Erziehung zu leisten ist, so muß sie sich auf die durch
sie reproduzierten Normen, letztlich also auf die Ge-
sellschaft richten. Wenn Kritik an den didaktischen,
Methoden einer Lehre zu üben ist, dann muß sie vor
allem die erzeugten Lernmotivationen prüfen (Leistungs
prinzip!).
Einerseits werden im Studierenden Leistungsmotiva-
tionen erzeugt, die meistens aus den Anforderungen
der profitorientierten Industriegesellschaft abgeleitet
werden und deren Gesamtheit, aufgrund des simulta-
tiven Charakters der Lernsituation, ein Leistungs-
strukturmodell darstellt, anhand dessen die Einübung
in erwünschte Verhaltensweisen des Akademikers im
Berufsleben vollzogen wird.
Andererseits wird durch Rückgriff auf die oben er-
wähnten, Vertröstung leistenden Praktiken der schuli
schen Erziehung, konkret: den Einbau von Klausuren
und die enggleisige Ausrichtung des Lernstoffes auf
die Prüfungen, sichergestellt, daß der Student sich mit
der angebotenen Lehre auseinandersetzt, die meistens
einen solchen Umfang an Arbeit’ erfordert. daß eine -
nebenbei als durchaus erwünscht proklamierte - Be-
schäftigung mit nicht angebotenen, aber studienbezo-
genen Fragenkomplexen verunmöglicht wird. Es wird
also eine der Schulsituation mit ihrem Abwürgen di-
rekter Interessenverwirklichung ähnliche Studiensitua-
tion erzeugt, was sich mit dem übereinstimmenden
Prüfungscharakter und Aussprüchen wie folgendem be-
legen läßt: "Bringen Sie erst einmal das Studium hin-
ter sich, Sie werden dann schon sehen, wozu es nützt!"
Interesse
Bei vielen Studenten sind die beiden angeführten Dis-
ziplinierungsmaßnahmen ausreichend, die Anpassung
herbeizuführen. Durch den Anpassungsvorgang selbst
entziehen sie sich der fortgesetzten Erfahrung der
Entfremdung, wodurch eine generelle, grundsätzlich
jeder Indoktrination gegenüber offene, Anpassungs-
fähigkeit erzielt wird. Wirkt das zeitweilige Entfrem-
dungserlebnis noch ausreichend auf das Bewußtsein ein.
sodaß eine zumindest grobsteuernde Beeinflussung des
Entwicklungsprozesses und dessen Richtung möglich
wird, so bedeutet die Anpassungsfähigkeit gegenüber
allen Umwelteinflüssen, vorausgesetzt sie wurden ge-
mäß der Leistungsstruktur des angesprochenen Indivi-
diums umformuliert, im eigentlichen Sinne die völlige
Öffnung für Fremdbestimmung. Die individualpsycho-
logische Erklärung der außengeleiteten Interessen
stößt an dem Punkt auf Schwierigkeiten, an dem man
feststellt, daß es sich bei der Ausbildung von Interessen
um bewußte Prozesse handelt. Wie ist es möglich, daß
ein Mensch sich bei "vollem Bewußtsein'' in Handlungs -
bahnen abdrängen läßt, die seinen ursprünglichen In-
teressen zuwiderlaufen ?
