Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1970, Jg. 3, H. 9-11)

Wohnungsfrage, MEW 18, S. 213), wenn man darunter 
versteht, daß die Mehrzahl der Bevölkerung in unzu- 
reichenden und überfüllten Wohnungen lebte und lebt. 
Mit der Entfaltung des Kapitalismus in Europa im 18, 
und 19. Jahrhundert entsteht jedoch zugleich eine spe- 
zifische Form der Wohnungsnot, die für immer grö- 
ßere Teile der Menschen zu einer Verschärfung der 
Lage führt. 
Die Entfaltung des Kapitalismus 
Als sich das aufstrebende Bürgertum im 17. und 18, 
Jahrhundert immer mehr von den absolutistischen und 
feudalen Fesseln der merkantilistischen Wirtschaft 
befreite, schien noch eine Interesseneinheit zwischen 
ihm und dem gesamten dritten Stand zu bestehen. Von 
der Ablösung des absoluten Souveräns als alleinigem 
Zentrum und Maßstab aller staatlichen und wirtschaft- 
lichen Betätigung, für die die Aufklärungsphilosophie 
die geistesgeschichtliche Legitimation lieferte, konn- 
ten sich alle Schichten des dritten Standes eine Ver- 
besserung ihrer Lage versprechen. Der Widerspruch 
zwischen Lohnarbeit und Kapital, der im dritten Stand 
angelegt war, konnte noch nicht virulent erscheinen, 
solange die Lohnarbeit noch keine große quantitative 
Bedeutung hatte. Die Entfaltung des Kapitalismus ist 
jedoch eine Entfaltung der Lohnarbeit; d.h. das Pro- 
letariat als eine Klasse, die ihre Arbeitskraft als 
Ware, also zu ihren physischen Reproduktionskosten 
verkaufen muß, tritt immer mehr in den Vordergrund 
An den Lebensbedingungen dieser Klasse wird offen- 
kundig, daß die Annahme einer Interesseneinheit des 
gesamten dritten Standes der am durch die neue Wirt- 
schaftsform geschaffenen Reichtum gemeinsam teil- 
haben sollte, nichts als eine Illusion war: Arbeit und 
Kapital werden immer mehr als unvereinbare und 
gegensätzliche Klassen sichtbar, 'In lebhaftem Ge- 
gensatz zu dem leuchtenden Menschen- und Gesell- 
schaftsbild der Aufklärungsphilosophie stand für die 
Zeitgenossen die große Not der (freilich zunächst an 
Zahl noch geringen) arbeitenden Schichten. Nicht so 
sehr die altgewohnte Armut war es, die beunruhigte, 
als vielmehr die neu entstehende, nicht das Elend des 
flachen Landes, sondern das der wachsenden Indu- 
striezentren, nicht die begreifliche Not der herkömm- 
lichen, unergiebigen Wirtschaftsweise, sondern die 
unbegreifliche einer Wirtschaft mit wachsender Pro- 
duktionskraft. Ein ökonomisches System war auf den 
Plan getreten, das auf systematischer Verwertung 
der sachlichen wie der personellen Bedingungen der 
Produktion beruhte, und das die Verwertung der 
menschlichen Arbeitskraft der Verwertung des Sach- 
kapitals durchaus unterordnete.'' (Werner Hofmann, 
Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 
20. Jahrhunderts, Berlin 1968, S. 9({f.) 
Da das Proletariat für den Verkauf seiner Arbeitskraft 
nur die Entlohnung erhielt, die für die physische Re- 
produktion erforderlich ist, andererseits jedoch die 
zunehmende Industrialisierung dazu führte, daß die 
Arbeiter vom flachen Land in die neuen Industriegebiete 
umgesiedelt wurden, mußte sich daraus eine '"'Woh- 
nungsnot'' ergeben. Der Arbeiter war zwar jetzt for- 
mal frei von feudalistischen Bindungen; er hatte die 
Freiheit, zwischen dem Verkauf seiner Arbeitskraft 
und dem Verhungern zu wählen. Diese neue Freiheit 
bedeutet aber gleichzeitig, daß er sich um seine 
Wohnung, die ihm zuvor Feudalherr oder Handwerks- 
meister gestellt hatten, nun selbst zu kümmern hatte, 
Aus seinem Lohn konnte er jedoch keinesfalls eine 
Wohnung auf dem freien Markt kaufen oder mieten. 
