Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1969, Jg. 2, H. 5-8)

Erziehung zu leisten ist, so muß sie sich auf die durch 
sie reproduzierten Normen, letztlich also auf die Ge- 
sellschaft richten. Wenn Kritik an den didaktischen, 
Methoden einer Lehre zu üben ist, dann muß sie vor 
allem die erzeugten Lernmotivationen prüfen (Leistungs 
prinzip!). 
Einerseits werden im Studierenden Leistungsmotiva- 
tionen erzeugt, die meistens aus den Anforderungen 
der profitorientierten Industriegesellschaft abgeleitet 
werden und deren Gesamtheit, aufgrund des simulta- 
tiven Charakters der Lernsituation, ein Leistungs- 
strukturmodell darstellt, anhand dessen die Einübung 
in erwünschte Verhaltensweisen des Akademikers im 
Berufsleben vollzogen wird. 
Andererseits wird durch Rückgriff auf die oben er- 
wähnten, Vertröstung leistenden Praktiken der schuli 
schen Erziehung, konkret: den Einbau von Klausuren 
und die enggleisige Ausrichtung des Lernstoffes auf 
die Prüfungen, sichergestellt, daß der Student sich mit 
der angebotenen Lehre auseinandersetzt, die meistens 
einen solchen Umfang an Arbeit’ erfordert. daß eine - 
nebenbei als durchaus erwünscht proklamierte - Be- 
schäftigung mit nicht angebotenen, aber studienbezo- 
genen Fragenkomplexen verunmöglicht wird. Es wird 
also eine der Schulsituation mit ihrem Abwürgen di- 
rekter Interessenverwirklichung ähnliche Studiensitua- 
tion erzeugt, was sich mit dem übereinstimmenden 
Prüfungscharakter und Aussprüchen wie folgendem be- 
legen läßt: "Bringen Sie erst einmal das Studium hin- 
ter sich, Sie werden dann schon sehen, wozu es nützt!" 
Interesse 
Bei vielen Studenten sind die beiden angeführten Dis- 
ziplinierungsmaßnahmen ausreichend, die Anpassung 
herbeizuführen. Durch den Anpassungsvorgang selbst 
entziehen sie sich der fortgesetzten Erfahrung der 
Entfremdung, wodurch eine generelle, grundsätzlich 
jeder Indoktrination gegenüber offene, Anpassungs- 
fähigkeit erzielt wird. Wirkt das zeitweilige Entfrem- 
dungserlebnis noch ausreichend auf das Bewußtsein ein. 
sodaß eine zumindest grobsteuernde Beeinflussung des 
Entwicklungsprozesses und dessen Richtung möglich 
wird, so bedeutet die Anpassungsfähigkeit gegenüber 
allen Umwelteinflüssen, vorausgesetzt sie wurden ge- 
mäß der Leistungsstruktur des angesprochenen Indivi- 
diums umformuliert, im eigentlichen Sinne die völlige 
Öffnung für Fremdbestimmung. Die individualpsycho- 
logische Erklärung der außengeleiteten Interessen 
stößt an dem Punkt auf Schwierigkeiten, an dem man 
feststellt, daß es sich bei der Ausbildung von Interessen 
um bewußte Prozesse handelt. Wie ist es möglich, daß 
ein Mensch sich bei "vollem Bewußtsein'' in Handlungs - 
bahnen abdrängen läßt, die seinen ursprünglichen In- 
teressen zuwiderlaufen ? 
