ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 27
Ha
Ein drittes Moment leitet sich aus den beiden schon ge-
nannten ab ]der abstrakte Voluntarismus der unmittel-
baren Ableitüng „konkreter“ Strategien aus der allgemei-
nen Kapitalanalyse und der Rekurs auf die Verteidigung
der unmittelbar ökonomischen Interessen haben ihren. ge-
meinsamen Nenner in einem analytischen Objektivismus,
der einen engen Kausalzusämmenhang von ökonomischer
Lage und politischem Bewußtsein| unterstellt. und so.das.
Problem der Konstitution von Subjektivität und politischer
Identität und damit gerade jene Dimension des Entstehungs-
prozesses kollektiven Widerstands ausblendet, auf die sich so
zialistische Politik ebenso gründet wie die Praxis basisdemo-
kratischer Bewegungen: die unmittelbar politische Dimen-
sion, welche bezogen ist auf die Subjekte als Subjekte.und.
hicht als Träger von Charaktermasken, sei es die des Staats-
bürgers oder die des Verkäufers der Ware Arbeitskraft.
Politisches Handeln in diesem unverkürzten Sinne be-
ginnt dort, wo das Verhalten als Charaktermaske auf-
hört. Diese politische Dimension ist also bezogen auf den
xirklichen. Lebensprozeßfelbst, und dessen immanente _
Zielbestimmung ist nicht, die Arbeitskraft zu reproduzie-
ren, sondern: im emphatischen Sinne, zu jeher. Diese
subjektive Zielbestimmung steht in einem strukturell un-
aufhebbaren Gegensatz zu den von außen, d.h. vom Ka-
pital und seiner Gesellschaft, gesetzten Zwecken, welche
die Subjekte tagtäglich in einander ausschließende Cha-
raktermasken parzellieren den zum Gehorsam gezwun-
gegen Produktionsagenten, das häusliche und kulturelle
Wesen und schließlich den Staatsbürger. Um den Preis
der Wahrung ihrer persönlichen Identität sind die Sub-
jekte freilich gezwungen, jenen strukturell unaufhebba-
ren Gegensatz fortwährend für sich praktisch aufzuhe-
ben — ein, wie sich zeigt, trotz gesellschaftlich yorfor-
mulierter, mit Angst zusammengekitteter Identitäts-
schablonen, welche eine notdürftige und zwangsweise
rigide Integration der diversen Charaktermasken anbie-
ten, stets problematischer, weils stets repressiver Prozeß.
Die Brüchigkeit dieser-Integrationsmuster definiert die
Möglichkeit einer politischen Identitätsfindung. Diese re:
alisiert.sich in sozialen.Situationen, in.welchen.die.stum-..
me Repressivität.des-Alltags manifest oder. unerträglich.
ee die Gleichartigkeit der Lage und. der. subjektiven.
\ öglichkeiten eine kollektive Identitätsfindung erlaubt.
Kollektives politisches Handeln, welches ein Verhal-
ten als Charaktermaske wenigstens ansatzweise aufhebt,
welches die Scheidung von Interessenvertretung und
Vertreterinteressen rückgängig macht, scheint uns
das gemeinsame, das — wie wir es hier nennen wollen —
basisdemokratische Moment sowohl jener Gewerkschaft-
lergruppen, welche sich der gewaltsamen ‘Logik‘ gesamt-
wirtschaftlich verantwortlicher Sozialpartnerschaft ent-
gegenstellen, zu sein, als auch jener ‘Bürgerinitiativen‘,
welche sich weder auf Interessenverbände noch auf Wäh-
lerinitiativen reduzieren lassen 21).
Wir haben in den letzten Abschnitten, die „gewerk-
schaftliche Orientierung“, welche wir bisher mitgetragen
haben, theoretisch kritisiert, und es mag manchem schei-
nen, daß sich diese Kritik in ihren ganzen theoretischen
die Ile: -
Abstraktheit eigentlich vom Gegenstand der Kritik
kaum unterscheidet. Der nicht immer völlig zu vermei-
denden theoretischen Abstraktion entspricht aber u.E,
anders als früher nicht eine politische Abstraktheit. ;
Wenn wir hier die Bedeutung basisdemokratischer Ak-
tionen und Initiativen betonen, dann nicht aufgrund bloß
theoretischer Deduktionen, sondern aufgrund der Erfah-
rungen der gegenwärtigen Krisensituation und Rechts-
entwicklung in der BRD. Diese erscheint uns aber
auch mehr als bloß pragmatische oder taktische Reak-
tion zu erfordern. Wenn wir also die ausschließliche „ge-
werkschaftliche Orientierung“ zuerst theoretisch kriti-
siert haben, bevor wir ihre Tragfähigkeit in der gegen-
wärtigen Situation einzuschätzen suchen, dann nicht
um wieder einmal einen sektiererischen Streit zu entfa-
chen, sondern um die sektiererisch-dogmatischen Eier-
schalen, die jener Position nach wie vor anhaften, begrün-
det abzuwerfen, aber auch um gerade jetzt die Gefahren
der unterschwelligen Entpolitisierung, die diese Position
eher befördert, deutlich zu machen. Denn die spezifische
Verbindung einer dogmatischen Verklärung der Gewerk-
schaften mit der zur Schau gestellten politischen Be-
scheidenheit des Rückzugs auf die Verteidigung mate-
rieller Interessen, kann unter dem gegenwärtigen Druck
allzuleicht im sanften Ruhekissen politischer Abstinenz
versacken und zu einer opportunistischen Orientierung
an der gewerkschaftsoffiziellen Linie führen. Es erscheint
uns daher fraglich, ob die „gewerkschaftliche Orientie-
rung“ das sein kann, als was-sie gedacht war, nämlich ei-
ne Auffangbasis angesichts der Wirkungen der veränder-
ten gesellschaftlichen Situation zu bilden.
III. Notwendigkeit einer Neubestimmung der
Funktion der Zeitschrift
1.
Die veränderte Situation nach der „Tendenzwende‘“
Anders als bisher geschehen kann die Redaktion einer
politischen Fachzeitschrift nicht zur Tagesordnung über-
gehen angesichts dessen, was in einem doppelten Sinn
„Tendenzwende“ genannt wurde:
— das Scheitern einer Reformpolitk über die Köpfe der
vermeintlichen Adressaten hinweg und der Umschlag
der „demokratischen Reformen“ in Demokratiere- *
form, also weniger Demokratie; .
das Ende einer durch Prosperität und durchgreifenden
Strukturwandel gekennzeichneten Phase der-Kapital-
akkumulation und ihre mutmaßliche Ablösung durch
eine Periode der Stagnation, welche auch das Ende
einer quasi-automatischen Loyalitätsbindung auf-
grund ökonomischer Prosperität bedeutet, damit aber
keineswegs’andere, ohnmächtigere Formen politi-
scher Loyalität ausschließt.
Die Bedingungen für eine sozialistische Politik und
von daher auch für die Publikationsstrategie einer poli-
tischen Fachzeitschrift wie ARCH+ verändern sich da-
mit grundlegend:
In der zweiten Phase der Kapitalakkumulation führ-
ten durchgreifende Strukturwandlungen zu sektoralen