Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1970, Jg. 3, H. 9-11)

Als Abhilfe der Wohnungsnot kommt in erster Linie 
die Selbsthilfe in Betracht; die Vorstellung, daß der 
Staat mehr oder weniger umfassende Maßnahmen zu 
treffen habe, um etwa eine planmäßige Wohnungspoli 
tik zu betreiben, muß in einer Zeit des weitgehend 
unbeschränkten ökonomischen Liberalismus als un- 
denkbar zurückgewiesen werden. Empfohlen werden 
deshalb genossenschaftsähnliche Aktiengesellschaften 
oder ähnliches. Die Zielgruppe ist eindeutig: "Viele 
zusammen in einer Großstadt würden aber sicher da- 
zu beitragen, dem gewerbsmäßigen Wohnungsfeudalis- 
mus die Wurzeln seiner Nahrung abzugraben und ei- 
nen größern oder geringen Theil der achtbarsten Be- 
völkerung jeder Stadt, den Mittelstand, vor der Woh- 
nungshörigkeit, der Obdachunsicherheit und dem 
Nomadenthum zu schützen.' (Engel, a.a.0., S. 65) 
Die umfangreiche Diskussion der verschiedenen Frak- 
tionen der Bourgeosie über die Wohnungsnot wurde zu 
einem Lieblingsthema des 19. und des beginnenden 
20. Jahrhunderts, ohne allerdings nennenswerte prak- 
tische Konsequenzen zu haben. Bei aller scheinbaren 
Differenzierung lassen sich dabei immer wieder fol- 
gende Punkte herausschälen: 
1. Im Mittelpunkt der Diskussion steht die Wohnungs- 
not von Teilen der Bourgeosie, insbesondere die 
des Kleinbürgertums in den großen Städten. 
? Als Abhilfe wird fast immer die Selbsthilfe in den 
Vordergrund gestellt, d.h. die Bildung von Ge- 
nossenschaften oder Aktiengesellschaften etc. Das 
entsprach der Ideologie des Laisser-Faire-Kapi- 
talismus, auf die alle Fraktionen der Bourgeosie 
eingeschworen waren. Von daher war es nahezu 
unvorstellbar, den Staat auf den Plan zu rufen, 
denn das gesamte Wirtschaftssystem und die Reich- 
tumsbildung der Kapitalistenklasse und ihrer La- 
kaien wurde als Ergebnis der staatlichen Zurück- 
haltung gefeiert. Allenfalls in der Armenfürsorge 
und in der polizeilichen Aufsicht des Proletariats 
(Wohnungsinspektion) hatte der Staat sich zu be- 
tätigen. An dieser gemeinsamen Ausgangsbasis 
aller bürgerlichen theoretischen Wohnungspolitik 
konnte es auch nichts ändern, daß man über Boden- 
spekulation und Feudalismus der Hauseigentümer 
lamentierte und in ihnen die wesentlichen Ursachen 
für die Wohnungsnot sah. Eine staatliche praktische 
Wohnungspolitik erschien dagegen immer noch als 
das weitaus größere Übel. In diesem Punkt bestand 
eine Einigkeit zwischen Bourgeosie und Staat: "Die 
Wohnungsverhältnisse Berlins gewinnen eine solche 
Gestaltung, daß unverkennbar dringende Veranlas- 
sung vorliegt, denselben und namentlich den weni- 
ger bemittelten Bevölkerungsklassen einen hohen 
Grad von Aufmerksamkeit zuzuwenden, zumal die 
Entwicklung der Wohnungsverhältnisse unzweifel- 
haft vom erheblichsten Einflusse auf die Entwick- 
lung unserer gesammten socialen Zustände sein 
wird, Es muß jedoch ein direktes Eingreifen der 
Behörden in die wirthschaftliche Bewegung unbe- 
dingt vermieden werden, vielmehr muß es der 
Privatspeculation unter allen Umständen überlas- 
sen bleiben, die Nachfrage nach Wohnungen zu 
befriedigen; denn eine unmittelbare Betheiligung 
von Staats- und Communalbehörden an der Bau- 
thätigkeit könnte zu den bedenklichsten Konsequen- 
zen führen. Dagegen ist es, unseres Erachtens, 
