Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1970, Jg. 3, H. 9-11)

dessen Auswirkung hat bis heute nichts an Aktualität 
eingebüßt. Sie richtet sich ebenso gegen solche Re- 
formvorschläge, die den Zusammenhang von Kapitalis- 
mus und Wohnungsfrage nicht erkennen und deshalb 
glauben, Auswirkungen des Kapitalismus abschaffen 
zu können, ohne ihn selbst in Frage zu stellen, als 
auch gegen Modelle zukünftigen Wohnens in einer so- 
zialistischen Gesellschaft, die bloße Utopien bleiben 
müssen. Daraus folgt, daß eine Lösung der Woh- 
nungsfrage nicht in irgendwelchen Selbsthilfen oder 
staatlichen sozialpolitischen Maßnahmen gesucht 
werden kann, sondern nur in der Überwindung des 
Kapitalismus selbst. 
III. Wohnungspolitik 
1. Wehrwillen und Sozialpolitik: Die Argumente zur 
Wohnungspolitik im und nach dem Ersten Weltkrieg 
Die wohnungspolitische Lage bis Kriegsbeginn zeich- 
nete sich durch eine unüberbrückbare Diskrepanz 
zwischen der materiellen Wirklichkeit und der Dis- 
kussion darüber aus, Die weitgehend akademischen 
Diskussionen über die Möglichkeiten einer Restaurie- 
rung, Reformierung oder Revolutionierung des Woh- 
nungswesens blieben ohne nennenswerte Auswirkung 
auf die Realität. Tatsächlich war die '"Liberalisierung'] 
die völlige Einordnung der Wohnungswirtschaft in die 
kapitalistische Wirtschaft weitgehend verwirklicht. 
Diese "Verwirklichung" geistert, natürlich unter Ab- 
strahierung von der wirklichen Lage der Mieter in 
diesem System, mit wechselnder Vehemenz durch die 
Zeilen der Literatur des Wohnungswesens bis hin zum 
Lücke-Plan, der sich ihr wieder besonders verpflich- 
tet fühlt. 
Kriegswirtschaft und Staatsintervention: Der Aufbau 
des Systems der Zwangswirtschaft 
Ein tatsächliches Nachvollziehen der ersten woh- 
nungspolitischen Schritte zerstört schnell die bürger- 
liche Legende, die kriegsbedingte Wohnungsnot nach 
dem Ersten Weltkrieg sei Ursache und Ausgangspunkt 
moderner Wohnungspolitik. Die staatliche Wohnungs- 
politik im Krieg setzte schon zu einer Zeit ein, in der 
die Ursachen der Wohnungsnot nach dem Krieg nicht 
bedacht werden konnten. Entscheidend scheint das 
Kräfteverhältnis zwischen den bisherigen Trägern der 
Wohnungsbaupolitik, das waren Bauunternehmen, 
Terraingesellschaften und Hypothekenbanken auf der 
einen Seite und dem Staat auf der anderen Seite, Erst 
im Ersten Weltkrieg war die Kapitalkonzentration, 
insbesondere in der Rüstungsindustrie, soweit fort- 
geschritten, daß deren Interesse als das '"nationale'' 
stark genug war, den Einfluß von Haus- und Grund- 
besitz zurückzudrängen. Und dieses '"natienale' In- 
teresse, das dann selbst die Sozialdemokraten ein- 
sahen, war die Erhaltung und Sicherung des Wehr- 
willens aus der Erkenntnis, daß die innenpolitische 
Sicherheit entscheidend wird zur Durchsetzung der 
Kriegsziele. Der Eingriff des Staates war hier nicht 
unmittelbar ökonomischer, sondern politischer Natur: 
Der Aufbau der Wohnungszwangswirtschaft diente 
zunächst dem Schutz der Mieter, die die Massen derer 
stellten, die den Krieg wirklich führen mußten. Die 
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zwangswirtschaftlichen Maßnahmen mußten jedoch 
zwangsläufig ökonomische Auswirkungen haben: das 
Einstellen jeglicher Neubautätigkeit und der durch die 
Zwangswirtschaft praktisch festgelegte Standard der 
Befriedigung des Wohnbedürfnisses erzwangen amtlich 
festgelegte Mieten bzw. Höchstmieten. Schon während 
des Krieges bezeichneten das Kriegerheimstättenge- 
setz und weitere Erlasse die Richtung, in der auf der 
Grundlage der Zwangswirtschaft Wohnungspolitik be- 
trieben werden sollte. Die reformerischen Bewegun- 
gen der Vorkriegszeit wurden direkt umgesetzt, in der 
Begründung verschmolzen diese Ideen mit den vorder- 
gründigen Absichten der Wehrhaftmachung des Volkes. 
