Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1969, Jg. 2, H. 5-8)

Wahl unter den sich anbietenden Handlungsalternativen 
durch engere Orientierung an den eigenen Bedürfnis- 
sen vollzogen werden. Unter Hinweis auf die einleiten- 
den Überlegungen zur Frage, was rationales Verhal- 
ten ist, kann gesagt werden, daß Interessenverwirkli- 
chung, also Handeln, in dem Maße rational ist, in dem 
deren Bestimmung sich an dem Verlangen nach Befrie- 
digung ursprünglicher Triebe orientieren kann. 
An diesem Punkt jedoch setzt die Entwicklung ein, de- 
ren Ende in der Scheinrationalität zu finden ist, die 
eingangs beschrieben wurde. In der am Studienbeginn 
existentiell empfundenen Unsicherheit über die getrof- 
fene Berufswahl, zusammen mit der verweigerten An- 
vassung, jedoch bei relativ stark ausgeprägiem Ver- 
langen nach rationaler Wahl der Handlungsalternativen 
entwickelt der augenblickliche Trend zur Verwissen- 
schaftlichung der Architektur eine unangemessene 
große Anziehungskraft auf den jungen Studenten. Man- 
gels Sachkenntnis kann die Rationalität der bisher ent- 
wickelten Technologien nicht auf ihre gesellschaftsbe- 
zogene Irrationalität hin geprüft werden. In der Situa- 
tion ständig anwachsenden Leistungsdrucks von außen 
wird eine unkritische Angleichung an technokratische 
Denkformen nur noch wahrscheinlicher. Die Abwehr 
des Anpassungszwanges an die traditionellen Lehrmei- 
nungen und der meist nicht abgebaute, innere Leistungs 
druck bewirken letztlich die fluchtartige Anpassung an 
die, sich zur Ideologie ausweitenden Forderungen 
technologischer Rationalität - an noch subtilere For- 
men der Fremdbestimmung. 
Rationalität als Norm 
Selbst wenn sich das bestehende Gesellschaftssystem 
die Forderung nach "Rationalität" des Denkens und Han- 
delns noch nicht umfassend zu eigen gemacht hat, sodaß 
sie als gesamtgesellschaftlich vertretene Norm gesehen 
werden könnte, ist eine dahingehende Entwicklung be- 
reits jetzt erkennbar. Die Tatsache, daß die politischen 
Entscheidungsträger die seit langem in Entwicklung und 
zum Teil bereits in der Anwendung befindlichen Metho- 
den der Entscheidungs- und Handlungsoptimierung noch 
nicht als notwendig erkannt haben für die Lösung kom- 
plexer Gesellschaftssituationen, muß im Hinblick auf 
die aufziehende Gefahr des Aufbaus einer entsprechen- 
den Norm folgendermaßen interpretiert werden: 
Die überall konstatierbare Divergenz zwischen Erzie- 
hungs- bzw. Ausbildungsnormen und den Normen der 
Berufsrealität und das sich konsequent daraus ergeben- 
de Entfremdungserlebnis.mit dem Resultat der Verun- 
sicherung ist im augenblicklichen Stadium der Gesell- 
schaftsentwicklung ein notwendiges, kalkuliertes Mittel 
der Disziplinierung des Individiums für die Erfüllung 
langfristiger Zielvorstellungen kapitalistischer Interes 
senvertreter. Die Erfahrung der Entfremdung bewirkt 
in diesem Zusammenhang die mehr oder weniger um- 
fassende Aufhebung bzw. inhaltliche Neubesetzung von 
unbrauchbaren, durch Perfektionierung der Konsumge- 
sellschaft überalterten Normen, die dem Kleinkind ver 
mittelt wurden. Dieser Vorgang wird als Entsublimie- 
rung bezeichnet. 
"Das Ergebnis der Entsublimierung ist ein Absterben 
der geistigen Organe, die Widersprüche und Alternati 
ven zu erfassen, und in der verbleibenden Dimension 
der technologischen Rationalität gelangt das "Glückliche 
Bewußtsein'' zur Vorherrschaft. Es reflektiert den 
Glauben, daß das Wirkliche vernünftig sei'' (Marcuse). 
Schlußbemerkung 
Spätestens an dieser Stelle müßte eine politische Dis- 
kussion einsetzen, d.h. eine Auseinandersetzung, die 
sich nicht auf der Ebene akademisch-geistiger Ritter- 
spiele bewegt, sondern die in unmittelbarer Nähe zum 
Praxisbereich geführt wird und deshalb. Chance und ein- 
setzbare Mittel der Umgestaltung der analysierten Si- 
tuation in Richtung auf einen anzustrebenden Zielbereich 
erörtert. 
Für den Autor war das Schreiben dieses Artikels und 
die damit einhergehende Klärung der behandelten Prob- 
leme eine in seiner Tendenz politische Aktion. In ihr 
dokumentiert sich der Versuch, die selbst empfundene 
Entfremdung und die mit ihr verbundene Isolierung zu 
überwinden mit dem Ziel, die eigene Sprachlosigkeit 
gegenüber der Starrheit der angetroffenen Verhältnisse 
aufzuheben, letztlich den Begriff und die Möglichkeit 
der gesellschaftlichen Veränderung zu klären. Jedoch 
unterliegt das für diese Aktion gewählte Medium sehr 
starkem Zweifel bezüglich seines Wirkungsgrades, 
weswegen das Schreiben dieses Artikels grundsätzlich 
als Experiment begriffen wurde. Zugeständnisse und 
Provokationen an die Erwartung des Lesers sind ge- 
macht worden, die auf ihre Auswirkungen hin unter- 
sucht werden sollen. Die Fragen bleiben jedoch vor- 
erst bestehen: 
- Kann das Artikelschreiben Theorievermittlung 
leisten, und in welchem Maße gegenüber anderen 
Formen der Kommunikation wie Vortrag, Semi- 
nar, Teach-in, Diskussion? 
Unter welchen Bedingungen kann Geschriebenes 
einen damit erhobenen Anspruch, politische Ver- 
änderung zu initiieren, erfüllen? 
Der vorläufig nächste politische, also die Öffentlich- 
keit suchende Schritt wird dem Leser übertragen: zu 
antworten. 
Literatur 
Thomae (Hrsg.), Die Motivation menschlichen Handelns. 
Köln/Berlin 1968 (4. Aufl. ) 
Habermas, Technik und Wissenschaft als "Ideologie" 
Frankfurt 1968 
Marcuse, Der eindimensionale Mensch. 
Neuwied/Berlin 1967 (2. Aufl.) 
Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 
Frankfurt 1964 (2. Aufl. ) 
Freud, Abriß der Psychoanalyse. 
Frankfurt 1965 (12. Aufl.) 
Reich, Die Funktion des Orgasmus (Zur Psychopnatho- 
logie und Soziologie des Geschlechtslebens). 
Habermas (Hrsg.), Antworten auf Herbert Marcuse. 
Frankfurt 1968 (3. Aufl.) 
Hofmann, Universität, Ideologie, Gesellschaft (Bei- 
träge zur Wissenschaftssoziologie). Frankfurt 1968 
Leibfried, Wider die Untertanenfabrik (Handbuch zur 
Demokratisierung der Hochschule). Köln 1967 
Haseloff, Schicksalsideologie und Entscheidungsplanung. 
in: Jungk-Mundt, Deutschland ohne Konzeption. 
München 1964 
ARCH +2 (1969) H. 6
	        

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