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Aufgabe, ja Pflicht der betheiligten Behörden, in- 
nerhalb ihrer Zuständigkeit alle Hindernisse zu 
beseitigen, welche einer gesunden‘ Entwicklung der 
hiesigen Wohnungsverhältnisse entgegenstehen und 
überall da fördernd einzugreifen, wo die zu ihrem 
Ressort gehörigen Anstalten und Einrichtungen Ge- 
legenheit bieten. '' (Aus einem Brief des Magistrats 
von Berlin an die preußische Regierung, 1871, 
zitiert in Engel, a.a.0., S. 40) 
3. Der Stellenwert der Wohnung im Kampf zwischen 
Arbeit und Kapital 
Von der Diskussion der Bourgeosie um die Wohnungs- 
not einzelner ihrer Fraktionen, die immer nur in dem 
Verweis auf die Selbsthilfe und dem Bekenntnis zur 
Spekulation des freien Marktes münden, sind die An- 
sätze zu unterscheiden, die von dem Wohnungselend 
des Proletariats ausgehend Strategien zur Lösung die- 
ses Problems entwickeln wollen. An erster Stelle sind 
dabei die sogenannten Sozialutopisten, insbesondere 
Fourier, Proudhon und Owen zu nennen. Fourier und 
Owen setzen der wirklichen Gesellschaft und Siedlung 
Ideale entgegen, die die Übel der Industrialisierung 
und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft wieder aus 
der Welt schaffen sollen. Beide versuchen, ihre Mo- 
delle in die Realität umzusetzen. Die Vorstellungen 
Fouriers von den zu gründenden '"Phalansterien'' waren 
etwa so: Ein Phalansterium = Kommune soll bis zu 
2.000 Menschen enthalten, mit allen Elementen des 
sozialen Lebens versehen sein und auf der Landwirt- 
schaft aufbauen. Die drei Produktionselemente: Kapi- 
tal, Arbeit und Talent werden assoziiert, die Versor- 
gung geschieht durch Gemeinschaftseinrichtungen. 
Aufhebung des Unterschiedes zwischen Stadt und Land: 
eine Kette von Phalansterien, jedes aus einem großen 
Gebäude bestehend. Erziehung erfolgt durch die Ge- 
sellschaft; die Herbeiführung der Harmonie geschieht 
schließlich durch die allseitige Vernunft. (Vgl. Victor 
Considerant: Fouriers System der sozialen Reform, 
1841) 
1872 erscheint im ’ Volksstaat’ eine Artikelserie des 
Proudhonisten A. Mülberger, in der gegen Zins und 
Spekulation gewettert, das Haus als ein ’ ewiger Rechts- 
titel’ bezeichnet wird, der seinem Eigentümer als un- 
erschöpfliche Quelle dient und zu einer ''zwei-, drei-, 
fünf-, zehnmaligen'' Deckung der ursprünglichen Kosten 
führe. Daraus wird folgendes Rezept abgeleitet: ''Die 
Mietwohnung wird abgelöst... Dem bisherigen Haus- 
besitzer wird der Wert seines Hauses bis auf den 
Heller und Pfennig bezahlt. Statt daß, wie bisher, der 
bezahlte Mietzins den Tribut darstellt, welchen der 
Mieter dem ewigen Rechte des Kapitals bezahlt, statt 
dessen wird von dem Tage an, wo die Ablösung der 
Mietwohnung proklamiert ist, die vom Mieter be- 
zahlte, genau geregelte Summe die jährliche Abschlags- 
zahlung für die in seinen Besitz übergegangene Woh- 
nung... Die Gesellschaft ... wandelt sich auf diesem 
Wege in eine Gesamtheit unabhängiger freier Besitzer 
von Wohnungen um.'' (Zitiert nach Engels, MEW 18, 
223) 
Diese Artikelserie nimmt F, Engels zum Anlaß einiger 
Erwiderungen, die dann zu der grundlegenden Arbeit 
"Zur Wohnungsfrage'' zusammengefaßt werden. Seine 
Analyse des Wohnungsproblems im Kapitalismus als 
ARCH+3 (1970) H. 11
	        

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