tifunktion des rein Künstlerischen. Hier sollte die
Forschung einsetzen. Sie müßte im Rahmen einer re-
gelrechten Erziehungsaufgabe die wesentlichsten
Grundsätzlichkeiten im architektonischen Gestaltungs-
bereich freilegen. So kämen wir zu einer neuen Glaub-
würdigkeit und zu einem neuen Wertverständnis im Ar-
chitektonischen.
Man sollte architektonisches Entwerfen niemals losge-
löst von den integrierenden Bestimmungsfaktoren einer
ganzen Weitsicht beurteilen. Architektur ist immer le-
bendige Beziehungssetzung; es genügt nicht, gute Bei-
spiele vorzuführen und von ihnen fragwürdige Theorien
abzuleiten, wobei die Sublimierung eines geistigen Ex-
traktes aus diesem "Anschauungsunterricht' letztlich
jedem Einzelnen anheim gestellt bleibt. Wir brauchen
heute wieder ein Architekturdenken, das Erkenntnis
will, ein Denken, das um seine Richtung besorgt ist
und nach festen Zielpunkten im Unbegrenzten künst-
lerischen Geschehen sucht. Nur so gelangen wir zum
ersehnten Selbstverständnis von Form und Ausdruck.
Man kann für die Architektur als abstrakteste der bil-
denden Künste "geistige Kategorien'' umschreiben,
wie ich es in meinem Buch '"'Standortbestimmung der
Gegenwartsarchitektur'" versucht habe. Diese Katego-
rien schließen eine Art "Stilfrage" in sich ein. Die
geistige Grundhaltung im architektonischen Schöpfungs
prozess heißt Gestaltungswille; er ist seinerseits das
Sublimat einer Architekturphilosophie. Architektoni-
sches Gestalten polarisiert sich entweder in einem
statischen oder in einem dynamischen Gleichgewicht
der Kräfte. Die Kategorien der entsprechenden wahr-
nehmbaren Auswirkungen ließen sich mit Tektonik und
Atektonik umschreiben. Glaubwürdige Architekturlei-
stungen der Geschichte verdeutlichen in hohem Maße
eines der genannten Gestaltungsprinzipien: daraus re-
sultiert im übrigen ihre "stilbildende'" Kraft, sei sie
nun absolutierend oder relati vierend.
Architekturforschung sollte uns in den Bereich des
ethisch Werivollen, der Eindeutigkeit und der Wahr-
heit tragen. Im baukünstlerischen Schöpfungsprozess
sind dies Faktoren, die zu dem führen, was ich
"Kristallisation" nenne. Das Architektonische muß un-
entbehrlich werden für die Erschließung von Tiefendi-
mensionen in der urbanen Gesamtstruktur des Städte-
baues von Morgen.
In unserer Zeit der Relativierung und Dynamisierung
geht es heute darum, eine atektonische Strukturwelt
zu schaffen, die letztlich vor uns stehen wird als in-
determinativer Organismus ohne Oben und Unten, und
ohne Anfang und Ende. Eine neue Architektur der Frag-
mente und des Überganges stellt sich gegen jede sta-
tische Beharrung; sie kann dem durch unsere Wissen-
schaft überwerteten Realitäten ihre Illusion der reinen
Erscheinung entgegenstellen. Solche Architektur nähert
sich als Trägerin eines neuen Biorealismus wieder
der Natur, denn ihr Wachstum hat viel Verwandtschaft
mit dem Vegetabilen.
Das '"relativierende'" Architektur-Ereignis rettet uns
vielleicht vor dem Gefriertod der blutleeren Kausali-
tät von strategischen Planungen. Es kann durch seine
erregende Visualität heilsame Einbrüche in die Uni-
formität unserer Städtebilder tragen.
