Als Abhilfe der Wohnungsnot kommt in erster Linie
die Selbsthilfe in Betracht; die Vorstellung, daß der
Staat mehr oder weniger umfassende Maßnahmen zu
treffen habe, um etwa eine planmäßige Wohnungspoli
tik zu betreiben, muß in einer Zeit des weitgehend
unbeschränkten ökonomischen Liberalismus als un-
denkbar zurückgewiesen werden. Empfohlen werden
deshalb genossenschaftsähnliche Aktiengesellschaften
oder ähnliches. Die Zielgruppe ist eindeutig: "Viele
zusammen in einer Großstadt würden aber sicher da-
zu beitragen, dem gewerbsmäßigen Wohnungsfeudalis-
mus die Wurzeln seiner Nahrung abzugraben und ei-
nen größern oder geringen Theil der achtbarsten Be-
völkerung jeder Stadt, den Mittelstand, vor der Woh-
nungshörigkeit, der Obdachunsicherheit und dem
Nomadenthum zu schützen.' (Engel, a.a.0., S. 65)
Die umfangreiche Diskussion der verschiedenen Frak-
tionen der Bourgeosie über die Wohnungsnot wurde zu
einem Lieblingsthema des 19. und des beginnenden
20. Jahrhunderts, ohne allerdings nennenswerte prak-
tische Konsequenzen zu haben. Bei aller scheinbaren
Differenzierung lassen sich dabei immer wieder fol-
gende Punkte herausschälen:
1. Im Mittelpunkt der Diskussion steht die Wohnungs-
not von Teilen der Bourgeosie, insbesondere die
des Kleinbürgertums in den großen Städten.
? Als Abhilfe wird fast immer die Selbsthilfe in den
Vordergrund gestellt, d.h. die Bildung von Ge-
nossenschaften oder Aktiengesellschaften etc. Das
entsprach der Ideologie des Laisser-Faire-Kapi-
talismus, auf die alle Fraktionen der Bourgeosie
eingeschworen waren. Von daher war es nahezu
unvorstellbar, den Staat auf den Plan zu rufen,
denn das gesamte Wirtschaftssystem und die Reich-
tumsbildung der Kapitalistenklasse und ihrer La-
kaien wurde als Ergebnis der staatlichen Zurück-
haltung gefeiert. Allenfalls in der Armenfürsorge
und in der polizeilichen Aufsicht des Proletariats
(Wohnungsinspektion) hatte der Staat sich zu be-
tätigen. An dieser gemeinsamen Ausgangsbasis
aller bürgerlichen theoretischen Wohnungspolitik
konnte es auch nichts ändern, daß man über Boden-
spekulation und Feudalismus der Hauseigentümer
lamentierte und in ihnen die wesentlichen Ursachen
für die Wohnungsnot sah. Eine staatliche praktische
Wohnungspolitik erschien dagegen immer noch als
das weitaus größere Übel. In diesem Punkt bestand
eine Einigkeit zwischen Bourgeosie und Staat: "Die
Wohnungsverhältnisse Berlins gewinnen eine solche
Gestaltung, daß unverkennbar dringende Veranlas-
sung vorliegt, denselben und namentlich den weni-
ger bemittelten Bevölkerungsklassen einen hohen
Grad von Aufmerksamkeit zuzuwenden, zumal die
Entwicklung der Wohnungsverhältnisse unzweifel-
haft vom erheblichsten Einflusse auf die Entwick-
lung unserer gesammten socialen Zustände sein
wird, Es muß jedoch ein direktes Eingreifen der
Behörden in die wirthschaftliche Bewegung unbe-
dingt vermieden werden, vielmehr muß es der
Privatspeculation unter allen Umständen überlas-
sen bleiben, die Nachfrage nach Wohnungen zu
befriedigen; denn eine unmittelbare Betheiligung
von Staats- und Communalbehörden an der Bau-
thätigkeit könnte zu den bedenklichsten Konsequen-
zen führen. Dagegen ist es, unseres Erachtens,
