Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1970, Jg. 3, H. 9-11)

von Bourgeoisie und Staat modifizieren. Sie werden 
nicht als Moment einer qualitativen Umwälzung der be- 
stehenden Produktionsverhältnisse reflektiert. Eine sol- 
che Umwälzung strebt eine aus den historischen Produk- 
tionsbedingungen entwickelte Strategie an, deren 
allgemeiner Ausgangspunkt die Aufhebung der Wohnung 
qua Ware als Moment der Aufhebung der Ware Arbeits- 
kraft begreift. Es gilt daher nicht die Wohnungsfrage 
innerhalb des bestehenden Systems, sondern durch dessen 
Aufhebung die Wohnungsfrage zum Verschwinden zu 
bringen. 
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Wie an der politisch-ökonomischen Situation der Bau- 
industrie und des Boden-Hausbesitzes dargestellt wurde 
sind die dahinterstehenden Kapitalgruppen gegenüber 
dem Industriekapital in historische Bedrängnis geraten. 
Beide suchen die Intervention des Staates. Vorschläge 
zur Aufhebung der Miete können daher realistisch vom 
massiven Eingriff des Staates in den Wohnungsbau und 
die Bauindustrie ausgehen. Der Staat leistet zur Ge- 
samtbausumme des Wohnungsbaues 51 Prozent Anteil und 
zusätzliche Subventionierung in Form von Aufwendungs- 
zuschüssen und Steuervergünstigungen. Zwei Drittel aller 
Projekte werden von kommunalen oder gemeinnützigen 
Bauunternehmen realisiert. Der Staat stellt die Bedin- 
gungen für die Einhaltung festgesetzter Normen des 
Wohnstandards, die wiederum Voraussetzung der Ver- 
gabe öffentlicher Mittel ist. Er übernimmt die Kosten, 
die durch die "Verbesserungen" der schlechten Bausub- 
stanz in Sanierungsgebieten (Entwicklungsgebiete) im 
Laufe der Ordnungsphase entstehen (31). Der Eingriff 
des Staates bedeutet keine Sozialisierung, sondern, wie 
am Beispiel der Bauindustrie gezeigt wurde, eine In- 
strumentierung des Wohnungsbaues nach den Zwecken 
des Monopolkapitals, das dabei ist, die Rendite unter 
sich neu zu verteilen. Die staatliche Subvention hat 
daher die Aufgabe, Disparitäten auszugleichen. Als Teil 
der der Arbeiterklasse exploitierten Mehrarbeit kommt 
sie im Wohnungsbau nicht dieser, sondern den mit ihm 
Handel Treibenden zugute. Die steigende Subventionie- 
rung des Wohnungsbaues durch den Staat ist in letzter 
Zeit mit der steigenden Reprivatisierung desselben ge- 
koppelt worden (32). Die Klasse der Grundrentner hat 
nach wie vor über Vermittlung des Staates den "Verzehr 
fremder Arbeit" zu ihrem Hauptgeschäft, mit dem ver- 
feinerten Unterschied, daß diese Klasse den in Form der 
Grundrente dem Arbeiter abgenommenen Mehrwert zwei- 
Fach entgegennimmt: einmal als einfache Miete und 
einmal als Miete, die der ideelle Gesamtpächter bzw. 
Gesamtkapitalist Staat als Subvention zuschießt (33). 
Beide Formen der Miete bezahlt die Arbeiterklasse. 
Die Kritik der bestehenden politischen Praxis, die sich 
im Wohnungsbau realisiert, muß von der Darstellung der 
organisierten Vergeudung des gesellschaftlich produzier- 
ten Mehrwertes ausgehen. 
