Wohnungsfrage, MEW 18, S. 213), wenn man darunter
versteht, daß die Mehrzahl der Bevölkerung in unzu-
reichenden und überfüllten Wohnungen lebte und lebt.
Mit der Entfaltung des Kapitalismus in Europa im 18,
und 19. Jahrhundert entsteht jedoch zugleich eine spe-
zifische Form der Wohnungsnot, die für immer grö-
ßere Teile der Menschen zu einer Verschärfung der
Lage führt.
Die Entfaltung des Kapitalismus
Als sich das aufstrebende Bürgertum im 17. und 18,
Jahrhundert immer mehr von den absolutistischen und
feudalen Fesseln der merkantilistischen Wirtschaft
befreite, schien noch eine Interesseneinheit zwischen
ihm und dem gesamten dritten Stand zu bestehen. Von
der Ablösung des absoluten Souveräns als alleinigem
Zentrum und Maßstab aller staatlichen und wirtschaft-
lichen Betätigung, für die die Aufklärungsphilosophie
die geistesgeschichtliche Legitimation lieferte, konn-
ten sich alle Schichten des dritten Standes eine Ver-
besserung ihrer Lage versprechen. Der Widerspruch
zwischen Lohnarbeit und Kapital, der im dritten Stand
angelegt war, konnte noch nicht virulent erscheinen,
solange die Lohnarbeit noch keine große quantitative
Bedeutung hatte. Die Entfaltung des Kapitalismus ist
jedoch eine Entfaltung der Lohnarbeit; d.h. das Pro-
letariat als eine Klasse, die ihre Arbeitskraft als
Ware, also zu ihren physischen Reproduktionskosten
verkaufen muß, tritt immer mehr in den Vordergrund
An den Lebensbedingungen dieser Klasse wird offen-
kundig, daß die Annahme einer Interesseneinheit des
gesamten dritten Standes der am durch die neue Wirt-
schaftsform geschaffenen Reichtum gemeinsam teil-
haben sollte, nichts als eine Illusion war: Arbeit und
Kapital werden immer mehr als unvereinbare und
gegensätzliche Klassen sichtbar, 'In lebhaftem Ge-
gensatz zu dem leuchtenden Menschen- und Gesell-
schaftsbild der Aufklärungsphilosophie stand für die
Zeitgenossen die große Not der (freilich zunächst an
Zahl noch geringen) arbeitenden Schichten. Nicht so
sehr die altgewohnte Armut war es, die beunruhigte,
als vielmehr die neu entstehende, nicht das Elend des
flachen Landes, sondern das der wachsenden Indu-
striezentren, nicht die begreifliche Not der herkömm-
lichen, unergiebigen Wirtschaftsweise, sondern die
unbegreifliche einer Wirtschaft mit wachsender Pro-
duktionskraft. Ein ökonomisches System war auf den
Plan getreten, das auf systematischer Verwertung
der sachlichen wie der personellen Bedingungen der
Produktion beruhte, und das die Verwertung der
menschlichen Arbeitskraft der Verwertung des Sach-
kapitals durchaus unterordnete.'' (Werner Hofmann,
Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und
20. Jahrhunderts, Berlin 1968, S. 9({f.)
Da das Proletariat für den Verkauf seiner Arbeitskraft
nur die Entlohnung erhielt, die für die physische Re-
produktion erforderlich ist, andererseits jedoch die
zunehmende Industrialisierung dazu führte, daß die
Arbeiter vom flachen Land in die neuen Industriegebiete
umgesiedelt wurden, mußte sich daraus eine '"'Woh-
nungsnot'' ergeben. Der Arbeiter war zwar jetzt for-
mal frei von feudalistischen Bindungen; er hatte die
Freiheit, zwischen dem Verkauf seiner Arbeitskraft
und dem Verhungern zu wählen. Diese neue Freiheit
bedeutet aber gleichzeitig, daß er sich um seine
Wohnung, die ihm zuvor Feudalherr oder Handwerks-
meister gestellt hatten, nun selbst zu kümmern hatte,
Aus seinem Lohn konnte er jedoch keinesfalls eine
Wohnung auf dem freien Markt kaufen oder mieten.
