mer; eine Interessenvertretung als Ersatz der ausscheidenden Privile-
gierten räumten sie ein, aber nicht durch Wahlen besonderer Interessen-
kreiſe, sondern durch allgemeine Wahlen größerer Ureiſe, die etwa
nach dem Verhältniswahlverfahren zu gewinnen wären. Auf die Ver-
hältniswahl hatte schon zuvor Mittnacht hingewiesen, die auch der
Minderheit die entsprechende Zahl Sitze sichere und daher geeignet sei,
manche Bedenken gegen die reine Volkskammer aus allgemeinen gleichen
Wahlen zu beseitigen; aber die Parteien und die Wähler seien dafür
noch nicht reif, und bedenklich wäre sowohl die reine Verhältniswahl
statt der altgewohnten Wahlen der Oberamtsbezirke, als auch die
Verhältniswahl neben den Mehrheitswahlen der Oberamtsbezirke.
Noch abgeneigter gegen die Verhältniswahl hatte sich Payer namens der
Volkspartei geäußert, weil das Band zwiſchen Wähler und Gewähltem
zerschnitten, eine Parteiherrschaft und ein Parteiterrorismus eingeführt
wurden, „von dem wir Gott sei Dank keine Ahnung haben“. Eine
Berufsvertretung der Arbeiter wurde in der Kammer von mehreren Seiten
als erwünſcht bezeichnet. Vor allem erklärte Mittnacht selbſt: wenn
wir Arbeiterkammern oder ähnliche Arbeitervertretungen hätten, würde
die Regierung auch diese herangezogen haben wie die Verzxreter der
Körperschaften der Landwirtschaft, des Handels und des Gewerbes.
Als es endlich am 5. Juni 1894 nach fünftägigem Reden zur
Abstimmung kommen ſollte, hatte die Regierung ihren Entwurf zurück-
gezogen. Sie war damit seiner sicheren Ablehnung zuvorgekommen.
Aber es war doch ein Fehler. Nach all den langen Erörterungen
hätte sie es zur Abstimmung kommen lassen und den Parteien Gelegen-
heit geben sollen, der Regierung und dem Lande gegenüber eine klare
und ziffermäßig genaue Stellung zu nehmen zu den vorgelegten Mög-
lichkeiten: Regierungsentwurf, Kommissionsantrag, reiner Volkskammer
und schließlich Verhältniswahlen. Ein noch größerer Fehler war, daß
die Regierung zugleich den Landtag geschloſſen und damit auch die
Erledigung aller anderen Beratungsgegenstände verhindert hat. Be-
sonders bedauerlich war, daß der entgegenkommende Kommissions-
bericht der 2. Kammer über Eingaben der Volksschullehrer unberaten
bleiben mußte und der in der 2. Kammer bereits angenommene, von
der Kommission der 1. Kammer ebenfalls zur Annahme empfohlene
Nachtrag zum Volksſchulgesez mit dem Ausbau der Fortbildungs-
ſchule und besserer Lehrerfürsorge wegen des jähen Landtagsſchlusses
von der 1. Kammer nicht mehr beraten werden konnte, so daß sehn-
liche und berechtigte Wünſche der Lehrerschaft und der Gemeinden
dicht vor dem Ziel zu Boden fielen und die Abgeordneten gezwungen
waren, mit leeren Händen vor ihre Wähler zu treten.