Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1970, Jg. 3, H. 9-11)

müssen. Dementsprechend kann man drei verschiede- 
ne Perioden unterscheiden: 
a) Im 19. Jahrhundert zeigte sich die Diskrepanz von 
Ideologie und Realität vorwiegend in einer um sich 
greifenden Wohnungsnot der Kleinbourgeosie haupt- 
sächlich in den großen Städten. Die wesentlich 
schlechteren Wohnverhältnisse des Proletariats 
interessierten dagegen nur insoweit, als aus ihnen 
Seuchengefahren und systemgefährdende Auswir- 
kungen entstehen können. 
b) Zwischen den beiden Kriegen wird die Diskrepanz 
in erster Linie dadurch beschrieben, daß der freie 
Wohnungsmarkt der Ideologie von der völkischen 
Gemeinschaft nicht gerecht wird und statt einer 
Reihe von überschaubaren Siedlungen für Volksge- 
nossen immer teurere Wohnungen in den Ballungs- 
gebieten entstehen 1äßt. 
2) Nach dem zweiten Weltkrieg tritt in der entstehen- 
den Bundesrepublik insoweit eine Modifikation ein, 
als die Ideologie sich nicht mehr auf derartige vor- 
kapitalistische Wirtschafts- und Siedlungsformen 
zentriert, sondern auf den Schutz und die Restau- 
rierung der kapitalistischen Ordnung selbst. Des- 
halb mußte behauptet werden, daß der freie Markt 
für eine zufriedenstellende Lösung der Wohnungs- 
frage aufkommen könne. Weiter galt es, das Haus- 
und Grundeigentum von den Fesseln der staatlichen 
Bewirtschaftung zu befreien, um damit einen Schutz- 
gürtel um die Klasse der Eigentümer an den Pro- 
duktionsmitteln zu legen. Deshalb ist der Wohnungs- 
markt wieder als ein '"freier'' zu installieren; die 
Besonderheit der Ware Wohnung wird jetzt darin 
geseuen, daß dieser freie Markt durch staatliche 
Subvention und temporäre Bewirtschaftung erst 
wieder funktionsfähig zu machen ist, damit der 
Staat sich dann wieder auf einen sozialen Ausgleich, 
i.e. "marktkonforme'' Armenfürsorge beschränken 
kann. 
("Die Festlegung der Mieten entgegen der allgemeinen 
Markttendenz erzeugte in der Vergangenheit die sog. 
Wohnungsnot, die keineswegs, wie man vielleicht heu- 
te leichter sieht, einen absoluten Mangel an Wohnraum 
bedeutete, sondern eine künstlich herbeigeführte Markt- 
störung, deren Ursache, eben die Stabilisierung der 
Mieten, sich klar erkennen läßt.'' A. Müller-Armack, 
Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, Hamburg 
1948, S. 114) 
Der gemeinsame Nenner der verschiedenen Bestim- 
mungen der ''Besonderheit'' der Ware Wohnung liegt 
also darin, daß der freie kapitalistische Markt in der 
Regel nicht in der Lage ist, Ergebnisse zu produzie- 
ren, die mit den herrschenden Interessen bzw. Ideolo- 
gien im Einklang stehen. Da die herrschenden Interes- 
sen diejenigen der jeweils Herrschenden sind, braucht 
nicht betont zu werden, daß die in aller Regel miserab- 
len Wohnverhältnisse des Proletariats insbesondere 
in den Metropolen nur insoweit interessierten, als sich 
aus ihnen eine Beeinträchtigung oder Bedrohung der 
Herrschenden ergeben konnte. 
