beseitigen ist.
Erschwerend wirkt dabei auch, daß die ideologische
Entfernung zwischen städtischem Industrieproletariat
und den ländlichen Schichten sich durch die Sozialisie-
rung der Großindustrie und die bloße Überführung der
Landwirtschaft ins Kleineigentum zeitweise verschär-
fen muß - was nur durch umfassende politische Arbeit
aufzufangen ist. Jede Vernachlässigung der ökonomi-
schen und politischen Entwicklungsaufgaben auf dem
Lande muß die Basis des sozialistischen Aufbaus selbst
treffen. Voraussetzung ist die Umverteilung der ma-
teriellen Ressourcen wie der politischen Avantgarde
und der technischen Spezialisten (11).
In welchem Maße ist das möglich, wenn aus der be-
schriebenen Lage die Konzentration aller Kräfte auf
den Wiederaufbau der industriellen Zentren erfolgen
muß? Sicher kann man diese Frage nicht stellen, ohne
anzuerkennen, daß die Umverteilung ein in vielen
Etappen langfristig anzugreifendes Problem ist, wäh-
rend der schwerindustrielle Aufbau die grundlegende
erste Aufgabe ist; aber auch nicht ohne zu sehen, daß
der Ungleichzeitigkeit der Aufgabenbewältigung enge
Grenzen gesetzt sind - um die Neuschöpfung von Dis-
proportionen zu vermeiden. Aber auch wenn man die
notwendige Ungleichzeitigkeit anerkennt, verdient die
schnelle Bedeutungszunahme der Stadt größte Aufmerk-
samkeit.
Schon in den 1950 Gesetz gewordenen "16 Grundsützen
des Stádtebaus" wird der Begriff "sozialistischer
Stidtebau'" mit revolutionárer Umgestaltung gleichge-
setzt, wird die Stadt als 'wirtschaftlichste und kultur-
reichste Siedlungsform für das Gemeinschaftsleben der
Menschen" postuliert.
Auch in den vielfachen Erklärungen der SED, die den
Wiederaufbau der Städte zur vordringlichsten Aufgabe
machen, spiegelt sich nichts von der Problematik
wider, wie denn die Beseitigung des Stadt/Land-Ge-
gensatzes in Angriff zu nehmen sei. "Stadt" und "Land"
erscheinen in programmatischen Schriften nie in dia-
lektischer Einheit, sondern werden als getrennt zu
behandelnde Phänomene gesehen (12).
A. 6 Das Fehlen zusammenfassender Raumordnungs-
vorstellungen
Eine bewußt gelenkte Gebietsplanung wird erst nach
1962 aufgebaut und in das volkswirtschaftliche Pla-
nungsinstrumentarium integriert. Die strukturelle
Entwicklung als Teil der sozialistischen Volkswirt-
schaft schien anfangs örtliche, regionale wie nationale
Gebietsplanung zu erübrigen, da sich aufgrund der
Einheitlichkeit der Planung und des Fehlens antagoni-
stischer Widersprüche theoretische Probleme der
territorialen Verteilung erst gar nicht einstellen konn-
ten. So mußte sich erst in den realen Auswirkungen
zeigen, daß die Organisation der räumlichen Arbeits-
teilung nicht naturwüchsig optimal ausfällt, solange
die Bedingungen der Übergangsgesellschaft gelten.
Die Fähigkeit zum Fortschritt der Übergangsgesell-
schaft kann nur darin liegen, daß der Widerspruch
zwischen Ziel und den wirkenden Kräften des Augen-
blicks treibender Motor ist - anders ausgedrückt, daß
die Politik das Primat gegenüber den realen Kräften
5
der Wirtschaft innehat.
Auf der Ebene der Organisation räumlicher Arbeits-
teilung heißt das, daß die Sicherung des langfristigen
und umfassenden Wachstums das Primat vor sektora-
lem, zeitlich und örtlich begrenztem Rekordwachstum
haben muß, daß die Herstellung einheitlicher, Sozia-
listischer gesellschaftlicher Beziehungen der entspre-
chenden materiellen Basis bedarf.
Dies ist der Wertmafistab,der im folgenden der ansatz-
weisen Untersuchung der Territorialplanung zugrunde-
gelegt wird.
B. Der Übergang zum "Neuen ökonomi-
schen System der Planung und Leitung"
(NÖSPL)
B.1 Die dem NÖSPL vorausgehenden Anforderungen
an Planung und Leitung
Die "Periode des planmäßigen Aufbaus
einer demokratischen Friedenwirtschaft"
(1945-50) ließ sich kurz zusammengefaßt charakterisie-
ren. Trotz und wegen der von außen gesetzten Kompli-
kationen waren die Anforderungen an Planung und Lei-
tung relativ einfach. Die straffe zentralistische Führung
der SED hatte das Fehlen sozialistischer Organisations-
formen zu kompensieren. Dieser eindimensionale Lei-
tungsmechanismus war nur deswegen aufrecht zu erhal-
ten, weil er im wesentlichen den Anforderungen des
simplen Grundschemas des Wirtschaftsaufbaus genügte.
Die folgende "Periode der planmäßigen Er-
richtung der Grundlagen des Sozialismus
und des Sieges der sozialistischen Pro-
duktionsverhältnisse" (1950-62) (13) ist kein
derart in sich geschlossener Zeitabschnitt einheitlicher
Prägung, wie der später verliehene offizielle Titel ver-
muten läßt. Sie war die bedeutungsvolle Etappe, in der
die Entscheidung fallen mußte, welche der beiden Kräfte
- die fortbestehende bürgerliche oder die neue soziali-
stische - die führende Rolle im Aufbau übernehmen
würde.
Sie brachte zunächst die Wendung zum vollen Sieg der
neuen sozialistischen Produktionsverhältnisse - ge-
kennzeichnet durch die Umformung der SED von der
Bündnispartei zur Kampfpartei der Arbeiterklasse 1952,
die die Qualifizierung der Arbeiterklasse für die ge-
sellschaftliche Aneignung der Produktion in politischer,
technischer und ökonomischer Hinsicht erst ermög-
lichte. In diese Zeit fällt aber auch die folgenschwere
Veränderung im politischen und wirtschaftlichen System
der UdSSR, die mit dem Jahr 1953 beginnt, sich zu-
nächst unter der Oberfläche entfaltet und mit ihrem
Nachaußentreten 1956 sehr bald für die DDR bestimmend
wird.
Das damit verbundene Erstarken exclusiver, nicht ge-
sellschaftlicher Interessen in der SED geht nicht kampf-
los vonstatten; aber im Nachhinein zeigt sich das Auf
und Ab der Auseinandersetzungen als kontinuierliche
Schwächung der Macht der Arbeiterklasse - verbunden
mit dem Aufrücken der DDR zu einem der bedeutend-
sten industriellen Produzenten der Welt.
ARCH+ 15 (1971-3)