Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1970, Jg. 3, H. 9-11)

sind, dann ist nicht anzunehmen , daß sozialrevolutionä- 
re Strategien sich in der klassischen Weise nahezu aus- 
schließlich aufs Industrieproletariat beziehen können. 
Nicht ist die Frage zu stellen, ob wissenschaftliche In- 
telligenz im traditionellen Sinn industrieproletarisches 
Klassenbewußtsein entwickeln kann, sondern wie umge- 
kehrt der Begriff der unmittelbaren Produzenten und da- 
mit der arbeitenden Klasse sich insgesamt verändert 
haben. 
Mit der fortschreitenden Vergesellschaftung des Kapitals 
und der produktiven Arbeit und der technologischen 
Verwissenschaftlichung der Produktion wird auch das 
unmittelbare Industrieproletariat immer mehr zum Mo- 
ment im Gesamtarbeitsprozeß. Es repräsentiert weniger 
denn je die Totalität produktiver Arbeit. Bei aller ex- 
tremen Verschärfung des Widerspruchs von geistiger und 
«örperlicher Arbeit ist die geistige Arbeit nicht mehr 
nur als idealistisch überhöhende Widerspiegelung ab- 
strakter Arbeit und damit als Repräsentant der bürger- 
lichen Aneignung von Kultur und kleinbürgerlichen 
Organisationsformen des Wissenschaftsprozesses zu be- 
handeln, sondern ein genuines Bildungsmoment, und 
zwar in organisierter und kollektiver Form, in der 
Konstitution proletarischen Klassenbewußtseins und der 
Organisation der politischen Klasse. Der Tendenz, die 
der Genosse Schmierer bezüglich der Rolle der wissen- 
schaftlichen Intelligenz im Klassenkampf vertritt, näm- 
lich die klassischen Theorien individuellen Klassenver- 
rats (zumeist mit Hinweis auf Lukäcs’ Bestimmung der 
Rolle der Intellektuellen im Klassenkampf) ist entgegen- 
zusetzen, daß ohne die organisierte produktive wissen- 
schaftliche Intelligenz die Bildung eines auf die bürger- 
liche Gesellschaft insgesamt bezogenen Klassenbewußt- 
seins auch im Industrieproletariat unmöglich ist. 
Il. Die mangelnde Reflexion auf die kategoriale Ver- 
fassung des Klassenbewußtseins als einer nicht empi- 
rischen Kategorie, wie sie von Lukäcs spekulativ im 
Anschluß an Lenin ausgeführt wurde, hat in der soziali- 
stischen Bewegung eine verschwiegene Reduktion des 
Klassenbewußtseins in einem den Metropolen unange- 
messenen leninistischen Sinn zur Folge. Die Stagnation 
der zunächst spontan auf psycho-analytischer Ebene ge- 
faßten und individualistisch beschränkten Emanzipa- 
tionsdebatte konnte sich dem Zugang und der strate- 
gisch praktischen Erkenntnisse der möglichen Bedürfnis- 
struktur der Massen entfremden. Das spekulative Totali- 
tätsbewußtsein, das die antiautoritäre Bewegung in 
ihren ersten Anfängen auszeichnet, mag schlechte Mo- 
mente geschichtsblinder Abstraktion enthalten haben. 
Die Unmittelbarkeitsideologie vieler praktisch arbeiten- 
der Gruppen hingegen ist ihrem Bewußtsein nach in 
einer unverbundenen Flucht der historischen Erscheinungs- 
formen angesiedelt und außerstande, die Vielheit der 
empirischen Praktiken zu klassenbewußter Einheit einer 
politischen Praxis zu denken. Die Reflexion auf die kate- 
goriale Ebene des Klassenbewußtseins vermöchte sehr 
viel eher organisatorische Identitätskriterien zu vermit- 
teln, als schlecht moralisierende Verbindlichkeitsdis- 
kussionen, wie sie noch häufig geführt werden und die 
hilflos unverbindlich bleiben. 
