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lich auf die Spur zu kommen; wer wählt dazu als einen Bezugspunkt
schon sich selbst — wie Julius Posener — und gibt damit schonungs-
los den Blick frei auf seine gesellschaftliche Lage, die ihm einerseits
eine gehörige Distanz zu den gewöhnlichen Wohnungsproblemen
im damaligen Berlin, dem Wohnungselend und der Wohnungsnot
der Massen, erlaubt und andererseits zugleich eine Fessel hinsicht-
lich radikaler Erkenntnis von deren Ursachen sein kann. Vielleicht
erklärt seine auch aus räumlicher Distanz gewonnene Erfahrung
der Berliner Wohnverhältnisse, daß er am Lichterfelder Beispiel
die Vororte kritisch wohl als die goldenen Käfige der Besitzen-
den darstellt, nicht aber zugleich als Fluchtstätten der Bourgeoi-
sie vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit der von ihr verursach-
ten entwürdigenden Lebensbedingungen des Proletariats.
Julius Poseners ‘erfahrene’ Erkenntnisse werden so zu einer
kritischen Bestandsaufnahme der bürgerlichen Gesellschaft.
Ungewöhnlich ist das persönliche Moment der Argumentation
vor allem im Rahmen des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebes,
dessen Grenzen Julius Posener deutlich aufzeigt , aus dem er
sich aber nicht hat hinausdrängen lassen.
In dem Maße, in dem die eigene Erfahrung zum Bezugspunkt
gemacht — und Persönliches dem Anekdotischen wiederum ent-
zogen wird — wird nochmals der Blick freigelegt auf den Autor,
auf sein Verständnis von der Aufgabe derer, die ihre Arbeits-
kraft darauf verwenden können, gesellschaftliche Realität syste-
matisch zu betrachten und zu erklären; indem Julius Posener
aus seiner Wissenschaft Konsequenzen ableitet, Partei ergreift
und handelt, überschreitet er die Grenzen bürgerlichen Wissen-
schaftsverständnisses.
Gerade im Zuge der heutigen Entwicklung, in der sich die poli-
tischen Bedingungen im Praxisbereich der Bau- und Stadtplanung
sowie an den Hochschulen zunehmend verschärfen, ist eine be-
merkenswerte Konsistenz im aufklärerischen Verhalten des Bür-
gers und Wissenschaftlers Julius Posener hervorgetreten:
ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 25
Auf der einen Seite trägt er dazu bei, schonungslos die Täuschungs-
manöver anzuprangern, mit denen die Berliner Senatsbauverwal-
tung die Realisierung der Stadtautobahn auf Grün- und Erholungs-
flächen der Arbeiterviertel Kreuzberg und Neukölln durchzudrük-
ken versucht; hierzu stellt er sich in den Dienst engagierter Bevöl-
kerung als Fachmann und mit der Autorität seines Amtes als Vor-
sitzender des Deutschen Werkbundes. Zum anderen vertritt er
offensiv die Ziele der Reform des Architekturstudiums an der
TU Berlin gegen Diffamierungen und Staatseingriffe des Wissen-
schaftssenators, indem er die Reform gemeinsam mit Studenten
und wenigen fortschrittlichen Lehrenden praktiziert; er tut dies
als Hochschullehrer, der selbst noch lernt und konsequent danach
handelt: im Konfliktfall verteidigt er aktiv die kritische Revision
des Berufs- und Wissenschaftsverständnisses und gerät damit voll-
kommen in Gegensatz zu seinen Kollegen, den sonst so selbstherr-
lichen, hier sich aber plötzlich feige hinter dem Staatskommissar
versteckenden Herren Ordinarien.
Die Verarbeitung und Anwendung dieser in öffentlichen Ausein-
andersetzungen gewonnenen Erfahrungen ist ein wesentliches
Moment seiner Ansätze, Probleme der Bau- und Stadtplanung zu
durchdringen; daß bei deren Darstellung der persönliche Bezugs-
punkt stets durchscheint, verleiht ihnen so eindringliche sinnliche
Anschaulichkeit.
Den Stellenwert ins Gespräch zu bringen, den ein derart persön-
liches Moment in der Diskussion über Planungspraxis und -theorie
hat, ist auch für Arch+ etwas ungewöhnliches. Wir wollen damit
unterstreichen, wie wichtig es für materialistisches Vorgehen ist,
die eigene gesellschaftliche Lage in die Analyse der Verhältnisse
der Bau- und Stadtplanung einzubeziehen, gerade weil sie die
Grundlage ist für die Diskussion über die politischen Perspektiven
beruflicher Praxis in diesem Bereich. Begreifen wir die Ausein-
andersetzungen darum als eine über Individuen bloß vermittelte
Bewegung, so charakterisiert das Beispiel Julius Posener eine ernst
zu nehmende Ausgangsposition.
Die Redaktion