Wahl unter den sich anbietenden Handlungsalternativen
durch engere Orientierung an den eigenen Bedürfnis-
sen vollzogen werden. Unter Hinweis auf die einleiten-
den Überlegungen zur Frage, was rationales Verhal-
ten ist, kann gesagt werden, daß Interessenverwirkli-
chung, also Handeln, in dem Maße rational ist, in dem
deren Bestimmung sich an dem Verlangen nach Befrie-
digung ursprünglicher Triebe orientieren kann.
An diesem Punkt jedoch setzt die Entwicklung ein, de-
ren Ende in der Scheinrationalität zu finden ist, die
eingangs beschrieben wurde. In der am Studienbeginn
existentiell empfundenen Unsicherheit über die getrof-
fene Berufswahl, zusammen mit der verweigerten An-
vassung, jedoch bei relativ stark ausgeprägiem Ver-
langen nach rationaler Wahl der Handlungsalternativen
entwickelt der augenblickliche Trend zur Verwissen-
schaftlichung der Architektur eine unangemessene
große Anziehungskraft auf den jungen Studenten. Man-
gels Sachkenntnis kann die Rationalität der bisher ent-
wickelten Technologien nicht auf ihre gesellschaftsbe-
zogene Irrationalität hin geprüft werden. In der Situa-
tion ständig anwachsenden Leistungsdrucks von außen
wird eine unkritische Angleichung an technokratische
Denkformen nur noch wahrscheinlicher. Die Abwehr
des Anpassungszwanges an die traditionellen Lehrmei-
nungen und der meist nicht abgebaute, innere Leistungs
druck bewirken letztlich die fluchtartige Anpassung an
die, sich zur Ideologie ausweitenden Forderungen
technologischer Rationalität - an noch subtilere For-
men der Fremdbestimmung.
Rationalität als Norm
Selbst wenn sich das bestehende Gesellschaftssystem
die Forderung nach "Rationalität" des Denkens und Han-
delns noch nicht umfassend zu eigen gemacht hat, sodaß
sie als gesamtgesellschaftlich vertretene Norm gesehen
werden könnte, ist eine dahingehende Entwicklung be-
reits jetzt erkennbar. Die Tatsache, daß die politischen
Entscheidungsträger die seit langem in Entwicklung und
zum Teil bereits in der Anwendung befindlichen Metho-
den der Entscheidungs- und Handlungsoptimierung noch
nicht als notwendig erkannt haben für die Lösung kom-
plexer Gesellschaftssituationen, muß im Hinblick auf
die aufziehende Gefahr des Aufbaus einer entsprechen-
den Norm folgendermaßen interpretiert werden:
Die überall konstatierbare Divergenz zwischen Erzie-
hungs- bzw. Ausbildungsnormen und den Normen der
Berufsrealität und das sich konsequent daraus ergeben-
de Entfremdungserlebnis.mit dem Resultat der Verun-
sicherung ist im augenblicklichen Stadium der Gesell-
schaftsentwicklung ein notwendiges, kalkuliertes Mittel
der Disziplinierung des Individiums für die Erfüllung
langfristiger Zielvorstellungen kapitalistischer Interes
senvertreter. Die Erfahrung der Entfremdung bewirkt
in diesem Zusammenhang die mehr oder weniger um-
fassende Aufhebung bzw. inhaltliche Neubesetzung von
unbrauchbaren, durch Perfektionierung der Konsumge-
sellschaft überalterten Normen, die dem Kleinkind ver
mittelt wurden. Dieser Vorgang wird als Entsublimie-
rung bezeichnet.
"Das Ergebnis der Entsublimierung ist ein Absterben
der geistigen Organe, die Widersprüche und Alternati
ven zu erfassen, und in der verbleibenden Dimension
der technologischen Rationalität gelangt das "Glückliche
Bewußtsein'' zur Vorherrschaft. Es reflektiert den
Glauben, daß das Wirkliche vernünftig sei'' (Marcuse).
Schlußbemerkung
Spätestens an dieser Stelle müßte eine politische Dis-
kussion einsetzen, d.h. eine Auseinandersetzung, die
sich nicht auf der Ebene akademisch-geistiger Ritter-
spiele bewegt, sondern die in unmittelbarer Nähe zum
Praxisbereich geführt wird und deshalb. Chance und ein-
setzbare Mittel der Umgestaltung der analysierten Si-
tuation in Richtung auf einen anzustrebenden Zielbereich
erörtert.
Für den Autor war das Schreiben dieses Artikels und
die damit einhergehende Klärung der behandelten Prob-
leme eine in seiner Tendenz politische Aktion. In ihr
dokumentiert sich der Versuch, die selbst empfundene
Entfremdung und die mit ihr verbundene Isolierung zu
überwinden mit dem Ziel, die eigene Sprachlosigkeit
gegenüber der Starrheit der angetroffenen Verhältnisse
aufzuheben, letztlich den Begriff und die Möglichkeit
der gesellschaftlichen Veränderung zu klären. Jedoch
unterliegt das für diese Aktion gewählte Medium sehr
starkem Zweifel bezüglich seines Wirkungsgrades,
weswegen das Schreiben dieses Artikels grundsätzlich
als Experiment begriffen wurde. Zugeständnisse und
Provokationen an die Erwartung des Lesers sind ge-
macht worden, die auf ihre Auswirkungen hin unter-
sucht werden sollen. Die Fragen bleiben jedoch vor-
erst bestehen:
- Kann das Artikelschreiben Theorievermittlung
leisten, und in welchem Maße gegenüber anderen
Formen der Kommunikation wie Vortrag, Semi-
nar, Teach-in, Diskussion?
Unter welchen Bedingungen kann Geschriebenes
einen damit erhobenen Anspruch, politische Ver-
änderung zu initiieren, erfüllen?
Der vorläufig nächste politische, also die Öffentlich-
keit suchende Schritt wird dem Leser übertragen: zu
antworten.
Literatur
Thomae (Hrsg.), Die Motivation menschlichen Handelns.
Köln/Berlin 1968 (4. Aufl. )
Habermas, Technik und Wissenschaft als "Ideologie"
Frankfurt 1968
Marcuse, Der eindimensionale Mensch.
Neuwied/Berlin 1967 (2. Aufl.)
Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie.
Frankfurt 1964 (2. Aufl. )
Freud, Abriß der Psychoanalyse.
Frankfurt 1965 (12. Aufl.)
Reich, Die Funktion des Orgasmus (Zur Psychopnatho-
logie und Soziologie des Geschlechtslebens).
Habermas (Hrsg.), Antworten auf Herbert Marcuse.
Frankfurt 1968 (3. Aufl.)
Hofmann, Universität, Ideologie, Gesellschaft (Bei-
träge zur Wissenschaftssoziologie). Frankfurt 1968
Leibfried, Wider die Untertanenfabrik (Handbuch zur
Demokratisierung der Hochschule). Köln 1967
Haseloff, Schicksalsideologie und Entscheidungsplanung.
in: Jungk-Mundt, Deutschland ohne Konzeption.
München 1964
ARCH +2 (1969) H. 6