Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1970, Jg. 3, H. 9-11)

Ein Haus hat eine ungefähre Lebensdauer von 80 Jahren. 
Die Mieten, die der Hausbesitzer Monat für Monat er- 
hält, sind so ertragreich, daß durch sie - wenn man 
sie zusammenzählt - der Neubauwert des Hauses nach 
20 Jahren bezahlt ist: nach zwanzig Jah- 
ren haben die Mieter durch ihre 
Mieten das Haus, in dem sie 
wohnen, restlos bezahlt. Eigentlich 
müßte von nun an die Miete wegfallen, bis auf einen 
kleinen Rest, der für die laufende Instandhaltung des 
Hauses notwendig ist. Das macht etwa 10,00 DM pro 
Haushalt im Monat. Der Hausbesitzer erhält aber für 
die restlichen 60 Jahre, während der er sein Haus 
noch vermieten kann, weiterhin die alte, hohe Miete. 
Er erhält so hohe Mieten, daß er alle 20 Jahre den 
Gegenwert eines neuen Hauses besitzt. Der Mieter 
hat also in Wirklichkeit durch seine ständigen Miet- 
zahlungen dem Hauseigentümer vier 
Häuser abbezahlt. 
Das ist die übliche Praxis in Berlin: nicht, damit 
Menschen darin wohnen können, werden Häuser gebaut, 
sondern deshalb, weil damit sehr leicht Geld zu ver- 
dienen ist, ohne daß dafür gearbeitet werden muß. Die 
Hausbesitzer wissen nur zu genau, daß die Werktätigen 
alle notwendig Wohnungen brauchen, um durch ihre 
Arbeit Geld verdienen und so am Leben bleiben zu 
können. Die Hausbesitzer nutzen diese Not der Bevöl- 
kerung aus, indem sie hohe Mieten verlangen, die 
durch nichts gerechtfertigt sind. Die Hausbesitzer set- 
zen ihre eigenen Interessen durch, indem sie laufend 
gegen die Interessen der Mieter handeln. 
Nun könnte man einwenden, daß von den Hausbesitzern 
nicht zu erwarten sei, ihre eigenen Interessen zu ver- 
gessen und großzügig auf ihre Gewinne zu verzichten. 
Tatsächlich stehen sich hier zwei Interessengruppen 
feindlich gegenüber: 
auf der einen Seite die Hausbesitzer und Vermieter, 
auf der anderen Seite die Mieter. Da der Konflikt 
zwischen Mieter und Vermieter sich in der Stadt 
entwickelt, muß sich auch das Stadtparlament damit 
beschäftigen und eine Lösung finden. Die Lösung 
muß natürlich der Allgemeinheit nützen, 
d.h. dem überwiegenden Teil der Bevölkerung, denn 
durch diese ist ja das Parlament gewählt. Wenn in Ber- 
lin demokratische Verhältnisse herrschen, kann das für 
den Berliner Senat nichts anderes bedeuten, als in den 
Konflikt zwischen Mieter und Vermieter so einzugreifen. 
daß sich die Interessen der Mieter gegen die der Ver- 
mieter durchsetzen lassen. Die Vertretung 
der Berliner Bevölkerung - der 
Senat - ist verpflichtet , das Wohn- 
problem den Interessen der Bevölke 
rung gemäß zu lösen. Schließlich be- 
kommt der Senat von den Einwohnern Jahr für Jahr 
Steuergelder, die er für sie an ihrer Stelle 
nutzen soll. Die Werktätigen Berlins stellen mit ihren 
Steuerzahlungen laufend Mittel zur Verfügung, die 
zum Bau billiger Wohnungen benutzt werden können. 
