Bauleitung den größten Teil der Zeit beanspruchen
wird, während 9% der Ansicht sind, so sollte es auch
sein. Die Differenz in Prozentpunkten ist ein Maß für
die Erwartungsdiskrepanz.
In der Rangordnung der Präferenzen steht die Entwurfs-
tätigkeit mit 80% der Nennungen eindeutig an erster
Stelle. Hier ist auch die Diskrepanz am stärksten.
Dann folgen Beratung, Bauleitung, Finanzierung und
Behördenverkehr, gleichfalls mit ausgeprägten Unter-
schieden zwischen Realität und Erwartung. Diese Wer-
te liegen weit über den vergleichbaren Daten anderer
Berufe, und deuten auf eine sehr instabile Situation
hin.
Historisch betrachtet besteht dieser Widerspruch schon
seit geraumer Zeit. Umso erstaunlicher ist der Immo-
bilismus in der sozialstrukturellen Verfassung des Be-
rufes. Zwar ist an neuartigen Techniken und Materia-
lien kein Mangel, und Reformulierungen des ästheti-
schen Programms gehören offenbar schon eher zum
Standardrepertoire der Architektur als zu den unvor-
hersehbaren Ereignissen. Die Progressivität mancher
Vorschläge und der Reformeifer, der in den visuellen
wie verbalen Argumenten zum Ausdruck kommt, darf
jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie sich
eben in der Entwurfsdimension der Rolle abspielen,
und sich damit auf der traditionellen Ebene der Prob-
lemlösungsstrategien des Berufs bewegen. Auf die
Herausforderung einer neuartigen Situation antwortet
man wie eh und je mit einem neuen Entwurf.
Über die Qualität von Entwürfen, sei es für Städte oder
Gebäude, und über ihre Einstufung als gut oder schlecht
im Lichte professioneller Maßstäbe steht einem Sozio-
logen kein Urteil zu. Als Problemlösungsverhalten je-
doch ist der inhärente Konservativismus des Entwer-
fens der Lage offenbar nicht angemessen. Er führt
weder zur Auflösung des Dilemmas zwischen Erwar-
tung und Wirklichkeit, noch ist dem - privaten oder
öffentlichen - Auftraggeber letzten Endes damit ge-
dient, und zwar auch dann nicht, wenn dessen eigene
Einsicht nur bis zur Forderung nach Architektur im
herkömmlichen Sinne geht. Bauherren akzeptieren
Vorschläge die ihnen gemacht werden; die Ausarbei-
tung von echten Alternativen ist nicht ihre Sache. Neue
Impulse werden von dieser Seite nicht zu erwarten
sein.
Wie immer bei komplementären Tauschbeziehungen
dürfen die Ursachen für die verfahrene Lage nicht nur
auf der einen Seite gesucht werden, und moralische
Vorwürfe sind vollends fehl am Platz. Das Dilemma
des Architekten ist in der Struktur des Marktes ver-
ankert, aber auch die persönlichen Wünsche des Bau-
herren, seine Forderungen und Erwartungen haben ih-
ren Ursprung sowie den Grund ihrer Unbeweglichkeit
in jenem schwer durchschaubaren Komplex von Be-
ziehungen, den wir uns angewöhnt haben, die Gesell-
schaft zu nennen.
Die Frage, warum die Architekten sich nicht in irgend-
einer Hinsicht von den enttäuschenden Aspekten ihrer
Rolle lösen, stellt sich angesichts der Unveränder-
lichkeit der Gegebenheiten, mit denen sie rechnen
müssen, erneut.
Unter den herrschenden Umständen wäre zu erwarten,
daß zum Beispiel diejenigen, deren Erwartungsdis-
krepanz besonders stark ausgeprägt ist, den Beruf
wechseln. Für eine derartige Tendenz gibt es jedoch
keinerlei Anzeichen. Anpassung im Sinne einer Änderung
der Tätigkeit ist hier sogar am wenigsten zu finden,
und die Identifizierung mit der Rolle ist besonders aus-
geprägt. Vielmehr treten hier psychische Mechanismen
auf, die einer realistischen Analyse nicht standhalten.
So ist etwa der Wunsch, im Ausland zu arbeiten in die-
ser Gruppe besonders ausgeprägt: immerhin genau so
häufig, wie der Wunsch nach Selbständigkeit, nämlich
bei fast der Hälfte aller Fälle. Gleichzeitig erfolgt ei-
ne Überhöhung der Rolle im eigenen Bewußtsein. Auf
die Frage, ob Architekten sich nur verantwortlich für
einen Bau fühlen, oder ob sie verpflichtet seien, 'das
heutige Leben mit formen zu helfen" (2), antworteten
96% der Befragten zustimmend. Das ist ein herausra-
gender Prozentsatz.
Solche Einstellungen können nur zu einer Verfestigung
der Situation beitragen, während es zweifelhaft ist, ob
in einer Atmosphäre des hartnäckigen Ausweichens vor
den Problemen rationales Verhalten und die Einsicht in
die Notwendigkeit von Kritik, Forschung und (nicht-äs-
thetischen) Experimenten gefördert wird.
In mancher Hinsicht zeichnet sich ein sozialer Teufels-
kreis ab, der nicht leicht zu durchbrechen ist. Archi-
tekten entstammen einem überaus homogenen Milieu,
Damit wächst die Chance der Gruppen- und Cliquenbil-
dung bei gleichzeitiger Isolierung von anderen Gruppen.
Eine weitere Folge ist selbstverständlich, daß die exi-
stierenden Überzeugungen, Theorien und Meinungen
noch verstärkt, statt abgebaut werden. Die Wahrschein-
lichkeit, rigoros andersartigen Ansichten zu begegnen,
ist relativ gering. Infolgedessen werden auch vom Aus-
bildungssystem weniger neue Impulse ausgehen, als er-
forderlich wäre, und damit schließt sich der Zirkel.
Auch die nächste Generation wird mit einem Vorrat von
Ideen ausgestattet, die nicht realitätsgerecht sind. Bei
einer Selbstrekrutierungsquote von über 50% entsteht
hier eine Tendenz zur Gruppenhomogenität mit dem Re-
sultat, daß die traditionelle Aufgabendefinition zum Dog-
ma erhoben wird.
Überdies ist das System gegenseitiger Bestätigung von
Überzeugungen noch abgesichert durch den internen
Markt für Entwürfe, den Wettbewerbsmarkt, einer In-
stitution von außerordentlicher Bedeutung. Nach land-
läufiger Vorstellung ist der Architekt jemand, der Bau-
ten plant und die Durchführung der Planung überwacht.
Man gewinnt jedoch den Eindruck, daß Wettbewerbe und
Veröffentlichungen eine Alternative zum ökonomischen
Bereich darstellen, die nicht nur der Zirkulation von
Ideen dient, sondern auch latente Konsequenzen hat.
Man wird hier eine weitere Stabilisierungsinstanz für
traditionelle Verhaltensweisen annehmen dürfen, die
sowohl die Prestigeordnung innerhalb der Gruppe mit-
determiniert, als auch Chancen im externen Markt er-
öffnet. Warum sollten Architekten ernsthaft die zentra-
le Dimension ihrer Rolle in Zweifel ziehen, wenn sie
nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch im inne-
ren System ihrer Gruppe für das, was sie für besonders
wichtig und prinzipiell richtig halten, Belohnungen öko-
nomischer und sozialer Natur empfangen ?
ARCH +# 1(1968) H.4