Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1968, Jg. 1, H. 1-4)

tifunktion des rein Künstlerischen. Hier sollte die 
Forschung einsetzen. Sie müßte im Rahmen einer re- 
gelrechten Erziehungsaufgabe die wesentlichsten 
Grundsätzlichkeiten im architektonischen Gestaltungs- 
bereich freilegen. So kämen wir zu einer neuen Glaub- 
würdigkeit und zu einem neuen Wertverständnis im Ar- 
chitektonischen. 
Man sollte architektonisches Entwerfen niemals losge- 
löst von den integrierenden Bestimmungsfaktoren einer 
ganzen Weitsicht beurteilen. Architektur ist immer le- 
bendige Beziehungssetzung; es genügt nicht, gute Bei- 
spiele vorzuführen und von ihnen fragwürdige Theorien 
abzuleiten, wobei die Sublimierung eines geistigen Ex- 
traktes aus diesem "Anschauungsunterricht' letztlich 
jedem Einzelnen anheim gestellt bleibt. Wir brauchen 
heute wieder ein Architekturdenken, das Erkenntnis 
will, ein Denken, das um seine Richtung besorgt ist 
und nach festen Zielpunkten im Unbegrenzten künst- 
lerischen Geschehen sucht. Nur so gelangen wir zum 
ersehnten Selbstverständnis von Form und Ausdruck. 
Man kann für die Architektur als abstrakteste der bil- 
denden Künste "geistige Kategorien'' umschreiben, 
wie ich es in meinem Buch '"'Standortbestimmung der 
Gegenwartsarchitektur'" versucht habe. Diese Katego- 
rien schließen eine Art "Stilfrage" in sich ein. Die 
geistige Grundhaltung im architektonischen Schöpfungs 
prozess heißt Gestaltungswille; er ist seinerseits das 
Sublimat einer Architekturphilosophie. Architektoni- 
sches Gestalten polarisiert sich entweder in einem 
statischen oder in einem dynamischen Gleichgewicht 
der Kräfte. Die Kategorien der entsprechenden wahr- 
nehmbaren Auswirkungen ließen sich mit Tektonik und 
Atektonik umschreiben. Glaubwürdige Architekturlei- 
stungen der Geschichte verdeutlichen in hohem Maße 
eines der genannten Gestaltungsprinzipien: daraus re- 
sultiert im übrigen ihre "stilbildende'" Kraft, sei sie 
nun absolutierend oder relati vierend. 
Architekturforschung sollte uns in den Bereich des 
ethisch Werivollen, der Eindeutigkeit und der Wahr- 
heit tragen. Im baukünstlerischen Schöpfungsprozess 
sind dies Faktoren, die zu dem führen, was ich 
"Kristallisation" nenne. Das Architektonische muß un- 
entbehrlich werden für die Erschließung von Tiefendi- 
mensionen in der urbanen Gesamtstruktur des Städte- 
baues von Morgen. 
In unserer Zeit der Relativierung und Dynamisierung 
geht es heute darum, eine atektonische Strukturwelt 
zu schaffen, die letztlich vor uns stehen wird als in- 
determinativer Organismus ohne Oben und Unten, und 
ohne Anfang und Ende. Eine neue Architektur der Frag- 
mente und des Überganges stellt sich gegen jede sta- 
tische Beharrung; sie kann dem durch unsere Wissen- 
schaft überwerteten Realitäten ihre Illusion der reinen 
Erscheinung entgegenstellen. Solche Architektur nähert 
sich als Trägerin eines neuen Biorealismus wieder 
der Natur, denn ihr Wachstum hat viel Verwandtschaft 
mit dem Vegetabilen. 
Das '"relativierende'" Architektur-Ereignis rettet uns 
vielleicht vor dem Gefriertod der blutleeren Kausali- 
tät von strategischen Planungen. Es kann durch seine 
erregende Visualität heilsame Einbrüche in die Uni- 
formität unserer Städtebilder tragen. 
