Andererseits droht die spezifische Aufgabenstellung
architektonischer Tätigkeit aus dem Blickfeld zu ver-
schwinden. Deswegen scheinen mir die Forderungen
nach einer "Untersuchung der semantischen Mittel,
welche die Architektur besitzt'' (Henselmann, L. Burck-
hardt) vielversprechende Ansätze einer Rückbesinnung
des Architektenberufes. Hoffnungslos überholt und ab-
gestanden scheinen mir Formulierungen wie: Architek-
tur ist "Naturgesetz des Lebensfähigen'. Das klingt
nach Restauration des Abendlandes. Die Dichotomie:
"Architektur war Kunst, nicht Wissenschaft - war
Geist, nicht Intellekt' (Finsterlin) ist falsch. Wenn
Architektur künstlerischer Ausdruck sein soll - an
diesem Anspruch hat auch der Rationalist Le Corbusier
festgehalten -, dann ist sie als Kunst ebenso Ausdruck
der Tätigkeit des menschlichen Geistes wie Sprache
und Mathematik. Kunst hat nichts mit Naturschwärme-
rei zu tun, noch ist sie mystische Seinsverbundenheit;
sondern sie ist eine intellektuelle Tätigkeit besonderer
Art (1). Für diese Tätigkeit müssen allerdings die an-
gemessenen Beurteilungsmaßstäbe formuliert werden.
Es ist klar, daß künstlerische Produktionen nicht in
dem Sinne "richtig oder falsch'' sind wie die Lösungen
mathematischer Aufgaben. Dennoch gibt es auch inner-
halb der Kunst Maßstäbe für Stimmigkeit und Abgren-
zungen gegenüber Kitsch. Bislang sind die der Kunst
eigentümlichen Maßstäbe für gelungene Leistung nur
vag und zufällig formuliert worden. Für die Lehre
einer "obiektiven Ästhetik'' (2) fehlt noch die Sprache.
Stattdessen blüht Sprachverwirrung in manchen der 19
Antworten. Wirklich schlimm erscheinen mir die da-
seinsphilosophischen Brocken (umhegen, bergen, Um-
raum), die wie aus der Bahn geworfene Meteoriten in
der klaren Atmosphäre von sach- und geschichtsorien-
tiertem Denken umherschwirren. In einem Beitrag
wird Architektur als das "Kleid einer Gesellschaft
definiert, darüber hinaus aber auch als "gewisse Zu-
richtung zum Kosmos'' verstanden, als etwas zugleich
"kosmologisches und anthropomorphes'' (Dahinden).
Doernach betreibt etwas merkwürdige Verornamen-
tierungen mit der Sprache, die den Text nicht klarer
machen:
"Das Ziel: die Entwicklung einer umfassenden
SOZIOPHYSIKALISCHEN THEORIE
daraus die Entwicklung von Urbansystemen und
autonomen Untersvstemen. !'
Die drucktechnische Aufbereitung solcher statements
verrät eine Manier von Le Corbusier, der sich auch
schon darin gefiel, für knapp formulierte Sätze oder
einzelne Worte ganze Zeilen reservieren zu lassen, um
das damit Ausgedrückte gewichtiger erscheinen zu las-
sen.
Modischer Beliebtheit erfreuen sich Begriffe wie "Sy-
stem", "Programm'', "optimierte Zielvorstellung" und
was sonst aus dem Bereich der Kybernetik und maschi-
nellen Informationsverarbeitung stammt. Glücklicher-
weise wird aber auch vor falscher Mathematisierung
und Scheinpräzision durch Zahlen gewarnt (Claude
Schnaidt, W. Theil). Fragt man sich, welche gesell-
schaftlichen Vorstellungen implizit in den 19 Antworten
enthalten sind, so überwiegt eindeutig der Eindruck ei-
ner technokratisch orientierten Sicht der Gesellschaft,
Die Gesellschaft wird als etwas wahrgenommen, das
durch die Architektur beeinflußt werden kann; insofern
erscheint Gesellschaft als wandelbar. Wenn es aller-
dings heißt, die Stadt sei "Naturgesetzlichkeiten'" un-
terworfen, die "analog der physikalischen Betrachtungs-
weise" festgestellt werden müßten (Dittrich), dann be-
zieht sich "Wandel" nicht auf tiefgreifende Veränderungs-
möglichkeiten der gesellschaftlichen Struktur, sondern
nur auf technologische Verbesserungen vorhandener
Einrichtungen. Die Formen des gesellschaftlichen,
nicht des technologischen Wandels der Städte bleiben
undiskutiert. Die Gesellschaft wird als komplizierter
Funktionszusammenhang begriffen, über dessen Genese
nur bruchstückhaftes Wissen besteht. Es ist selbstver-
ständlich, daß bei den heutigen und früheren Ausbil-
dungsbedingungen ein höheres gesellschaftliches Wis-
sen bei Ingenieuren und Architekten nicht erwartet
werden kann.
Im technokratischen (bürokratischen) Selbstverständ-
nis taucht unvermeidlich auch der Stadtplaner als "Di-
rigent'' im interdisziplinären Corps auf (Leonhardt,
Sage). Die Gefahr im technokratischen Denken liegt
jedoch weniger in der von unbewußten Omnipotenz-
phantasien (Mitscherlich) beherrschten Idealisierung
der eigenen Berufstätigkeit, sondern in der allzu ra-
schen Hinnahme historisch-gesellschaftlicher Phäno-
mene als "Naturgesetzlichkeiten'. So ist es möglich,
daß sich trotz aller Vorstellungen über die '"Machbar-
keit unserer Umwelt" das Theorem der '"Begrenztheit
des Bodens" (Seitz), das ja wesentlich mit den Mecha-
nismen kapitalistischer Bodennutzung und den dazu-
gehörigen Bodenspekulationen verknüpft ist, durchaus
erhält.
Andererseits darf nicht verkannt werden, daß die tech-
nokratische Einstellung zum eigenen Beruf und zur Ge-
sellschaft einen Fortschritt gegenüber mystischen oder
ästhetisierenden Vorstellungen bedeutet, in denen Ar-
chitektur als "externe Organik'' fungieren soll oder den
Charakter von l’art pour 1’art annimmt (als "choreo-
graphische Gestaltung der Funktionen - schreiten und
verweilen'', Bodo Rasch sen.).
Vorläufig behält der Wunsch, der in vielen der 19 Ant-
worten anklingt, daß die Architektur der Zukunft durch
systematische Vorplanungen nicht nur zweckgemäßer,
sondern auch schöner sein soll, etwas Unverbindliches.
Die Verbindung zwischen Architektur und Sozialwissen-
schaft ist nicht so weit fortgeschritten, daß Klarheit
darüber herrscht, welche tiefgreifenden gesellschaft-
lichen Veränderungen stattfinden müssen, damit auch
die Architektur ein neues Gesicht erhalten kann. Die
Hoffnungen, die auf die Schaffung einer neuen Architek-
tur laut werden, verharren im Bereich von Forderun-
gen auf Dinge, die noch zu leisten sind. Wo bleibt die
Kraft der architektonischen Phantasie, Räume und Bil-
der einer neuen Realität zu entwerfen und der Mut, die
aus solchen Entwürfen entstehenden Irrtümer durch
Forschung und Experiment zu korrigieren? Die Ände-
rungen, die in den gesellschaftlichen Institutionen und
ihrer Architektur immer notwendiger werden, sind
ohne Phantasie nicht denkbar. Le Corbusier war ein
ARCH + 1(1968) H.4