Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1968, Jg. 1, H. 1-4)

Andererseits droht die spezifische Aufgabenstellung 
architektonischer Tätigkeit aus dem Blickfeld zu ver- 
schwinden. Deswegen scheinen mir die Forderungen 
nach einer "Untersuchung der semantischen Mittel, 
welche die Architektur besitzt'' (Henselmann, L. Burck- 
hardt) vielversprechende Ansätze einer Rückbesinnung 
des Architektenberufes. Hoffnungslos überholt und ab- 
gestanden scheinen mir Formulierungen wie: Architek- 
tur ist "Naturgesetz des Lebensfähigen'. Das klingt 
nach Restauration des Abendlandes. Die Dichotomie: 
"Architektur war Kunst, nicht Wissenschaft - war 
Geist, nicht Intellekt' (Finsterlin) ist falsch. Wenn 
Architektur künstlerischer Ausdruck sein soll - an 
diesem Anspruch hat auch der Rationalist Le Corbusier 
festgehalten -, dann ist sie als Kunst ebenso Ausdruck 
der Tätigkeit des menschlichen Geistes wie Sprache 
und Mathematik. Kunst hat nichts mit Naturschwärme- 
rei zu tun, noch ist sie mystische Seinsverbundenheit; 
sondern sie ist eine intellektuelle Tätigkeit besonderer 
Art (1). Für diese Tätigkeit müssen allerdings die an- 
gemessenen Beurteilungsmaßstäbe formuliert werden. 
Es ist klar, daß künstlerische Produktionen nicht in 
dem Sinne "richtig oder falsch'' sind wie die Lösungen 
mathematischer Aufgaben. Dennoch gibt es auch inner- 
halb der Kunst Maßstäbe für Stimmigkeit und Abgren- 
zungen gegenüber Kitsch. Bislang sind die der Kunst 
eigentümlichen Maßstäbe für gelungene Leistung nur 
vag und zufällig formuliert worden. Für die Lehre 
einer "obiektiven Ästhetik'' (2) fehlt noch die Sprache. 
Stattdessen blüht Sprachverwirrung in manchen der 19 
Antworten. Wirklich schlimm erscheinen mir die da- 
seinsphilosophischen Brocken (umhegen, bergen, Um- 
raum), die wie aus der Bahn geworfene Meteoriten in 
der klaren Atmosphäre von sach- und geschichtsorien- 
tiertem Denken umherschwirren. In einem Beitrag 
wird Architektur als das "Kleid einer Gesellschaft 
definiert, darüber hinaus aber auch als "gewisse Zu- 
richtung zum Kosmos'' verstanden, als etwas zugleich 
"kosmologisches und anthropomorphes'' (Dahinden). 
Doernach betreibt etwas merkwürdige Verornamen- 
tierungen mit der Sprache, die den Text nicht klarer 
machen: 
"Das Ziel: die Entwicklung einer umfassenden 
SOZIOPHYSIKALISCHEN THEORIE 
daraus die Entwicklung von Urbansystemen und 
autonomen Untersvstemen. !' 
Die drucktechnische Aufbereitung solcher statements 
verrät eine Manier von Le Corbusier, der sich auch 
schon darin gefiel, für knapp formulierte Sätze oder 
einzelne Worte ganze Zeilen reservieren zu lassen, um 
das damit Ausgedrückte gewichtiger erscheinen zu las- 
sen. 
