Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1969, Jg. 2, H. 5-8)

Gewisse kunsttheoretische Begriffe, auch solche, die der 
Architekt benutzt; haben nicht nur eine Bedeutung, ihre 
Verwendung beinhaltet auch ein Risiko. Seinen Grund 
hat dies in der angedeuteten Abhängigkeit der Kunsttheo- 
rie von der künstlerischen Praxis. Der biegsame Stellen- 
wert solcher Begriffe ist nur dem klar, der beides über- 
blickt. 
Die aufgestellte These war, daß sich die Interessen des 
Architekten dann mit den Interessen des Faches Kunstge- 
schichte berühren, wenn der Funktionalismus als zwar 
historisch begründetes, aber die Bedürfnislage des heuti- 
gen Menschen ignorierendes Prinzip verlassen und im 
Gegenzug Architektur als symbolbildende Tätigkeit be- 
griffen wird. 
Aus den dargelegten Interessengleichheiten läßt sich 
folgende, sicher unvollständige Liste mit Vorschlägen für 
ein Arbeitsprogramm Kunstgeschichte ableiten: 
1. Symbolische Transformation in der Bildenden Kunst 
Konstitutionsmodelle aus verschiedenen Epochen (z.B. 
Reliquar, Portal, Altar, Portrait, Grabmal, Deckenge- 
mälde, Reiterstandbild, Empire-Innenraum, Jugendstil- 
buchillustration, Environment). 
2. Symbolsysteme 
Gesichtspunkte: Gestaltungsaufgaben, Reichweite des 
Systems, Organisationsformen, Symbolsystem und indi- 
vidueller Stil etc. 
3. Gattungssystematik 
Gesichtspunkte: Abhängigkeiten untereinander, Rück- 
ständigkeit einzelner Gattungen, geschichtliche Linien, 
Ursachen etc. 
4. Ornamentik 
Ornament-Theorie und Praxis im 19. Jahrhundert. 
5. Symbolsystem - Hintergrund 
Gesichtspunkte: Welche Ideen, Existenzialien, welcher 
Gruppen, welche sonstige Kommunikation, Kunst-Räume 
etc. 
6. Aktuelle Bildende Kunst 
Das Raumproblem in der Kunst des 20. Jahrh. und im 
wissenschaftlichen Schrifttum. 
7. Wandlungen des Architektenbegriffes 
Kunsthistorische Aspekte. 
8. Kunstgeschichtliche Begriffe 
9. Qualitätproblem 
In Architektur und bildender Kunst. Analyse von Urteils- 
schwankungen in der Literatur, Kitsch (anhand der Samm- 
lung des Landesmuseums Stuttgart), heutige Qualitäts- 
Instanzen. 
10. Hermeneutik 
Hermeneutische Theorie (Dilthey, Gadamer, Sartre, 
Habermas), Interpretationsbeispiele, Thematik der Kunst 
im 20. Jahrhundert 
11. Heutige visuelle Kommunikation 
Sozialpsychologische Grundlagen, "Visuelle Netze": 
Gestaltung der Olympischen Spiele 1972, Wahlkampf 
1969, Systemwerbung. 
& 
HPC Weidner 
BAUGESCHICHTE, EINE ARCHITEKTURWISSENSCHAFT- 
LICHE DISZIPLIN 
Unsere dingliche Umwelt besteht, soweit sie nicht natür- 
lich ist, aus Artefakten, also künstlichen Gegenständen. 
Dabei gibt es eine Klassifizierung von Gegenständen, die 
nur Gebrauchswert haben, bis hin zu solchen, die gar 
keinen Gebrauchswert haben, die wir nur ’ob ihrer 
Schönheit bewundern’ , den Kunstgegenständen. Archi- 
tekturobjekte werden normalerweise als Kunstobiekte be- 
handelt. 
Aus der Kunstgeschichte kennen wir die Einteilung dieser 
Kunstobjekte in Malerei, Plastik, Kunstgewerbe und 
Architektur. Man könnte daraus den Schluß ziehen, Ar- 
chitekturgeschichte = Baugeschichte sei Teil der kunst- 
historischen Disziplin, wie Malereigeschichte usw. 
Kunstgeschichte umfaßt jedoch nur einen Teil des größe- 
ren Bereiches der Kunstwissenschaften, zu denen Ikono- 
graphie und Ikonologie genauso gerechnet werden müssen, 
wie Kunsttheorie oder Ästhetik. Zum anderen hängt 
Kunstgeschichte wiederum stark mit den allgemeinen Ge- 
schichtswissenschaften oder auch mit der Archäologie zu- 
sammen. Im einen Falle leitet sich die Zugehörigkeit vom 
gemeinsamen Objekt, dem Kunstwerk, ab, im anderen 
von der gemeinsamen Methodik. 
Die Zuordnung von Architekturgeschichte und Kunstge- 
schichte geschieht bis heute nicht nur aus einer Überein= 
stimmung in der historischen Methodik, sondern auch aus 
der Vorstellung heraus, Architektur sei gleichermaßen 
Kunst, wie Malerei, Bildhauerei usw. 
Abgesehen davon, _daß diese objektgebundene Definition 
des Begriffes Kunst mehr und mehr fragwürdig wird, ver- 
stehen wir vielleicht gerade durch diese Vereinfachung, 
warum die Kunstgeschichte sich mit der Kathedrale, dem 
Schloß, kurz gesagt mit Baukunst beschäftigt. Technolo- 
gische und funktionale Aspekte werden nur am Rande be- 
handelt und die Untersuchung ’ einfacher’ Bauten wie 
Bürger- oder Bauernhaus Dilletanten und Heimatforschern 
überlassen. 
Der Architekt des 19. Jahrhunderts verstand sich als Künst- 
ler, und nicht zuletzt daraus erklärt sich das Kunst-volle 
Bauen dieser Zeit. Kunst (das waren die historischen Stile, 
das waren auch die neuen Formen des Jugendstils) wurde 
als Gerüst für die Erfüllung funktionaler Forderungen ver- 
wandt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts schließlich kam es 
zu dem bekannten radikalen Bruch mit dem vorgegebenen 
Formenkanon und damit zu dem Bruch mit der Baugeschich- 
te im Sinne einer Stilgeschichte. 
Widersetzen wir uns einmal der Vorstellung, daß archi- 
tektonisches Tun ein künstlerisches sei (eine Gleichset- 
zung, die wohl vor allem den Kunst- und Architekturtheo- 
retikern seit der Renaissance zu verdanken ist), so müssen 
wir von der Vorstellung ausgehen, daß Architektur ein 
Gebrauchsgegenstand sei. In diesem Falle wird die Not- 
wendigkeit einer eigenständigen architekturhistorischen 
Disziplin neben der kunsthistorischen verständlich, denn 
es gibt noch keine allgemeine Umweltgeschichte, die sich 
solcher Nicht-Kunst-Objekte annehmen könnte. Leider 
hat diese Baugeschichte, wie sie an den Technischen 
Hochschulen seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts tat- 
sächlich existiert, sich noch kaum von ihrer (historisch 
ARCH+ 2 (1969) H.8
	        

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.