Aus der so bestimmten Besonderheit ergibt sich, daß 
das Wohnen im Kapitalismus seit seiner Entfaltung 
einen breiten Raum in der politischen und ökonomi- 
schen Diskussion beanspruchte, wobei diejenigen An- 
sätze. die - von der spezifisch vom Kapitalismus pro- 
duzierten allgemeinen Wohnungsnot ausgehend - den 
Kapitalismus selbst kritisieren, eine verschwindende 
Minderheit darstellen. So konnte "Die Lage der arbei- 
tenden Klasse in England'' (1845) von F. Engels, in dem 
die Beschreibung der Wohnverhältnisse einen breiten 
Raum einnimmt, zwar ein ungeheures Aufsehen er- 
regen; dieses Aufsehen hatte jedoch mehr den Charak- 
ter einer moralischen Empörung und Entrüstung und 
konnte die Bourgeosie nicht in ihrer Selbstgerechtig- 
keit treffen. 
Die Wohnungsnot wurde erst dann zu einem vieldisku- 
tierten Objekt der Bourgeosie und ihrer Wissenschaft, 
als sie sich auf Teile der Bourgeosie ausweitete, 
("Hierdurch unterscheidet sich eben die Wohnungsnoth 
der Gegenwart von der der früheren Zeit, daß sie 
Schichten der Gesellschaft umfaßt, welche bisher nur 
wenig berührt wurden.' Engel, Die moderne Wohnungs- 
noth, Leipzig 1873, S. 3) 
Als so immer größere Teile des Kleinbürgertums zu 
Opfern der "modernen Wohnungsnot'' wurden (denn das 
Wohnungselend des Proletariats interessierte in diesem 
Rahmen kaum), mußte die Grundideologie des Kapita- 
lismus - die Selbstharmonisierung der freien Märkte - 
in Frage gestellt werden. Trotz aller Betätigungsfrei- 
heit der Bourgeosie in der Bodenspekulation, im Haus- 
bau und in der Wohnungsvermietung zeigte es sich, daß 
nicht nur keine Harmonisierung eintrat, sondern eine 
Verschlechterung der Lage des Kleinbürgertums. Den 
Weg einer staatlichen Wohnungspolitik konnte man zu 
dieser Zeit nicht beschreiten, da damit offenkundig 
geworden wäre, daß die Freiheit der Märkte in jedem 
Fall zu den bestmöglichen Resultaten führte. Da dieses 
Postulat auf jeden Fall unangetastet bleiben sollte, bliek 
nichts anderes übrig, als zu der Konstatierung der Be- 
sonderheit der Ware Wohnung zu gelangen und als ein- 
ziges Remedium die Selbsthilfe der Betroffenen zu 
empfehlen. 
Erst als im Monopolkapitalismus der wundertätige 
Glaube an die Kräfte des freien Marktes endgültig zer- 
stoben war und insbesondere die Weltwirtschaftskrise 
verdeutlichte, daß der Monopolkapitalismus weder auf 
eine staatliche Krisenvermeidungspolitik noch auf eine 
umfassende Sozialpolitik verzichten konnte, erhielt 
die "Besonderheit'' einen anderen Inhalt: Die Ideologie 
ging nun davon aus, daß jedem ein Recht auf Wohnung 
zustehe, daß aufgrund der ''Besonderheiten'' der Ware 
Wohnung der freie Markt dies nicht leisten könne, und 
daß zur Überwindung dieser Diskrepanz eine staatliche 
Politik eingesetzt werden mußte. Diese blieb an die 
Voraussetzung gebunden, daß die Interventionen markt- 
konform sein müßten, d.h., daß der Staat durch die 
Formulierung der Wohnbauprogramme, durch Subven- 
tionen etc. zwar tief in den freien Markt eingreifen 
kann, aber daß diese Eingriffe so instrumentalisiert 
werden, daß sie im Ergebnis nicht eine Überwindung 
des Kapitalismus, sondern dessen Stabilisierung be- 
wirken sollen. 
Die Ausprägungen der '!'Besonderheit'' 
Eine wesentliche Ursache für die Besonderheit wird 
durchgängig davon abgeleitet, daß das Wohnen ein 
Grundbedürfnis des Menschen sei, dessen Befriedi- 
gung deshalb von besonderer Bedeutung ist, weil von 
ihm erhebliche Wirkungen auf die Moral, Sittlichkeit 
ete. einer Gesellschaft ausgehen. Aus diesem Komplex 
ARCH+3 (1970) H. 11
	        

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