Auf der Suche nach neuen Wertigkeiten im architekto-
nischen Gestaltungsbereich müssen wir also über die
Selbstverständlichkeit von praktischen Funktionen vor-
stossen zu übergeordneten Fiktiv-Funktionen, die eher
im gefühlsmäßigen des menschlichen Gemütes gründen,
welches, im Sinne der Romantik gesprochen, ein we-
sentlicher schöpferischer Urgrund ist .(Gefühle waren
immer Meilensteine der Entwicklung zur Menschlich-
keit!). In unserer Zeit, wo viel Emotionales im Men-
schen verschüttet ist, scheint mir darum eine glaub-
würdige Aufwertung des Irrationalen in der Gestaltung
unserer Umwelt ein Gewinn. (Es geht dabei letztlich
um eine gewisse Zurichtung zum Kosmos!). Dazu ge-
hört auch die Zeichenhaftigkeit durch Raum, Form,
Material, Licht, Farbe etc. Das Zeichenhafte in der
Architektur kann nur flüchtiger Hinweis sein; es kann
aber auch die ganze Erscheinungsform erfassen. Es
geht dabei um den Einsatz einer besonderen Macht
durch Gestaltung, die sich an das Unbewußte wendet
und geistige Kräfte mobilisieren kann. Sie dienen,
richtig eingesetzt, zur längst nötigen neuen Ordnung:
der urbanen Struktur, besonders in Räumen echter
Öffentlichkeit. Das Architektonische kann zum Werk-
zeug eines ganzen Orientierungssystemes in der Stadt
werden.
Durch visuelle Erlebnisse am architektonisch gestal-
teten Objekt wird in die Empfindungsmasse des Erle-
bers eine sogenannte Grunderwartung gesetzt. Was be-
zweckt wird, ist ein aktives Verhältnis zwischen der
optischen Realität unserer gestalteten Umwelt und uns
selbst. Wir arbeiten damit am Aufbau einer Gefühls-
kultur, die den emotional unterkühlten Menschen etwas
erwärmen soll. Die Weltsicht einer Gesellschaft ist
eine koordinierte Einstellung des menschlichen Gei-
stes, die sorgfältig gewisse dynamische Faktoren beob-
achtet und berücksichtigt, nämlich unsichtbare Größen,
überirdische Gesetze und Ideen, die alle in der sinnli-
chen Welt des Menschen als mächtig, gefährlich oder
hilfreich erfahren werden können. Ihre konkrete Be-
rücksichtigung geschieht auch in besonderen Orten der
architektonischen Umweltsgestaltung. Aus solchen,
eigentlich praktischen Überlegungen und darin fussen-
den Beobachtungen entstehen urbane Zeichen, eng ver-
woben und eingebaut in die haptische Gestaltung der Or-
te, wo solche Erfahrungen am ehesten zentral lokali-
siert werden können, nämlich in den städtebaulichen
"Kristallisationspunkten''. In ihnen betreffen der Kunst-
ausdruck in der Architektur so gut wie ein Gebet den
Menschen und ein höchstes Wesen in einem ständigen
Versuch, das eine mit dem anderen zu vereinen, iden-
tifizieren und zu einer überblickbaren, erfaßbaren Kon-
formität zu verschmelzen. Hieraus läßt sich auch die
heute geforderte "Entsakralisierung' des Kirchenbaus
im positiven Sinne umdeuten in die viel eher glaubwür-
dige Entgrenzung des Sakralen in der Stadt.
Kontaktbereitschaft der Menschen wächst aus einem
speziellen Anreiz heraus, der seinerseits durch die
raumschaffende Gestaltung der Orte provoziert wer-
den kann, wo solche Begegnungen stattfinden. Gemein-
schaftsfördernde Architektur nimmt den Menschen ber-
gend auf; sie ist wie ein gemeinsames Kleid; sie unter-
stützt die lebendige Wechselbeziehung und schafft
durch Raum und Form ein neues Selbstverständnis ihrer
Bewohner.
ARCH + 1(1968)H3