Georg Kohlmaier
ÜBER DIE FUNKTION DES ARCHITEKTEN, SEINE
RECHNUNG MIT DEM HAUSWIRT ZU MACHEN
In seinem 1930 geschriebenen Aufsatz "Der Autor als
Produzent" (1) spricht Benjamin dem Schriftsteller die
Autonomie ab, die er sich selbst zugestehen möchte:
seine Freiheit zu dichten, was er wolle. Vor dem Hin-
tergrund der damaligen gesellschaftlichen Lage, der
Konsolidierung des Faschismus in Europa, stellt Benja-
min vielmehr die radikale Frage nach dem Existenzrecht
des Schriftstellers. Sie nötigt diesen zur Entscheidung,
"in wessen Dienste er seine Aktivität stellen will". Die
Frage präzisiert sich in der Frage nach der "politischen
Tendenz", nach der Stellung des Autors zur möglichen
gesellschaftlichen Alternative. Sie nötigt ihn zur Ent-
scheidung auf der Grundlage des Klassenkampfes: in
welchem bestimmten Klasseninteresse er arbeite. Der
bürgerliche Kulturbetrieb lehnt die Beantwortung der in
diesem Zusammenhang gestellten Frage ab. Er weigert
sich, die Dialektik von literarischer Praxis und "politi-
scher Tendenz" anzuerkennen. Die Weigerung gründet
im dumpfen Wissen, daß in der Anerkennung dieser Dia-
lektik der Begriff der Praxis zu einem kritischen Begriff
werden kann, der sich gegen das von ihm propagierte
Werk wendet, indem er dessen Ausrichtung auf ein be-
stimmtes Klasseninteresse, eines, das sich mit dem der
herrschenden Klasse deckt, zu Tage fördert.
Wenn Benjamin auf der Frage nach der "politischen Ten-
denz" insistiert, so wird ihm die literarische Tendenz
zur literarischen Qualität nicht in einer Ausrichtung des
Autors auf Politik schlechthin, sondern auf richtige
Politik. Diese bestimmt sich für Benjamin in einer Poli-
tik, die dem Proletariat in seinem Klassenkampf nützlich
ist.
Die Frage nach dem Verhältnis von politischer Tendenz
und Qualität der Praxis der Intelligenz ist nicht am ein-
zelnen, "starren" Werk überprüfbar, sondern nur im ge-
samtgesellschaftlichen Zusammenhang, als Frage nach
der Funktion des Werkes innerhalb des Produktionsver-
hältnisses. "Sie zielt unmittelbar... auf die Technik des
Werkes." Im Begriff der Technik, in welchem sich das
aktive Verhalten des Menschen zur Gesellschaft enthüllt,
findet Benjamin den Einstieg zur materialistischen Ana-
Iyse der Funktion der produzierenden Intelligenz inner-
halb des Produktionsverhältnisses.
Die gängige Diskussion der Funktion von Architektur und,
über sie vermittelt, der Funktion des Architekten bleibt
innerhalb des Bannkreises der Kategorien von Raum und
Zweck qua Form und Inhalt, die als architektonische
Kategorien begriffen werden. Als Vorbewußtsein der rea-
len politisch-ökonomischen Bedingungen, denen sich
Architektur und der von ihr lebende Architekt verdanken,
ist diese idealistische Konstruktion als eine echte Ver-
drängung interpretierbar: Es wird vergessen, daß der
Zweck nicht an seinem unmittelbaren Gegenstand, dem
Bauwerk, gemessen werden kann: daß er, weil er gesell-
schaftlicher Natur ist, nur ein relativer Zweck sein kann;
daß der Raum nach dem historisch herrschenden Zweck
gebildet wird; daß der Anspruch seiner gesellschaftlich-
allgemeinen Vernünftigkeit ihm unterschoben und mit
politischer Gewalt behauptet wird; daß daher die Frage
nach der Funktion von Architektur nur über eine Kritik
des sie beherrschenden Zweckes beantwortbar ist. Erst
dadurch wird die akademische Fragestellung gesprengt
und der geschichtliche Zusammenhang von Politik und
Architektur hergestellt.
Ich schlage vor, die funktionale Abhängigkeit von "po-
litischer Tendenz" und Technik des Architekten am Pro-
blem der "Wohnungsfrage" zu analysieren. Seit der
Polemik Engels zu diesem Gegenstand hat die Bour-
geoisie die Wohnungsnot kontinuierlich aufs neue erfun-
den. Ihre Breite und Radikalität, mit der sie im Monopol-
kapitalismus erzeugt wird, verbürgt ihre besondere, poli-
tisch-ökonomische Bedeutung für diesen; sie wird damit
zugleich zu einem Feld, von welchem aus der Architekt
am wirkungsvollsten in den Reproduktionsmechanismus des
herrschenden Systems eingreifen kann.
Nehmen wir den Benjaminschen Ansatz, die Technik als
Moment politischer Praxis zu begreifen, auf, so dürfen
wir dessen Basis, die Ausrichtung der Praxis auf richti-
ge Politik, nicht unterschlagen. Die richtige Politik
manifestiert sich im Einsatz des Intellektuellen für den
dem Proletariat nützlichen Klassenkampf. Ehe wir jedoch
diese seine konkrete Praxis im Klassenkampf definieren
können, müssen wir die ihm heute vorgeschriebene
Form der Praxis rekonstruieren, innerhalb welcher er sich
als Produzent verwirklichen kann. Wir müssen seine
eigene Klassenlage, sein soziales Sein innerhalb des
ARCH+: 3(1970) H. 9