Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1970, Jg. 3, H. 9-11)

lassen sich eine Reihe von weiteren Indices für die 
Wichtigkeit und Besonderheit der Ware Wohnung ab- 
leiten, die, wenn sie nicht Ausdruck bloßen Zynismus 
sind, auf sozialromantischen, utopischen oder vor- 
kapitalistischen Ideologien basieren oder auf sie hi- 
nauslaufen, Diese Besonderheit liegt also darin be- 
gründet, daß von dem Bedürfnis Wohnen ausgegangen 
wird, dessen Befriedigung so wichtig sei, daß man sie 
nicht dem kapitalistisch organisierten Markt überlas- 
sen kann, bzw. man geht von der ungenügenden Be- 
friedigung dieses Bedürfnisses durch den Markt aus, 
um daraus abzuleiten, daß es eben nicht angängig sei 
die Wohnung wie jede andere Ware zu produzieren 
und zu tauschen, Daraus lassen sich verschiedene 
Strategien ableiten: 
ı) Die Diskrepanz zwischen Tauschwert und Ge- 
brauchswert auf dem Wohnungssektor, die leicht 
zu einer Gefährdung des kapitalistischen Systems 
führen kann, wird durch staatliche, insbesondere 
sozialpolitische Maßnahmen soweit verhindert, daß 
diese Gefahr isoliert wird. , 
)) Kann man von dieser Gegenüberstellung ausgehend 
versuchen, die wahren Bedürfnisse der Betroffenen 
zu formulieren, um dann Reformvorschläge zur 
materiellen Gestalt der Wohnung und der Marktor- 
ganisation zu machen (i.e. Auswirkungen des Ka- 
pitalismus beseitigen zu wollen, ohne ihn selber 
anzutasten), 
Beiden Konsequenzen ist gemeinsam, daß sie die Be- 
sonderheit der Ware Wohnung aus einer Perspektive 
diagnostizieren, die nicht diejenige des Kapitals ist, 
Der Kapitalismus ist eben dadurch charakterisiert, 
daß er nicht Gebrauchswerte. sondern Tauschwerte 
produziert. 
Bedürfnis, Gebrauchswert und Tauschwert 
"Jede Ware aber stellt sich dar unter dem doppelten 
Gesichtspunkt von Gebrauchswert und Tauschwert.'' 
(K. Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 
13, S. 15) Gebrauchswert bezeichnet die Eigenschaft 
eines Gutes, für den Menschen nützlich zu sein und 
seine Bedürfnisse zu befriedigen. Der Gebrauchswert 
existiert also unabhängig von gesellschaftlichen, po- 
litischen oder überhaupt historischen Bedingungen, Er 
kann nur über die Relation Mensch-Gut etwas aussa- 
gen. Innerhalb einer kapitalistischen Tauschgesell- 
schaft werden jedoch nicht Güter produziert, um Be- 
dürfnisse zu befriedigen, sondern Waren, die gegen 
andere getauscht werden sollen, um Mehrwert zu 
realisieren. Der Maßstab, nach dem sie getauscht 
werden, ist die in ihnen geronnene Arbeitszeit. Der 
Tauschwerrt ist also nicht auf die Beziehung Mensch- 
Ding oder Mensch-Natur beschränkt, sondern ist der 
Ausdruck gesellschaftlicher Beziehungen innerhalb 
bestimmter Produktionsverhältnisse. '"Gebrauchswert 
zu sein scheint notwendige Voraussetzung für die Ware, 
aber Ware zu sein gleichgültige Bestimmung für den 
Gebrauchswert. Der Gebrauchswert in dieser Gleich- 
gültigkeit gegen die ökonomische Formbestimmung, 
d.h. der Gebrauchswert als Gebrauchswert liegt jen- 
seits der Betrachtungsweise der Politischen Ökonomie, 
In ihren Kreis fällt er nur, wo er selbst Formbestim- 
mung wird.' (K. Marx, a.a.0O., S. 16) 
Der Versuch, über den Vergleich etwa von (gedachten) 
am Gebrauchswert ausgerichteten Wohnungen und den 
konkret angebotenen Behausungen, zu politischen und 