Zur organisatorischen Durchführung dieser Schritte 
wurden die ersten Vorbereitungen getroffen: Zentrali- 
sierung staatlicher Organe, Vorbereitungen zur Auf- 
nahme der Bautätigkeit und Gewährung von Baukosten- 
zuschüssen, die die erhöhten Baukosten ausgleichen 
sollten. Schon diese erste einer langen Reihe von Maß- 
nahmen finanzpolitischer Art zeigt die Art des staat- 
lichen Eingriffs. Da man höhere Mieten für nicht trag- 
bar hielt, das heißt, da man nicht sicher war, ob diese 
ohne Widerstand hingenommen wurden, war es der 
Weg des geringsten Widerstandes, den Bauherren Bau- 
kostenzuschüsse in dem Maße zu geben, in dem sich 
die Baukosten verteuert hatten. Das preußische Woh- 
nungsgesetz von 1918 ist gekennzeichnet durch ein 
regelndes Eingreifen des Staates in Bau- und Boden- 
ordnung, Finanzierung und Organisation des Wohnungs- 
wesens. Es war erklärtes Ziel, das Kleinhaus und die 
Kleinhaussiedlung zu fördern, wofür denn auch die 
Vorschriften für Baukostenzuschüsse, über Enteig- 
nungen und Bauordnungen gedacht waren. 
Wohnungsbau als Befriedungspolitik: Die sozialdemo- 
kratische Lösung der Wohnungsfrage 
Die sozialdemokratisch regierte Republik übernahm 
in den Grundlagen praktisch die Wohnungspolitik. Es 
genügte eine Verschiebung der ideologischen Begrün- 
dungen, die sich schon durch eine Streichung der wehr- 
politischen Zielsetzungen ergaben, auf die Argumente 
der Wohnungsreformbewegung. 
Ausdruck dieser weitgehend an der Oberfläche blei- 
benden Umformulierung waren besonders die Zusam- 
menfassung der zwangswirtschaftlichen Verordnungen 
im Reichsmietengesetz, Wohnungsmangelgesetz und 
Mieterschutzgesetz sowie die Ablösung des Krieger- 
heimstättengesetzes durch das Reichsheimstättenge- 
setz 1920, in dem exemplarisch dargestellt ist, worum 
es immer mehr geht: um die Handhabung der Woh- 
nungspolitik als Sozialpolitik, die Korrumpierung des 
Bewußtseins der ''sozial schwachen Kreise'', 
Die Schwierigkeiten der Verwirklichung zeigen sich 
bald: Die Funktion von Angebot und Nachfrage, die im 
Kapitalismus den Bedarf regeln, ist durch die Zwangs- 
wirtschaft zum Teil außer Kraft gesetzt; die ausge- 
bliebene Neubautätigkeit im Kriege und die Abtretung 
von Reichsgebieten läßt Wohnungsnot tatsächlich der 
bürgerlichen Öffentlichkeit bewußt werden. Eine Be- 
hebung dieser Wohnungsnot ist kaum absehbar, ver- 
hindern doch Baustoff- und Kapitalknappheit und ins- 
besondere der geringe zu erwartende Gewinn privaten 
Wohnungsbaus in nennenswertem Umfang. Den '"Krie- 
gern'', die sich mit Hilfe der Zuschüsse eine Heim- 
stätte errichten wollen, fehlt jedenfalls das Kapital zur 
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