Daraus ergibt sich, daß die großen Unternehmen für
die neu angeworbenen Arbeiter Quartiere zur Verfü-
gung stellen mußten; entweder in Form von Notunter-
künften oder später durch kleine Siedlungshäuschen.,
Diese Form der Wohnungspolitik durch die Kapitalisten
schloß insoweit vielfach unmittelbar an feudalistische
Formen an, als etwa die Arbeiter für das Ruhrgebiet
von den Gütern Ostelbiens und Polens rekrutiert wur-
den und die Ausstattung mit Wohnungen die Feudalab-
hängigkeit auf das neue Arbeitsverhältnis übertragen
sollte. Von den kleineren Unternehmen, insbesondere
in den schnell anwachsenden Metropolen, wurde ein
derartiger 'Werkwohnungsbau'' nicht betrieben; da
aber die Attraktivität der neuen Metropolen gegenüber
dem Land dennoch stark genug blieb, mußten sich die
schärfsten Formen der Wohnungsnot in ihnen heraus-
bilden.
Von dieser Wohnungsnot wurde jedoch nicht nur das
Industrieproletariat betroffen, sondern zunehmend
auch das Kleinbürgertum. Hierin ist eine der wesent-
lichen Ursachen dafür zu sehen, daß die Wohnungsfrage
seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts einen
bedeutenden Platz in der politischen und nationalöko-
nomischen Diskussion einnimmt.
2. Bürgerliche Abhilfevorschläge
Die umfangreiche Diskussion der "modernen Woh-
nungsnot'', die in den vierziger Jahren des 19. Jahr-
hunderts einsetzt und in erster Linie von Nationalöko-
nomen getragen wird, setzt sich dementsprechend in
erster Linie mit der Frage auseinander, wie dem
Kleinbürgertum von der Wohnungsnot abzuhelfen sei.
Es wird ausgegangen von Widersprüchen innerhalb der
bürgerlichen Klasse; insbesondere zwischen dem
Kleinbürgertum und der Bauspekulation. Die Wohnungs-
not des Proletariats interessiert nur insoweit, als die
in seinen Wohnquartieren grassierenden Krankheiten
und Seuchen auf die Wohnviertel der Bourgeosie über-
zugreifen drohen. Die Ursachen der Wohnungsnot der
Bourgeosie werden in der Regel auf zwei Komplexe
zurückgeführt: Baustellenmonopol und Wohnungsfeuda-
lismus. (Vgl. dazu insbesondere Engel, Die moderne
Wohnungsnoth, Leipzig 1873) Unter Wohnungsfeudalis-
mus wird verstanden, daß der Hausbesitzer eine so
starke Stellung innehat, daß er seinen Mietern Ver-
träge diktieren kann, als habe er feudalistische Vor-
rechte; unter Bodenmonopol die ständig steigende
Grundrente und die mit ihr verbundene Bodenspeku-
lation. Die Wohnungsnot der Bourgeosie wird weiter
dadurch verschärft, daß die Arbeiter immer fauler
und anspruchsvoller wurden: '"Mauerziegel, die vor
2-3 Jahren noch 11-12 Thlr. kosteten, sind heute kaum
für 22-24 Thlr. zu haben, und die Maurer, welche für
eine 13stündige Schicht inc. 2 Stunden Pausen um jene
Zeit 25 Sgr.. bis 1 Thlr. erhielten, dabei ca. 800 Steine
per Tag verlegten, erhalten heute 1 1/3 bis 1 1/2 Thlr.
für eine nur 10stündige Arbeitsschicht, in welcher das
Verlegen von 3 bis 400 Steinen als eine viel zu große
Leistung das lebhafteste Mißfallen derjenigen Arbeiter
erregt, welche für den doppelten Lohn des heutigen
am liebsten gar nichts täten.'' (Engel, a.a.0.. S. 17)
ARCH+ 3 (1970) H. 11