"Das Interesse ist ein Motiv, das durch seine bewußt- 
gewordene Bedeutsamkeit und seine emotionale An- 
ziehungskraft wirkt' (Rubinstein). Beide Komponenten, 
die bewußte und emotionale, treten in unterschiedlichen 
"Mengen"-Verhältnissen zueinander auf. Für das 
fremdbestimmte Individium, das die korrigierende 
Wirkung des Entfremdungserlebnisses nicht mehr er- 
fährt, kann gesagt werden, daß eben jene Komponente 
bewußter Interessenartikulation in stark reduziertem 
Maße vorhanden ist. Die Außenleitung wird dadurch 
möglich, daß sich die sie bedingenden Faktoren derar- 
tiger Einwirkungsmittel bedienen, die hauptsächlich 
die Emotionalität ansprechen. Als solche sind alle die- 
jenigen zu betrachten, die sich, unter Rückgriff auf 
die Disziplinierungsmethoden kindheitlicher Erziehung, 
der Androhung oder Anwendung von, mit Unlust be- 
setzten, Verzichtforderungen bedienen. Die Ausübung 
von Zwängen wendet sich also nicht an die bewußten Be 
reiche seelischen Geschehens, sondern wirkt auf die 
Bedürfnisstruktur des Individuums ein, deren Qualitä- 
ten sich in Wünschen und Trieben äugern. Diese, im 
Erziehungsprozess von ihren ursprünglichen Befriedi 
gungsinhalten entleerten Triebenergien werden mit 
fremdorientierten Inhalten (z. B. Erwerb sozialen 
Prestiges) besetzt. Sie entsprechen den mit individuel- 
len Modifikationen formulierten Interessen, die sich 
im Gerichtetsein der Aufmerksamkeit, der Gedanken 
und der Absichten manifestieren. Konkret: die Außen- 
leitung der Bildungsinteressen des Studenten wird da- 
durch ermöglicht, daß der Lehrende das mit dem Auto 
ritätskonflikt besetzte Vaterbild im Lernenden in Er- 
innerung ruft, was zur Folge hat, daß von dessen Seite 
das Erlebnis einer Unlust hervorrufenden Konfliktsi- 
tuation mit dem Lehrenden zu vermeiden versucht wird 
was dem Anpassungsvorgang entspricht. In dem Fall, 
in dem jedoch der Anpassungsvorgang selbst mit Un- 
lust besetzt ist, hilft die Erfahrung von Disziplinierung 
und Vertröstung nach. Durch verschleiert oder offen- 
kundig Interessen einschränkende Motiviationsinhalte 
überwindet der Student auf dem Wege der Rationali- 
sierung ("Nach dem Studium werde ich es denen aber 
beweisen!") die augenblicklich unangenehme Situation 
und entledigt sich damit von der vielleicht oft erkann- 
ten Notwendigkeit, grundlegende Schritte in Richtung 
auf Veränderung der zwangsausübenden Lernsituation 
zu unternehmen. 
Ausflucht in die Rationalität 
Wie jedoch werden die auftretenden Zwänge von den 
Studenten bewältigt, die sich nach erfolgter, oben be- 
schriebener Desillusionierung nicht anpassen und die 
erhobene Leistungsforderung zumindest ihrem Inhalt 
nach nicht erfüllen? Für sie kann gesagt werden, daß 
aufgrund erfahrener Umwelteinflüsse und der Erzie- 
hung (vielleicht eine solche, die man liberal nennt) die 
Motivierungsversuche durch Ausnützung der emotiona- 
len Komponente der Interessenentwicklung durch die 
Lehrpersonen nicht erfolgreich sind. Der Umstand, 
daß die bewußtgewordene Bedeutsamkeit ausschlagge- 
bender für die inhaltliche Bestimmung und Ausrich- 
tung der Interessen ist als deren emotionale Anzie- 
hungskraft, läßt sich wohl auf eine relativ früh einge- 
tretene, eindeutige Strukturierung des Gesamtinteres 
senpotentials nach Umfang und Verteilung der auftre- 
tenden Einzelinteressen erklären. (Ein geringer Struk 
turierungsgrad, d.h. eine amorphe Interessenlage, ist 
ja gerade die günstigste Vorbedingung für den später 
geforderten, erfolgreichen Vollzug der Anpassung.) 
Durch die vorhandene Motivationsstruktur bedingt, 
deren Leistungsfähigkeit gegenüber exogenen Beein- 
flussungen aus der erfahrenen Erziehung und der durch 
sie determinierten, relativ ungebrochenen Befriedi- 
gungsmöglichkeit ursprünglicher Triebenergien resul- 
tiert, sowie durch die - wiederum daraus ableitbare - 
Fähigkeit, Fremdbestimmung abzuwehren, kann die 
ARCH +2 (1969) H. 6
	        

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