Auf der Suche nach neuen Wertigkeiten im architekto- 
nischen Gestaltungsbereich müssen wir also über die 
Selbstverständlichkeit von praktischen Funktionen vor- 
stossen zu übergeordneten Fiktiv-Funktionen, die eher 
im gefühlsmäßigen des menschlichen Gemütes gründen, 
welches, im Sinne der Romantik gesprochen, ein we- 
sentlicher schöpferischer Urgrund ist .(Gefühle waren 
immer Meilensteine der Entwicklung zur Menschlich- 
keit!). In unserer Zeit, wo viel Emotionales im Men- 
schen verschüttet ist, scheint mir darum eine glaub- 
würdige Aufwertung des Irrationalen in der Gestaltung 
unserer Umwelt ein Gewinn. (Es geht dabei letztlich 
um eine gewisse Zurichtung zum Kosmos!). Dazu ge- 
hört auch die Zeichenhaftigkeit durch Raum, Form, 
Material, Licht, Farbe etc. Das Zeichenhafte in der 
Architektur kann nur flüchtiger Hinweis sein; es kann 
aber auch die ganze Erscheinungsform erfassen. Es 
geht dabei um den Einsatz einer besonderen Macht 
durch Gestaltung, die sich an das Unbewußte wendet 
und geistige Kräfte mobilisieren kann. Sie dienen, 
richtig eingesetzt, zur längst nötigen neuen Ordnung: 
der urbanen Struktur, besonders in Räumen echter 
Öffentlichkeit. Das Architektonische kann zum Werk- 
zeug eines ganzen Orientierungssystemes in der Stadt 
werden. 
Durch visuelle Erlebnisse am architektonisch gestal- 
teten Objekt wird in die Empfindungsmasse des Erle- 
bers eine sogenannte Grunderwartung gesetzt. Was be- 
zweckt wird, ist ein aktives Verhältnis zwischen der 
optischen Realität unserer gestalteten Umwelt und uns 
selbst. Wir arbeiten damit am Aufbau einer Gefühls- 
kultur, die den emotional unterkühlten Menschen etwas 
erwärmen soll. Die Weltsicht einer Gesellschaft ist 
eine koordinierte Einstellung des menschlichen Gei- 
stes, die sorgfältig gewisse dynamische Faktoren beob- 
achtet und berücksichtigt, nämlich unsichtbare Größen, 
überirdische Gesetze und Ideen, die alle in der sinnli- 
chen Welt des Menschen als mächtig, gefährlich oder 
hilfreich erfahren werden können. Ihre konkrete Be- 
rücksichtigung geschieht auch in besonderen Orten der 
architektonischen Umweltsgestaltung. Aus solchen, 
eigentlich praktischen Überlegungen und darin fussen- 
den Beobachtungen entstehen urbane Zeichen, eng ver- 
woben und eingebaut in die haptische Gestaltung der Or- 
te, wo solche Erfahrungen am ehesten zentral lokali- 
siert werden können, nämlich in den städtebaulichen 
"Kristallisationspunkten''. In ihnen betreffen der Kunst- 
ausdruck in der Architektur so gut wie ein Gebet den 
Menschen und ein höchstes Wesen in einem ständigen 
Versuch, das eine mit dem anderen zu vereinen, iden- 
tifizieren und zu einer überblickbaren, erfaßbaren Kon- 
formität zu verschmelzen. Hieraus läßt sich auch die 
heute geforderte "Entsakralisierung' des Kirchenbaus 
im positiven Sinne umdeuten in die viel eher glaubwür- 
dige Entgrenzung des Sakralen in der Stadt. 
Kontaktbereitschaft der Menschen wächst aus einem 
speziellen Anreiz heraus, der seinerseits durch die 
raumschaffende Gestaltung der Orte provoziert wer- 
den kann, wo solche Begegnungen stattfinden. Gemein- 
schaftsfördernde Architektur nimmt den Menschen ber- 
gend auf; sie ist wie ein gemeinsames Kleid; sie unter- 
stützt die lebendige Wechselbeziehung und schafft 
durch Raum und Form ein neues Selbstverständnis ihrer 
Bewohner. 
ARCH + 1(1968)H3
	        

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