ARCH+3 (1970) H. 10 
Die theoretischen Auffassungen der sozialistischen Bewe- 
gung sind z.T. mit Momenten des empirischen Historis- 
mus behaftet, den Lukäcs der bürgerlichen Geschichts- 
wissenschaft vorwirft., "Ihr Irrtum besteht darin, daß sie 
im empirischen historischen Individuum (gleichviel ob es 
sich um einen Menschen, um eine Klasse oder um ein 
Volk handelt) und in seinem empirisch gegebenen (also 
psychologischen oder massenpsychologischen) Bewußt- 
sein jenes Konkrete zu finden meint. Wo sie jedoch das 
Allerkonkreteste gefunden zu haben geglaubt hat, hat 
sie es gerade am weitesten verfehlt, die Gesellschaft als 
konkrete Totalität...; indem sie daran vorbeigeht, faßt 
sie etwas völlig Abstraktes als etwas Konkretes auf." 
(Lukäcs, Geschichte und Klassenbewußtsein, S. 61) 
Doch schon Lukäcs’ Erkenntnis, daß sich erst durch die 
"Beziehung auf die Gesellschaft als auf ein Ganzes" die 
Kategorie der objektiven Möglichkeit und damit die 
logische Bildung von Klassenbewußtsein konstituiert, 
enthält Momente der idealisierenden Abstraktion; sowohl 
seine Behandlung der Organisationsfrage wie des Klas- 
senbewußtseins unterstellen einen Totalitätsbegriff, der 
ins empirisch psychologische Bewußtsein der einzelnen 
Proletarier nicht hineinragt. Diese können nur post 
Festum die Entscheidungen des totalitätsbezogenen 
Zentralkomitees nachvollziehen, ebenso wie der reale 
durch Kampferfahrung, Theorienbildung, Agitation und 
Propaganda sich vollziehende Umsetzungsprozeß von 
Totalitätskategorien in die Köpfe der einzelnen Proleta- 
rier im Dunkeln bleibt. Das richtige Klassenbewußtsein 
existiert immer schon in Gestalt der a priori vorgegebe- 
nen richtigen Partei des Proletariats, dem leninschen 
Parteitypus, der allen geschichtlichen Formbestimmungen 
transzendental enthoben wird. Die Kategorie der Totali- 
tät ist aber sowohl in ihrem Hegelschen wie in ihrem 
Marxschen Sinne auf ebenso empirische wie nicht-empi- 
rische Momente, so wie die Ware nach Marx ein sinnlich- 
übersinnliches Ding ist. Mit der Elimination der Empirie 
aus der Totalitätskategorie wird die Reflexion auf die 
historische Genesis des Klassenbewußtseins abgeschnitten. 
Lukäcs’ Empiriebegriff ist selbst schon szientistisch ver- 
kürzt. 
Die Kategorie des Klassenbewußtseins aber konstituiert 
sich aus einem bestimmten Verhältnis von Theorie und 
Empirie, wie es gebunden ist an den materialistischen 
Produktionsbegriff von Arbeit und Arbeitsteilung. Der 
Begriff von Empirie, so wie ihn im Rahmen des histori- 
schen Materialismus Marx und Engels in der Deutschen 
Ideologie angedeutet haben, ist keineswegs identisch mit 
dem Empiriebegriff der positivistisch zerstreuten Einzel- 
wissenschaften. Dieser ist quantitativ und formal nach 
Maßgabe konkreter Arbeit, d.h. der materialistische 
Empiriebegriff ist gebunden an Gebrauchswerte, Bedürf- 
nisse und Interessen. Der Theorienbegriff der Kritik der 
politischen Ökonomie ist gebunden an abstrakte Arbeit, 
die Kategorien der Ware, des Mehrwerts und der Akkumu- 
lation. Aus der Kritik an diesen Kategorien erschließt 
sich die Gesellschaft als eine Herrschaftstotalität von 
Verdinglichung, Ausbeutung und Krise. Wenn sich Klas- 
senbewußtsein als parteiliches Totalitätsbewußtsein 
wirklich soll bilden können, muß sich das Moment der 
Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus, durch welche 
Umwandlungen und Vermittlungen auch immer, in das 
nn
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.