"Das Interesse ist ein Motiv, das durch seine bewußt-
gewordene Bedeutsamkeit und seine emotionale An-
ziehungskraft wirkt' (Rubinstein). Beide Komponenten,
die bewußte und emotionale, treten in unterschiedlichen
"Mengen"-Verhältnissen zueinander auf. Für das
fremdbestimmte Individium, das die korrigierende
Wirkung des Entfremdungserlebnisses nicht mehr er-
fährt, kann gesagt werden, daß eben jene Komponente
bewußter Interessenartikulation in stark reduziertem
Maße vorhanden ist. Die Außenleitung wird dadurch
möglich, daß sich die sie bedingenden Faktoren derar-
tiger Einwirkungsmittel bedienen, die hauptsächlich
die Emotionalität ansprechen. Als solche sind alle die-
jenigen zu betrachten, die sich, unter Rückgriff auf
die Disziplinierungsmethoden kindheitlicher Erziehung,
der Androhung oder Anwendung von, mit Unlust be-
setzten, Verzichtforderungen bedienen. Die Ausübung
von Zwängen wendet sich also nicht an die bewußten Be
reiche seelischen Geschehens, sondern wirkt auf die
Bedürfnisstruktur des Individuums ein, deren Qualitä-
ten sich in Wünschen und Trieben äugern. Diese, im
Erziehungsprozess von ihren ursprünglichen Befriedi
gungsinhalten entleerten Triebenergien werden mit
fremdorientierten Inhalten (z. B. Erwerb sozialen
Prestiges) besetzt. Sie entsprechen den mit individuel-
len Modifikationen formulierten Interessen, die sich
im Gerichtetsein der Aufmerksamkeit, der Gedanken
und der Absichten manifestieren. Konkret: die Außen-
leitung der Bildungsinteressen des Studenten wird da-
durch ermöglicht, daß der Lehrende das mit dem Auto
ritätskonflikt besetzte Vaterbild im Lernenden in Er-
innerung ruft, was zur Folge hat, daß von dessen Seite
das Erlebnis einer Unlust hervorrufenden Konfliktsi-
tuation mit dem Lehrenden zu vermeiden versucht wird
was dem Anpassungsvorgang entspricht. In dem Fall,
in dem jedoch der Anpassungsvorgang selbst mit Un-
lust besetzt ist, hilft die Erfahrung von Disziplinierung
und Vertröstung nach. Durch verschleiert oder offen-
kundig Interessen einschränkende Motiviationsinhalte
überwindet der Student auf dem Wege der Rationali-
sierung ("Nach dem Studium werde ich es denen aber
beweisen!") die augenblicklich unangenehme Situation
und entledigt sich damit von der vielleicht oft erkann-
ten Notwendigkeit, grundlegende Schritte in Richtung
auf Veränderung der zwangsausübenden Lernsituation
zu unternehmen.
Ausflucht in die Rationalität
Wie jedoch werden die auftretenden Zwänge von den
Studenten bewältigt, die sich nach erfolgter, oben be-
schriebener Desillusionierung nicht anpassen und die
erhobene Leistungsforderung zumindest ihrem Inhalt
nach nicht erfüllen? Für sie kann gesagt werden, daß
aufgrund erfahrener Umwelteinflüsse und der Erzie-
hung (vielleicht eine solche, die man liberal nennt) die
Motivierungsversuche durch Ausnützung der emotiona-
len Komponente der Interessenentwicklung durch die
Lehrpersonen nicht erfolgreich sind. Der Umstand,
daß die bewußtgewordene Bedeutsamkeit ausschlagge-
bender für die inhaltliche Bestimmung und Ausrich-
tung der Interessen ist als deren emotionale Anzie-
hungskraft, läßt sich wohl auf eine relativ früh einge-
tretene, eindeutige Strukturierung des Gesamtinteres
senpotentials nach Umfang und Verteilung der auftre-
tenden Einzelinteressen erklären. (Ein geringer Struk
turierungsgrad, d.h. eine amorphe Interessenlage, ist
ja gerade die günstigste Vorbedingung für den später
geforderten, erfolgreichen Vollzug der Anpassung.)
Durch die vorhandene Motivationsstruktur bedingt,
deren Leistungsfähigkeit gegenüber exogenen Beein-
flussungen aus der erfahrenen Erziehung und der durch
sie determinierten, relativ ungebrochenen Befriedi-
gungsmöglichkeit ursprünglicher Triebenergien resul-
tiert, sowie durch die - wiederum daraus ableitbare -
Fähigkeit, Fremdbestimmung abzuwehren, kann die
ARCH +2 (1969) H. 6