Die bestehende Praxis des Staatseingriffes, die in der 
Anwendung der dialektischen Beziehung von Produktion 
und Konsumation, in der staatlichen Vermittlung der 
Interessen des Grund- und Industriekapitals im Interesse 
des Gesamtkapitals und in der realen Funktion der Bau- 
industrie als Multiplikator der kapitalistischen Produk- 
tivität sich darstellt, verdeutlicht den Grad der realen 
Vergesellschaftung des Wohnungsbaues 
Die Kritik kann zeigen, daß, geht man von der Summe 
der öffentlichen Subventionen aus, die gegenwärtig in 
die Hände der privaten (34) Kapitalgruppen gespielt 
werden, diese Summe für die Senkung der Miete einge- 
setzt werden könnte und letztlich die Nullmiete bzw. die 
"Instandhaltungsmiete'" möglich machen würde. 
Da der Boden- und Hauspreis antizipierte Grundrente 
ist, fiele mit der Durchsetzung der Nullmiete der Preis 
des Bodens und der Häuser. Das städtische Grundeigen- 
t+um würde die nicht mehr vermietbaren Häuser an den 
Staat abstoßen. 
Der Forderung nach Nullmiete, die Voraussetzung zur 
Aufhebung der Wohnung als Ware ist, bleibt die Gefahr 
des Proudhonismus immanent. Wie das Beispiel der Wiener 
Gemeindebauten zeigte, kann sie vom Kapital im geeig- 
neten historischen Augenblick selbst zum Programm er- 
hoben und verwirklicht werden. In.der Ära des hoch- 
organisierten Monopolkapitals brächte diese Form der 
Verwirklichung verschärfte Ausbeutung, da über die als 
Arbeitsrente vom Lohn abgezogene Miete dem industriel- 
len Kapital auch die Verfügungsgewalt über die Wohn- 
sphäre gegeben wäre. Die Forderung nach der Nullmiete 
kann daher nur als Moment der revolutionären Verände- 
rung der Bedingungen, unter denen gewohnt und gearbei- 
tet wird, verstanden werden. 
Die Aneignung der Wohnung als ein Produktionsmittel für 
die Arbeiterklasse setzF eine Strategie voraus, die die 
Aufhebung der Wohnungsfrage mit der Aufhebung der 
Lohnarbeit verknüpft. 
Es ist die politische Aufgabe des Architekten, aus der 
Analyse des historischen Kräfteverhältnisses von Grund- 
besitz - Industriekapital - Lohnarbeit die konkrete Theo- 
rie zu entwickeln, die in der Praxis der Veränderung 
umschlagen kann. Diese Analyse wird eine ökonomisch 
bestimmte Analyse sein müssen, die die Widersprüche 
des Kapitalprozesses nach den Momenten Wohnen - Ar- 
beit sichtbar macht, Widersprüche, die durch die 
politisch-organisierte Praxis zu entwickeln und dadurch 
zum Weg ihrer Aufhebung und Neubestimmung zu führen 
sind 
VII. 
Das Ziel des Architekten ist die Umwandlung der Woh- 
nung vom Mittel zum Konsum in ein Produktionsmittel. 
Diese Neubestimmung der Wohnung im Interesse des 
Proletariats wird dem Architekten in doppelter Weise 
schwierig: er sieht die architektonischen Produktions- 
mittel zur Verwirklichung in den Händen des Kapitals. 
Die Produktionsmittel sind auf die Bedürfnisse von ano- 
nymen Konsumenten zugespitzt. Ihre Bedürfnisse, die 
vom Kapital produziert werden, erzwingen, daß die 
Mittel fortbestehen als Mittel zur Warenproduktion. Um 
die Wohnung in ein Produktionsinstrument für das Prole- 
tariat zu verwandeln, ist ein Bewußtsein notwendig, das 
sich die Wohnung in dieser Form anzueignen versteht. 
Er sieht, daß seine Idee alternativer Planung nur prak- 
tisch werden kann, wenn es ihm gelingt, dieses Bewußt- 
sein herzustellen. Er weigert sich, länger Agent zur 
Erfüllung von "Programmen" zu sein, die die Bedürfnisse 
nach exploitativen Gründen befriedigen. Er beginnt, die 
Bedürfnisse, die der Inhalt seiner alternativen Architek- 
tur werden sollen, vorerst zu produzieren, bevor er 
ihnen Raum aibt. Er bezieht in seine Praxis die Mittel 
ARCH+ 3 (1970) H. 9
	        

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