Daraus ergibt sich, daß die großen Unternehmen für 
die neu angeworbenen Arbeiter Quartiere zur Verfü- 
gung stellen mußten; entweder in Form von Notunter- 
künften oder später durch kleine Siedlungshäuschen., 
Diese Form der Wohnungspolitik durch die Kapitalisten 
schloß insoweit vielfach unmittelbar an feudalistische 
Formen an, als etwa die Arbeiter für das Ruhrgebiet 
von den Gütern Ostelbiens und Polens rekrutiert wur- 
den und die Ausstattung mit Wohnungen die Feudalab- 
hängigkeit auf das neue Arbeitsverhältnis übertragen 
sollte. Von den kleineren Unternehmen, insbesondere 
in den schnell anwachsenden Metropolen, wurde ein 
derartiger 'Werkwohnungsbau'' nicht betrieben; da 
aber die Attraktivität der neuen Metropolen gegenüber 
dem Land dennoch stark genug blieb, mußten sich die 
schärfsten Formen der Wohnungsnot in ihnen heraus- 
bilden. 
Von dieser Wohnungsnot wurde jedoch nicht nur das 
Industrieproletariat betroffen, sondern zunehmend 
auch das Kleinbürgertum. Hierin ist eine der wesent- 
lichen Ursachen dafür zu sehen, daß die Wohnungsfrage 
seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts einen 
bedeutenden Platz in der politischen und nationalöko- 
nomischen Diskussion einnimmt. 
2. Bürgerliche Abhilfevorschläge 
Die umfangreiche Diskussion der "modernen Woh- 
nungsnot'', die in den vierziger Jahren des 19. Jahr- 
hunderts einsetzt und in erster Linie von Nationalöko- 
nomen getragen wird, setzt sich dementsprechend in 
erster Linie mit der Frage auseinander, wie dem 
Kleinbürgertum von der Wohnungsnot abzuhelfen sei. 
Es wird ausgegangen von Widersprüchen innerhalb der 
bürgerlichen Klasse; insbesondere zwischen dem 
Kleinbürgertum und der Bauspekulation. Die Wohnungs- 
not des Proletariats interessiert nur insoweit, als die 
in seinen Wohnquartieren grassierenden Krankheiten 
und Seuchen auf die Wohnviertel der Bourgeosie über- 
zugreifen drohen. Die Ursachen der Wohnungsnot der 
Bourgeosie werden in der Regel auf zwei Komplexe 
zurückgeführt: Baustellenmonopol und Wohnungsfeuda- 
lismus. (Vgl. dazu insbesondere Engel, Die moderne 
Wohnungsnoth, Leipzig 1873) Unter Wohnungsfeudalis- 
mus wird verstanden, daß der Hausbesitzer eine so 
starke Stellung innehat, daß er seinen Mietern Ver- 
träge diktieren kann, als habe er feudalistische Vor- 
rechte; unter Bodenmonopol die ständig steigende 
Grundrente und die mit ihr verbundene Bodenspeku- 
lation. Die Wohnungsnot der Bourgeosie wird weiter 
dadurch verschärft, daß die Arbeiter immer fauler 
und anspruchsvoller wurden: '"Mauerziegel, die vor 
2-3 Jahren noch 11-12 Thlr. kosteten, sind heute kaum 
für 22-24 Thlr. zu haben, und die Maurer, welche für 
eine 13stündige Schicht inc. 2 Stunden Pausen um jene 
Zeit 25 Sgr.. bis 1 Thlr. erhielten, dabei ca. 800 Steine 
per Tag verlegten, erhalten heute 1 1/3 bis 1 1/2 Thlr. 
für eine nur 10stündige Arbeitsschicht, in welcher das 
Verlegen von 3 bis 400 Steinen als eine viel zu große 
Leistung das lebhafteste Mißfallen derjenigen Arbeiter 
erregt, welche für den doppelten Lohn des heutigen 
am liebsten gar nichts täten.'' (Engel, a.a.0.. S. 17) 
ARCH+ 3 (1970) H. 11
	        

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