Modischer Beliebtheit erfreuen sich Begriffe wie "Sy- 
stem", "Programm'', "optimierte Zielvorstellung" und 
was sonst aus dem Bereich der Kybernetik und maschi- 
nellen Informationsverarbeitung stammt. Glücklicher- 
weise wird aber auch vor falscher Mathematisierung 
und Scheinpräzision durch Zahlen gewarnt (Claude 
Schnaidt, W. Theil). Fragt man sich, welche gesell- 
schaftlichen Vorstellungen implizit in den 19 Antworten 
enthalten sind, so überwiegt eindeutig der Eindruck ei- 
ner technokratisch orientierten Sicht der Gesellschaft, 
Die Gesellschaft wird als etwas wahrgenommen, das 
durch die Architektur beeinflußt werden kann; insofern 
erscheint Gesellschaft als wandelbar. Wenn es aller- 
dings heißt, die Stadt sei "Naturgesetzlichkeiten'" un- 
terworfen, die "analog der physikalischen Betrachtungs- 
weise" festgestellt werden müßten (Dittrich), dann be- 
zieht sich "Wandel" nicht auf tiefgreifende Veränderungs- 
möglichkeiten der gesellschaftlichen Struktur, sondern 
nur auf technologische Verbesserungen vorhandener 
Einrichtungen. Die Formen des gesellschaftlichen, 
nicht des technologischen Wandels der Städte bleiben 
undiskutiert. Die Gesellschaft wird als komplizierter 
Funktionszusammenhang begriffen, über dessen Genese 
nur bruchstückhaftes Wissen besteht. Es ist selbstver- 
ständlich, daß bei den heutigen und früheren Ausbil- 
dungsbedingungen ein höheres gesellschaftliches Wis- 
sen bei Ingenieuren und Architekten nicht erwartet 
werden kann. 
Im technokratischen (bürokratischen) Selbstverständ- 
nis taucht unvermeidlich auch der Stadtplaner als "Di- 
rigent'' im interdisziplinären Corps auf (Leonhardt, 
Sage). Die Gefahr im technokratischen Denken liegt 
jedoch weniger in der von unbewußten Omnipotenz- 
phantasien (Mitscherlich) beherrschten Idealisierung 
der eigenen Berufstätigkeit, sondern in der allzu ra- 
schen Hinnahme historisch-gesellschaftlicher Phäno- 
mene als "Naturgesetzlichkeiten'. So ist es möglich, 
daß sich trotz aller Vorstellungen über die '"Machbar- 
keit unserer Umwelt" das Theorem der '"Begrenztheit 
des Bodens" (Seitz), das ja wesentlich mit den Mecha- 
nismen kapitalistischer Bodennutzung und den dazu- 
gehörigen Bodenspekulationen verknüpft ist, durchaus 
erhält. 
Andererseits darf nicht verkannt werden, daß die tech- 
nokratische Einstellung zum eigenen Beruf und zur Ge- 
sellschaft einen Fortschritt gegenüber mystischen oder 
ästhetisierenden Vorstellungen bedeutet, in denen Ar- 
chitektur als "externe Organik'' fungieren soll oder den 
Charakter von l’art pour 1’art annimmt (als "choreo- 
graphische Gestaltung der Funktionen - schreiten und 
verweilen'', Bodo Rasch sen.). 
Vorläufig behält der Wunsch, der in vielen der 19 Ant- 
worten anklingt, daß die Architektur der Zukunft durch 
systematische Vorplanungen nicht nur zweckgemäßer, 
sondern auch schöner sein soll, etwas Unverbindliches. 
Die Verbindung zwischen Architektur und Sozialwissen- 
schaft ist nicht so weit fortgeschritten, daß Klarheit 
darüber herrscht, welche tiefgreifenden gesellschaft- 
lichen Veränderungen stattfinden müssen, damit auch 
die Architektur ein neues Gesicht erhalten kann. Die 
Hoffnungen, die auf die Schaffung einer neuen Architek- 
tur laut werden, verharren im Bereich von Forderun- 
gen auf Dinge, die noch zu leisten sind. Wo bleibt die 
Kraft der architektonischen Phantasie, Räume und Bil- 
der einer neuen Realität zu entwerfen und der Mut, die 
aus solchen Entwürfen entstehenden Irrtümer durch 
Forschung und Experiment zu korrigieren? Die Ände- 
rungen, die in den gesellschaftlichen Institutionen und 
ihrer Architektur immer notwendiger werden, sind 
ohne Phantasie nicht denkbar. Le Corbusier war ein 
ARCH + 1(1968) H.4
	        
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