Gewisse kunsttheoretische Begriffe, auch solche, die der
Architekt benutzt; haben nicht nur eine Bedeutung, ihre
Verwendung beinhaltet auch ein Risiko. Seinen Grund
hat dies in der angedeuteten Abhängigkeit der Kunsttheo-
rie von der künstlerischen Praxis. Der biegsame Stellen-
wert solcher Begriffe ist nur dem klar, der beides über-
blickt.
Die aufgestellte These war, daß sich die Interessen des
Architekten dann mit den Interessen des Faches Kunstge-
schichte berühren, wenn der Funktionalismus als zwar
historisch begründetes, aber die Bedürfnislage des heuti-
gen Menschen ignorierendes Prinzip verlassen und im
Gegenzug Architektur als symbolbildende Tätigkeit be-
griffen wird.
Aus den dargelegten Interessengleichheiten läßt sich
folgende, sicher unvollständige Liste mit Vorschlägen für
ein Arbeitsprogramm Kunstgeschichte ableiten:
1. Symbolische Transformation in der Bildenden Kunst
Konstitutionsmodelle aus verschiedenen Epochen (z.B.
Reliquar, Portal, Altar, Portrait, Grabmal, Deckenge-
mälde, Reiterstandbild, Empire-Innenraum, Jugendstil-
buchillustration, Environment).
2. Symbolsysteme
Gesichtspunkte: Gestaltungsaufgaben, Reichweite des
Systems, Organisationsformen, Symbolsystem und indi-
vidueller Stil etc.
3. Gattungssystematik
Gesichtspunkte: Abhängigkeiten untereinander, Rück-
ständigkeit einzelner Gattungen, geschichtliche Linien,
Ursachen etc.
4. Ornamentik
Ornament-Theorie und Praxis im 19. Jahrhundert.
5. Symbolsystem - Hintergrund
Gesichtspunkte: Welche Ideen, Existenzialien, welcher
Gruppen, welche sonstige Kommunikation, Kunst-Räume
etc.
6. Aktuelle Bildende Kunst
Das Raumproblem in der Kunst des 20. Jahrh. und im
wissenschaftlichen Schrifttum.
7. Wandlungen des Architektenbegriffes
Kunsthistorische Aspekte.
8. Kunstgeschichtliche Begriffe
9. Qualitätproblem
In Architektur und bildender Kunst. Analyse von Urteils-
schwankungen in der Literatur, Kitsch (anhand der Samm-
lung des Landesmuseums Stuttgart), heutige Qualitäts-
Instanzen.
10. Hermeneutik
Hermeneutische Theorie (Dilthey, Gadamer, Sartre,
Habermas), Interpretationsbeispiele, Thematik der Kunst
im 20. Jahrhundert
11. Heutige visuelle Kommunikation
Sozialpsychologische Grundlagen, "Visuelle Netze":
Gestaltung der Olympischen Spiele 1972, Wahlkampf
1969, Systemwerbung.
&
HPC Weidner
BAUGESCHICHTE, EINE ARCHITEKTURWISSENSCHAFT-
LICHE DISZIPLIN
Unsere dingliche Umwelt besteht, soweit sie nicht natür-
lich ist, aus Artefakten, also künstlichen Gegenständen.
Dabei gibt es eine Klassifizierung von Gegenständen, die
nur Gebrauchswert haben, bis hin zu solchen, die gar
keinen Gebrauchswert haben, die wir nur ’ob ihrer
Schönheit bewundern’ , den Kunstgegenständen. Archi-
tekturobjekte werden normalerweise als Kunstobiekte be-
handelt.
Aus der Kunstgeschichte kennen wir die Einteilung dieser
Kunstobjekte in Malerei, Plastik, Kunstgewerbe und
Architektur. Man könnte daraus den Schluß ziehen, Ar-
chitekturgeschichte = Baugeschichte sei Teil der kunst-
historischen Disziplin, wie Malereigeschichte usw.
Kunstgeschichte umfaßt jedoch nur einen Teil des größe-
ren Bereiches der Kunstwissenschaften, zu denen Ikono-
graphie und Ikonologie genauso gerechnet werden müssen,
wie Kunsttheorie oder Ästhetik. Zum anderen hängt
Kunstgeschichte wiederum stark mit den allgemeinen Ge-
schichtswissenschaften oder auch mit der Archäologie zu-
sammen. Im einen Falle leitet sich die Zugehörigkeit vom
gemeinsamen Objekt, dem Kunstwerk, ab, im anderen
von der gemeinsamen Methodik.
Die Zuordnung von Architekturgeschichte und Kunstge-
schichte geschieht bis heute nicht nur aus einer Überein=
stimmung in der historischen Methodik, sondern auch aus
der Vorstellung heraus, Architektur sei gleichermaßen
Kunst, wie Malerei, Bildhauerei usw.
Abgesehen davon, _daß diese objektgebundene Definition
des Begriffes Kunst mehr und mehr fragwürdig wird, ver-
stehen wir vielleicht gerade durch diese Vereinfachung,
warum die Kunstgeschichte sich mit der Kathedrale, dem
Schloß, kurz gesagt mit Baukunst beschäftigt. Technolo-
gische und funktionale Aspekte werden nur am Rande be-
handelt und die Untersuchung ’ einfacher’ Bauten wie
Bürger- oder Bauernhaus Dilletanten und Heimatforschern
überlassen.
Der Architekt des 19. Jahrhunderts verstand sich als Künst-
ler, und nicht zuletzt daraus erklärt sich das Kunst-volle
Bauen dieser Zeit. Kunst (das waren die historischen Stile,
das waren auch die neuen Formen des Jugendstils) wurde
als Gerüst für die Erfüllung funktionaler Forderungen ver-
wandt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts schließlich kam es
zu dem bekannten radikalen Bruch mit dem vorgegebenen
Formenkanon und damit zu dem Bruch mit der Baugeschich-
te im Sinne einer Stilgeschichte.
Widersetzen wir uns einmal der Vorstellung, daß archi-
tektonisches Tun ein künstlerisches sei (eine Gleichset-
zung, die wohl vor allem den Kunst- und Architekturtheo-
retikern seit der Renaissance zu verdanken ist), so müssen
wir von der Vorstellung ausgehen, daß Architektur ein
Gebrauchsgegenstand sei. In diesem Falle wird die Not-
wendigkeit einer eigenständigen architekturhistorischen
Disziplin neben der kunsthistorischen verständlich, denn
es gibt noch keine allgemeine Umweltgeschichte, die sich
solcher Nicht-Kunst-Objekte annehmen könnte. Leider
hat diese Baugeschichte, wie sie an den Technischen
Hochschulen seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts tat-
sächlich existiert, sich noch kaum von ihrer (historisch
ARCH+ 2 (1969) H.8