Und der Senat behauptet, das auch zu tun: hier in 
Schöneberg z.B. kauft er den Besitzern ihre Häuser 
ab und schenkt sie der "gemeinnützigen" Wohnungs- 
baugesellschaft NEUE HEIMAT. Diese ist nämlich, 
weil sie eine gewerkschaftseigene Gesellschaft ist, 
nicht auf den Gewinn aus der Miete angewiesen, 
kann demnach die Miete drastisch senken. Darüber 
hinaus bezahlt der Senat der NEUEN HEIMAT mit 
Steuergeldern auch noch fast die Hälfte der Neubau- 
bzw. Renovierungskosten. Mit anderen Worten: der 
Senat stellt der NEUEN HEIMAT das Geld der Bevöl- 
kerung zur Verfügung, damit die Wohnungsmieten 
endlich billiger werden. 
Das wenigstens glauben der Senat und die NEUE 
HEIMAT der Bevölkerung erzählen zu können. Und 
wie sieht die Wirklichkeit aus? 
1. Der Senat kauft den Hausbesitzern in Schöneberg 
alle die alten Häuser ab, deren Wert durch Miet- 
zahlungen doppelt und dreifach beglichen ist. Der 
Senat schenkt also den Hausbesitzern Steuergelder, 
denn eigentlich müßte er die Häuser, die längst ab- 
bezahlt sind, umsonst bekommen. 
2. Die NEUE HEIMAT erhält von der Bevölkerung 
- über den Senat - eine Reihe wertvoller Geschen- 
ke: der Senat schenkt ihr die gekauften Häuser und 
die Hälfte des Geldes, was zur Sanierung notwendig 
ist. Für solche Großzügigkeit, mit der der Senat die 
Gelder der Einwohner verschenkt, bedankt sich die 
NEUE HEIMAT, indem sie nach der Sanierung 
die Mieten drastisch erhöht. 
Und die Berliner Bevölkerung? 
Sie wird doppelt betrogen: 
Die Einwohner zahlen als Arbeiter Steuern, 
die einfach verschleudert werden, als Mieter 
bezahlen sie Wohnungspreise, die an Wucher grenzen. 
Wo die Miete in Schöneberg vor der Sanierung durch 
die NEUE HEIMAT 100.00 DM betrug, wird sie 
hinterher 300.00 DM betragen, d.h. die Miete wird 
um ca. 200 % steigen. Und eine solche Wohnbau- 
politik hat die Bevölkerung auch noch durch ihre 
Steuerabgaben unterstützt. Obwohl sie doch wahrlich, 
da sie den gesamten Reichtum der Stadt durch ihre 
Arbeit schafft, das Recht hätte, daraus auch Nutzen 
zu ziehen. 
Ein Senat, der tatsächlich die Interessen der 
gesamten Bevölkerung vertritt, wird anders vor- 
gehen: Er wird die Wohnungen der Privatwirtschaft 
entziehen und die Gelder der Einwohner - die Steuern- 
dazu benutzen, die Wohnungen als Gemein- 
schaftseigentum der Bevölkerung 
kostenlos zur Verfügung zu stellen. 
Was aber tut der Senat von Berlin? 
Wie sozial der Senat ist, der von der Bevölkerung zur 
Verwaltung ihrer Interessen gewählt worden ist, zeigt 
sich an dessen Taten, nicht an seinen Worten. 
Es steht schlecht um den Berliner Senat. 
verantwortlich: 
Arbeitsgruppe "Sanierung Schöneberg" 
C Redaktionelle Ergänzung 
gestützt auf ein Gespräch mit G. Kohlmaier und 
einigen ARCH+-Redakteuren 
1. Zur Entwicklung des Sanierungsprojektes 
Das Projekt "Sanierung Schöneberg" des westberliner 
Senats ist im Zusammenhang mit der Sanierung des 
Stadtteils Kreuzberg zu sehen, dessen Weiterbearbei- 
tung vom Senat eingestellt wurde - nicht zuletzt 
wegen des organisierten Widerstandes der betroffenen 
Bevölkerung. Der Senat wich "in aller Stille" auf 
ARCH+3 (1970) H. 10
	        
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