Full text: ARCH+ : Studienhefte für Planungspraxis und Planungstheorie (ab H. 28: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen) (1975, Jg. 7, H. 25-28)

ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 25 
Die Berliner Stadtverordneten, das sogenannte Hausbesitzer- 
parlament 8, hatte durch jahrelangen Widerstand gegen die 
Eingemeindung des Berliner Weichbildes die räumliche Erwei- 
terung der Stadt zugunsten ihres Monopols als städtische 
Miethausbesitzer verzögern können, obwohl die Einwohner- 
zahl infolge der Bevölkerungskonzentration, die die in den 
40er Jahren einsetzende Industrialisierung in den Städten ver- 
ursachte, so stark angestiegen war, daß der Bedarf an Wohn- 
raum innerhalb der Berliner Stadtmauer kaum noch zu dek- 
ken war. Nun wurden mit obrigkeitlich oktroyierten Maßnah- 
men 9, der Eingemeindung von 1861 und dem Bebauungsplan 
von 1862, die Voraussetzungen für die bauliche Erweiterung 
Berlins über die Stadtmauer hinaus durchgesetzt. 
Hatte ein schon in den Jahren 1827 — 30 aufgestellter ’Be- 
bauungsplan der nächsten Umgebung Berlins’, wie auch der 
Bebauungsplan für das Köpenicker Feld, teilweise noch in 
den Prozeß der Privatisierung von Grund und Boden dahin- 
gehend eingreifen können, daß das für gemeinnützige Belange 
von Staat und Kommune erforderliche Land im Separations- 
verfahren rechtzeitig erworben werden konnte, so sah sich 
das Kgl. Polizei-Präsidium als die den Bebauungsplan aufstel- 
lende Behörde 1862 vor die Tatsache gestellt, seine Planungs: 
absichten auf Grund und Boden realisieren zu müssen, der 
unter den neuen Eigentumsverhältnissen bürgerliches Privat- 
eigentum geworden und damit dem staatlichen Zugriff ent- 
zogen war. 
Daraufhin reduzierte der Staat den Inhalt des Bebauungs- 
planes auf die Reservierung von Grund und Boden für das 
projektierte Straßennetz und verfolgte dessen Anlegung. 
Art und Ausmaß der Nutzung des Bodens überließ er den 
Eigentümern. 
Die Kgl. Kabinets-Ordre vom 26. Juli 1862 setzte den Bebau- 
ungsplan in Kraft mit der Maßgabe, „daß das datauf zu Stras- 
sen bestimmte Terrain von der Bebauung frei zu halten sei”. 
Durchgesetzt wurde diese Ordre durch das Kgl. Polizeiprä- 
sidium, indem es Bauanträgen, die zukünftiges Straßenland 
betrafen, die Genehmigung versagte, wie auch solchen, in 
denen das zukünftige für das Straßennetz reservierte Terrain 
nicht unentgeltlich an die Kommune abgetreten worden 
war. 
Gelang es dem Staat auf diese Weise, mit den ihm verbliebe- 
nen Mitteln absolutistischer Obrigkeit die Aufstellung des 
Bebauungsplanes und die Anlegung-der Straßen durchzu- 
setzen, so nahmen die Grundeigentümer bald schon die 
endgültige Verwirklichung des Straßenplanes in eigene Re- 
gie und paßten den Bebauungsplan damit ihren Nutzungs- 
interessen an. 
Sie hatten schon während der Planaufstellung durch das 
Kgl. Polizeipräsidium, als Planausschnitte dem Berliner 
Magistrat und den Stadtverordneten zur Stellungnahme 
vorgelegt und damit dem hausbesitzenden Teil der bürger- 
lichen Öffentlichkeit bekannt geworden waren, erkennen 
lassen, daß sie sich in ihrem gerade gewonnenen Anspruch 
13 
auf uneingeschränkte Nutzung des privaten Grund und Bo- 
dens beeinträchtigt und verunsichert fühlten und gegebe- 
nenfalls Entschädigungsansprüche in Aussicht gestellt. 
Anhand der auf die Genehmigung folgenden ‘Revisionen 
des Bebauungsplanes’, also Abänderungen des projektier- 
ten Straßennetzes infolge Einspruchs einzlener oder Grup- 
pen betroffener Grundeigentümer, läßt sich bis in die ein- 
zelnen Karten hinein der wachsende Respekt der Obrigkeit 
vor den Grenzen des privaten Grundeigentums verfolgen. 
Das Interesse der privaten Grundeigentümer an dem über 
ihren vorstädtischen Grundbesitz gelegten Straßenplan er- 
wachte und wuchs in dem Maß, wie erkennbar wurde, daß 
der Bedarf an Wohnungen innerhalb der Stadtmauer nicht 
mehr zu decken war. Als in den 60er Jahren das Köpenicke: 
Feld, die letzte Baulandreserve innerhalb der Stadtmauer, 
den Grenzen der Bauordnung von 1853 entsprechend eng 
und hoch mit Mietskasernen bebaut worden war, begann 
nach dem dort entwickelten Vorbild der äußersten bauli- 
chen Nutzung des Grundeigentums die bauliche Verwer- 
tung des vorstädtischen Grund und Bodens. 10 
Von 1862 bis 1872 wurde die Zahl der Wohnungen in Ber- 
lin von 113.000 auf 173.000 vergrößert; die Zahl der Zi- 
vilbeölkerung stieg von 525.000 auf 805.000 an. Das be- 
deutete zugleich einen Anstieg der durchschnittlichen 
Wohndichte von 45 auf 64 Einwohner pro Grundstück, 
wobei während der letzten fünf Jahre die Zahl der Woh- 
nungen um 2,4%, die der Bevölkerung um 4,5% gestiegen 
war 11, Diese Wohndichte, die bis 1900 auf 77 Einwohner 
pro Grundstück noch anstieg, wurde erst auf dem ehemals 
vorstädtischen Grund und Boden erreichbar. 
Von den entsprechenden Wohnverhältnissen, die die städti- 
schen Grund- und Hausbesitzer in Ausnutzung der ihnen 
durch die gesellschaftlichen Verhältnisse verschaffen Pri- 
vilegien, vor allem des privaten Grundeigentums, verur- 
sachten und weit über das Land verbreiteten, zeugt das 
folgende Dokument: „Eine von der Berliner Socialdemo- 
kratie einberufene, am 24. September 1871 im Alcazar, 
von ca. 5-6000 Menschen besuchte Volksversammlung 
öffnete der Mehrzahl der Berliner die Augen über die in 
großen Kreisen herrschende Stimmung zur Sache. Die 
gehaltenen Reden ließen an Deutlichkeit nichts zu wün- 
schen übrig, und folgende Resolution wurde mit allen 
gegen eine Stimme gefaßt: Die Versammlung erklärt die 
Wohnungsnot und Steigerung der Mieten in großen Städ- 
ten als Folge der heutigen socialen Zustände, welche es 
den Grundbesitzern ermöglichen, durch die Bodenrente 
das arbeitende Volk auszubeuten und nicht der Bedürf- 
nisse des Volkes sondern schwindelhafter Speculation hal- 
ber den Wohnungsbau zu betreiben. Die Versammlung er- 
klärt daher, daß nur durch den socialdemokratischen Staat, 
wo aller Grund und Boden Gemeingut ist und, den Be- 
dürfnissen des Volkes gemäß, Arbeiter-Productivgenossen- 
schaften die Wohnungen herstellen, aber nicht durch 
Palliativmittel der heutigen Wohnungsnoth und den groß-
	        

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