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Aufgabe, ja Pflicht der betheiligten Behörden, in-
nerhalb ihrer Zuständigkeit alle Hindernisse zu
beseitigen, welche einer gesunden‘ Entwicklung der
hiesigen Wohnungsverhältnisse entgegenstehen und
überall da fördernd einzugreifen, wo die zu ihrem
Ressort gehörigen Anstalten und Einrichtungen Ge-
legenheit bieten. '' (Aus einem Brief des Magistrats
von Berlin an die preußische Regierung, 1871,
zitiert in Engel, a.a.0., S. 40)
3. Der Stellenwert der Wohnung im Kampf zwischen
Arbeit und Kapital
Von der Diskussion der Bourgeosie um die Wohnungs-
not einzelner ihrer Fraktionen, die immer nur in dem
Verweis auf die Selbsthilfe und dem Bekenntnis zur
Spekulation des freien Marktes münden, sind die An-
sätze zu unterscheiden, die von dem Wohnungselend
des Proletariats ausgehend Strategien zur Lösung die-
ses Problems entwickeln wollen. An erster Stelle sind
dabei die sogenannten Sozialutopisten, insbesondere
Fourier, Proudhon und Owen zu nennen. Fourier und
Owen setzen der wirklichen Gesellschaft und Siedlung
Ideale entgegen, die die Übel der Industrialisierung
und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft wieder aus
der Welt schaffen sollen. Beide versuchen, ihre Mo-
delle in die Realität umzusetzen. Die Vorstellungen
Fouriers von den zu gründenden '"Phalansterien'' waren
etwa so: Ein Phalansterium = Kommune soll bis zu
2.000 Menschen enthalten, mit allen Elementen des
sozialen Lebens versehen sein und auf der Landwirt-
schaft aufbauen. Die drei Produktionselemente: Kapi-
tal, Arbeit und Talent werden assoziiert, die Versor-
gung geschieht durch Gemeinschaftseinrichtungen.
Aufhebung des Unterschiedes zwischen Stadt und Land:
eine Kette von Phalansterien, jedes aus einem großen
Gebäude bestehend. Erziehung erfolgt durch die Ge-
sellschaft; die Herbeiführung der Harmonie geschieht
schließlich durch die allseitige Vernunft. (Vgl. Victor
Considerant: Fouriers System der sozialen Reform,
1841)
1872 erscheint im ’ Volksstaat’ eine Artikelserie des
Proudhonisten A. Mülberger, in der gegen Zins und
Spekulation gewettert, das Haus als ein ’ ewiger Rechts-
titel’ bezeichnet wird, der seinem Eigentümer als un-
erschöpfliche Quelle dient und zu einer ''zwei-, drei-,
fünf-, zehnmaligen'' Deckung der ursprünglichen Kosten
führe. Daraus wird folgendes Rezept abgeleitet: ''Die
Mietwohnung wird abgelöst... Dem bisherigen Haus-
besitzer wird der Wert seines Hauses bis auf den
Heller und Pfennig bezahlt. Statt daß, wie bisher, der
bezahlte Mietzins den Tribut darstellt, welchen der
Mieter dem ewigen Rechte des Kapitals bezahlt, statt
dessen wird von dem Tage an, wo die Ablösung der
Mietwohnung proklamiert ist, die vom Mieter be-
zahlte, genau geregelte Summe die jährliche Abschlags-
zahlung für die in seinen Besitz übergegangene Woh-
nung... Die Gesellschaft ... wandelt sich auf diesem
Wege in eine Gesamtheit unabhängiger freier Besitzer
von Wohnungen um.'' (Zitiert nach Engels, MEW 18,
223)
Diese Artikelserie nimmt F, Engels zum Anlaß einiger
Erwiderungen, die dann zu der grundlegenden Arbeit
"Zur Wohnungsfrage'' zusammengefaßt werden. Seine
Analyse des Wohnungsproblems im Kapitalismus als
ARCH+3 (1970) H. 11