Full text: ARCH+ : Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung (1970, Jg. 3, H. 9-11)

Georg Kohlmaier 
ÜBER DIE FUNKTION DES ARCHITEKTEN, SEINE 
RECHNUNG MIT DEM HAUSWIRT ZU MACHEN 
In seinem 1930 geschriebenen Aufsatz "Der Autor als 
Produzent" (1) spricht Benjamin dem Schriftsteller die 
Autonomie ab, die er sich selbst zugestehen möchte: 
seine Freiheit zu dichten, was er wolle. Vor dem Hin- 
tergrund der damaligen gesellschaftlichen Lage, der 
Konsolidierung des Faschismus in Europa, stellt Benja- 
min vielmehr die radikale Frage nach dem Existenzrecht 
des Schriftstellers. Sie nötigt diesen zur Entscheidung, 
"in wessen Dienste er seine Aktivität stellen will". Die 
Frage präzisiert sich in der Frage nach der "politischen 
Tendenz", nach der Stellung des Autors zur möglichen 
gesellschaftlichen Alternative. Sie nötigt ihn zur Ent- 
scheidung auf der Grundlage des Klassenkampfes: in 
welchem bestimmten Klasseninteresse er arbeite. Der 
bürgerliche Kulturbetrieb lehnt die Beantwortung der in 
diesem Zusammenhang gestellten Frage ab. Er weigert 
sich, die Dialektik von literarischer Praxis und "politi- 
scher Tendenz" anzuerkennen. Die Weigerung gründet 
im dumpfen Wissen, daß in der Anerkennung dieser Dia- 
lektik der Begriff der Praxis zu einem kritischen Begriff 
werden kann, der sich gegen das von ihm propagierte 
Werk wendet, indem er dessen Ausrichtung auf ein be- 
stimmtes Klasseninteresse, eines, das sich mit dem der 
herrschenden Klasse deckt, zu Tage fördert. 
Wenn Benjamin auf der Frage nach der "politischen Ten- 
denz" insistiert, so wird ihm die literarische Tendenz 
zur literarischen Qualität nicht in einer Ausrichtung des 
Autors auf Politik schlechthin, sondern auf richtige 
Politik. Diese bestimmt sich für Benjamin in einer Poli- 
tik, die dem Proletariat in seinem Klassenkampf nützlich 
ist. 
Die Frage nach dem Verhältnis von politischer Tendenz 
und Qualität der Praxis der Intelligenz ist nicht am ein- 
zelnen, "starren" Werk überprüfbar, sondern nur im ge- 
samtgesellschaftlichen Zusammenhang, als Frage nach 
der Funktion des Werkes innerhalb des Produktionsver- 
hältnisses. "Sie zielt unmittelbar... auf die Technik des 
Werkes." Im Begriff der Technik, in welchem sich das 
aktive Verhalten des Menschen zur Gesellschaft enthüllt, 
findet Benjamin den Einstieg zur materialistischen Ana- 
Iyse der Funktion der produzierenden Intelligenz inner- 
halb des Produktionsverhältnisses. 
Die gängige Diskussion der Funktion von Architektur und, 
über sie vermittelt, der Funktion des Architekten bleibt 
innerhalb des Bannkreises der Kategorien von Raum und 
Zweck qua Form und Inhalt, die als architektonische 
Kategorien begriffen werden. Als Vorbewußtsein der rea- 
len politisch-ökonomischen Bedingungen, denen sich 
Architektur und der von ihr lebende Architekt verdanken, 
ist diese idealistische Konstruktion als eine echte Ver- 
drängung interpretierbar: Es wird vergessen, daß der 
Zweck nicht an seinem unmittelbaren Gegenstand, dem 
Bauwerk, gemessen werden kann: daß er, weil er gesell- 
schaftlicher Natur ist, nur ein relativer Zweck sein kann; 
daß der Raum nach dem historisch herrschenden Zweck 
gebildet wird; daß der Anspruch seiner gesellschaftlich- 
allgemeinen Vernünftigkeit ihm unterschoben und mit 
politischer Gewalt behauptet wird; daß daher die Frage 
nach der Funktion von Architektur nur über eine Kritik 
des sie beherrschenden Zweckes beantwortbar ist. Erst 
dadurch wird die akademische Fragestellung gesprengt 
und der geschichtliche Zusammenhang von Politik und 
Architektur hergestellt. 
Ich schlage vor, die funktionale Abhängigkeit von "po- 
litischer Tendenz" und Technik des Architekten am Pro- 
blem der "Wohnungsfrage" zu analysieren. Seit der 
Polemik Engels zu diesem Gegenstand hat die Bour- 
geoisie die Wohnungsnot kontinuierlich aufs neue erfun- 
den. Ihre Breite und Radikalität, mit der sie im Monopol- 
kapitalismus erzeugt wird, verbürgt ihre besondere, poli- 
tisch-ökonomische Bedeutung für diesen; sie wird damit 
zugleich zu einem Feld, von welchem aus der Architekt 
am wirkungsvollsten in den Reproduktionsmechanismus des 
herrschenden Systems eingreifen kann. 
Nehmen wir den Benjaminschen Ansatz, die Technik als 
Moment politischer Praxis zu begreifen, auf, so dürfen 
wir dessen Basis, die Ausrichtung der Praxis auf richti- 
ge Politik, nicht unterschlagen. Die richtige Politik 
manifestiert sich im Einsatz des Intellektuellen für den 
dem Proletariat nützlichen Klassenkampf. Ehe wir jedoch 
diese seine konkrete Praxis im Klassenkampf definieren 
können, müssen wir die ihm heute vorgeschriebene 
Form der Praxis rekonstruieren, innerhalb welcher er sich 
als Produzent verwirklichen kann. Wir müssen seine 
eigene Klassenlage, sein soziales Sein innerhalb des 
ARCH+: 3(1970) H. 9
	        

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