politisierenden Aussagen zu kommen, liegt außerhalb 
des Bereichs der politischen Ökonomie, da es ihr um 
Aussagen über aus den Gegebenheiten, den Produktions- 
verhältnissen, resultierende Beziehungen zwischen 
Menschen geht, das Verhältnis des Konsumenten zur 
Ware, mithin auch zur Wohnung, aber eines von Mensch 
zu Sache ist, auch wenn dieses Verhältnis (z.B. hin- 
sichtlich der Familie) Verhältnisse zwischen Menschen 
stark determiniert. Diese Determinanten nämlich sind 
nichts anderes als Reflexe auf das Verhältnis der Kon- 
sumenten auf das Konsumobjekt Wohnung. Der Ver- 
such, Ökonomie zu einer Lehre vom Verhältnis zwi- 
schen Menschen und Sachen zu machen, sie mithin 
ihrer politischen Dimension zu berauben, ist gerade 
das Kennzeichen jener Nationalökonomie, mit der die 
bürgerliche Wissenschaft auf die Herausforderung des 
wissenschaftlichen Sozialismus reagierte: der sub- 
jektiven Werttheorie, 
Schon von daher ergibt es sich, daß eine Ermittlung 
von '"wahren'' Bedürfnissen, also solchen, die unab- 
hängig von bestimmten Produktionsverhältnissen gelten 
sollen, nicht möglich sein kann. Auch wenn man dabei 
die trickreichsten Methoden der empirischen Sozial- 
forschung anwendet, wird man auf der Suche nach den 
Bedürfnissen nicht mehr herausbringen als den Grad 
ihrer Verformung und Manipulation durch Familie, 
Kapital und Staat. Die jeweiligen Bedürfnisse können 
nur der Ausdruck des jeweiligen Bewußtseins sein. 
Wer dies nicht beachtet und dennoch von der Formulie- 
rung von hypothetischen Bedürfnissen ausgeht, zu de- 
ren Befriedigung entsprechende Gebrauchswerte zu 
produzieren sind, muß sich wahlweise den Vorwürfen 
aussetzen, daß er entweder auf abstrakte Utopien aus 
sei, daß er in den Kategorien der bürgerlichen Ökono- 
mie verfangen bleibt oder daß er die Illusion reprodu- 
ziert, als Anwalt die wahren Bedürfnisse von Betrof- 
fenen, die diese nur nicht formulieren können, fest- 
zulegen, Das muß entweder dazu führen, daß man je- 
den Anspruch auf politische Relevanz aufgibt oder im 
Sinne einer Systemstabilisierung arbeitet, 
("Aber die sogenannte Wohnungsfrage lösen zu wollen, 
das fällt mir allerdings nicht ein, ebensowenig wie ich 
mich mit den Details der Lösung der noch wichtigeren 
Eßfrage befasse. Ich bin zufrieden, wenn ich nachwei- 
sen kann, daß die Produktion unserer modernen Ge- 
sellschaft hinreichend ist, um allen Gesellschaftsmit- 
gliedern genug zu essen zu verschaffen, und daß Häuser 
genug vorhanden sind, um den arbeitenden Massen 
vorläufig ein geräumiges und gesundes Unterkommen 
zu bieten. Wie eine zukünftige Gesellschaft die Ver- 
teilung des Essens und der Wohnungen regeln will, 
darüber zu spekulieren, führt direkt in die Utopie." 
Engels, Zur Wohnungsfrage, MEW 18, 285) 
2. Die Wohnung als gewöhnliche Ware 
Wenn wir zu einer Einschätzung der staatlichen Woh- 
nungspolitik, der Möglichkeit von systemüberwinden- 
den Reformen und den Ansatzpunkten einer revolutio- 
nären Strategie in der Stadtteilarbeit kommen wollen, 
helfen uns Betrachtungen von außerhalb des kapitali- 
stischen Systems nicht viel weiter. Es gilt vielmehr 
zunächst aufzuzeigen, daß die Wohnung eine Ware ist 
wie jede andere, zumindest, was die allgemeinen 
ARCH+3 (1970) H. 11
	        
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