materiellen Voraussetzungen, seine Forderungen am
bürgerlichen Komfort zu orientieren; auch existierten
noch keine Werbemethoden der Konsumgüterindustrie,
die das fehlende Bedürfnis geweckt haben könnten.
(Erst die Notwendigkeit, neue Märkte durch neue Be-
dürfnisse zu erschließen, veranlaßt das Kapital, durch
entsprechende Methoden die in Lohnkämpfen gewonne-
nen Groschen auf dem Weg über die Verwirklichung
kollektiver Phantasiebilder wieder zu ersetzen.)
2. 1871-1914. Die Auswirkungen der imperialistischen
Wirtschaft auf die Reproduktionsbedingungen der Ar-
beiter
2.1 Die Verschärfung des Klassenkampfes von oben
als Voraussetzung für den Ausgleich im europäischen
Kapitalismus
Die internationale gewaltsame Ausweitung des Kapita-
lismus hatte sich schon in der vorimperialistischen
Epoche auf die Klassenkümpfe der Arbeiter ausgewirkt.
Doch wurden diese gerade im und nach dem deutsch-
franzósischen Krieg entscheidend bestimmt durch die
Auseinandersetzung der Industrienationen untereinander
und mit den rückstündigen Lándern. Der Kapitalismus
zerschlügt dort brutal die bestehenden Produktionsfor-
men, ruiniert die Bauernschaft genauso wie das stáüdti-
Sche Kleinbürgertum und schafft auch dort eine kapi-
talistische Industrie mit ihrem Proletariat.
Die Arbeiterbewegung, die in den ersten Jahren nach der
Niederschlagung der Revolution von 1848 erstarrt war,
begann sich in den 50er Jahren langsam wieder zu
erholen. 1864 entstand schließlich als Antwort auf die
weltweite Macht des Kapitals die I. Internationale,
deren Inauguraladresse betont, daß "trotz des kolossa-
len Wachstums der Industrie und des Handels die Not
der Arbeiterklasse nicht geringer geworden sei und
nicht radikal verbessert werden könne, solange der
Kapitalismus bestehe. Zwei Erfolge der Arbeiterklasse
in den letzten zehn Jahren wurden hervorgehoben: das
Gesetz über den Zehn-Stunden-Tag in England und die
Genossenschaften, die ursprünglich ebenfalls in Eng-
land entstanden waren" (26).
Zwanzig Jahre später - unter Bismarck - hatte die
Arbeiterklasse auch in Deutschland einige Verbesse-
rungen erreicht: das Kranken- und Unfall-Versiche-
rungsgesetz. Gleichzeitig aber wurde es seiner poli-
tischen Forderungen größtenteils beraubt durch die
Ausnahmegesetze, die den notwendigen inneren Schutz
der gesteigerten Industrieproduktion darstellten; nach
außen hin errang das Deutsche Reich seine Wettbe-
werbsfähigkeit durch die Schutzzollpolitik (1878). Die
vier Milliarden französischer Kriegsentschädigung, die
in überraschend kurzer Zeit gezahlt wurden, erzeugten
in der deutschen Wirtschaft ein ungeheures Spekulations-
fieber ('Gründerjahre"), das schlieflich zu der schwe-
ren Krise von 1874 führte. Diese Krise rückte die
Standes- und Klassengrenzen weiter auseinander und
Schuf die Voraussetzungen zu einer erhóhten Stufe der
Konzentration.
Die doppelte Ausbeutung des Proletariats (stirker als
in England oder in den USA) äußerte sich vor allem in
den schnell steigenden Produktionszahlen einerseits
und den erhöhten indirekten Steuern (für Zucker, Petro-
ARCH+ 15 (1971-3)
leum (Licht!), Bier und Tabak) andererseits. Die Ver-
schärfung des Klassenkampfes von oben war Voraus-
setzung für den Ausgleich im europäischen Kapitalis-
mus. "Wenn ehemals England in industrieller Bezie-
hung allen Ländern stark überlegen war, und sie mehr
als hundert Jahre weit hinter sich zurückließ, so
brauchte Deutschland später, in der Periode des mono-
polistischen Kapitalismus, nur zwei Jahrzehnte dazu,
um England zuvorzukommen' (27).
Für die Industriearbeiter brachte diese Entwicklung
nicht viel. Die folgende Tabelle zeigt die Löhne der
besonders bevorzugten Kategorien von Lohnarbeitern,
der Bergarbeiter im Ruhrgebiet, der Maurer und
Drucker (Auszug von Kuczinski, zitiert nach "Illustrierte
Geschichte der deutschen Revolution, Junius-Drucke).
Jahr Maurer Buchdrucker
Schichtlohn Stundenlohn | Wochenlohn
Dortmund Dresden Berlin
Bemerkungen
1873 | 5,00
1879 | 2,55
1890 | 3,98
1900 | 5,16
1905 | 14,84
19131 6.02
0,37
0,22
0,36
0,45
0,51
0.64
i
"
26,00
23,40
26,25
26,25
28,13
ca. 32,00
Krise 1874
Aufhebung der Ausnahmegesetzel
Beginn der großen Streiks (29)
Kampf der Gewerkschaften
Zum Vergleich: Bergarbeiter in Saarbrücken 1912:
4,83 M., in Aachen 5, 56, Oberschlesien 4,22 und
Niederschlesien 3, 71 M. In der gleichen Zeit stiegen
jedoch die Lebensmittelpreise und notwendigen Aus-
gaben der Arbeiterfamilien ganz erheblich: Bis 1890
sanken die Weltmarktpreise für Getreide, Fleisch
usw., hervorgerufen durch die amerikanische und
russische Konkurrenz. 1906 lie der Zolltarif die Le-
bensmittelpreise weiter steigen. Auch stiegen mit der
Erweiterung der Großstädte (Abriß, Neubau und Bo-
denspekulation) die Wohnungsmieten; Ausgaben, die
vom steigenden Nominallohn abgezogen werden müssen.
So fiel der Reallohn der Dortmunder Bergarbeiter von
1905 bis 1913 um 11 % (28).
Zu den Arbeiterwohnungen der Gründerzeit schreibt
Hegemann (30): "Eine Beschränkung der ausnutzbaren
Bauflüche gab es nicht ... Auf dem Hintergelände wäre
die preußische Regierung (verantwortlich für die Bau-
ordnung) wohl auch ganz ohne Luft- und Lichtschüchte
ausgekommen - gegen fensterlose Ráume machte sie
keine Einwendungen - wenn sie nicht vor dem Feuer
Angst gehabt hätte: Die von ihr geforderten Höfe (31)
hatten gerade die Mindestbreite, die zum Umdrehen
der Feuerspritze erforderlich war.' Der Berliner
Polizeipräsident erlaubte mit einem neuen Bebauungs-
plan noch sehr viel tiefere Grundstücke und ermöglichte
damit eine entsprechend größere Aufnahmefähigkeit.
So entstanden in Deutschland die Arbeiterhäuser mit
oft 5-6 Hinterhöfen. "Als sich die Regierung nach mehr
denn 30jähriger Wirksamkeit dieser Bauordnung dran-
machte, sie ein wenig zu verbessern, kämpften die
Grundbesitzer wie Löwen um das ’ wohlerworbene
Recht’, auch künftig ihren Boden "so gemeinschüdlich
auszuschlachten' und entsprechend teuer zu vermieten.
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