Full text: ARCH+ : Studienhefte für Planungspraxis und Planungstheorie (ab H. 28: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen) (1975, Jg. 7, H. 25-28)

nale Denken, mochten sie sich auch ehrlich und peinlich 
darum bemühen und es nach außen zur Richtschnur für 
ihr Handeln erklären. Und wie sehr gerade Gropius 
„durch Tradition und Erziehung‘ — um noch einmal mit 
Marx zu reden — in eine ganz andere Richtung gewiesen 
war, erhellt aus den immer wiederkehrenden Bekenntnis- 
sen zu einer neuen Religion als Grund einer neuen Kul- 
tur, welche man in seinen frühen Schriften findet. 
Vielleicht erklärt sich eben hieraus die Ungeschicklich- 
keit, mit der diese Architekten ihr Handeln begründet 
haben. Wir haben bereits gesagt, daß die Analogie von 
physischen Bedingungen und denen des Wohnens, denen, 
ganz allgemein, ein Gegenstand für den menschli- 
chen Gebrauch zu genügen hat, nicht statthaft ist. Denn 
nur technische Gebäude, ein Windkanal etwa, empfan- 
gen ihre Form unmittelbar von den physischen Bedingun- 
gen. Ich weiß, daß selbst diese Feststellung eine Abkür- 
zung dessen ist, was im Prozeß der Formfindung wirk- 
lich geschieht, wie denn bereits Muthesius darauf hinge- 
wiesen hat, daß auch dem Ingenieur immer zwischen 
mehreren gleich brauchbaren Lösungen die Wahl bleibt, 
und daß ein unbewußtes Streben nach knapper, über- 
zeugender Form die Wahl bestimmt. Nehmen wir aber 
einmal an, daß der Windkanal, oder Greenoughs Fregat- 
te ihre Form wirklich ohne Dazwischentreten des Men- 
schen von den Belastungen empfangen, denen sie ausge- 
setzt sind. Vom Wohnen, von jedem menschlichen Ge- 
brauch, kann man das niemals sagen. Denn die physi- 
schen Bedingungen sind eindeutig und zählbar, die 
Bedingungen des menschlichen Gebrauches sind das 
nicht. Daß sie dem Menschen dienen, daß sie neben dem 
nackten Zweck immer auch sozialen Bedingungen unter- 
worfen sind, Traditionen, Illusionen, Riten, hat Jan 
Kotik jüngst in einem sehr lehrreichen Buch erinnert. 
Hier also sind die Bedingungen weder eindeutig noch ab- 
zählbar. Es handelt sich vielmehr um ein unauflösbares 
Syndrom, um eine Ganzheit, der man als Gestalter nur 
ganzheitlich begegnen darf. Die Funktionalisten haben 
das nicht bedacht. Und diese Ungereimtheit ihrer Theo- 
rie hat sie, wann immer sie als Künstler gehandelt haben, 
zum Kurzschluß in die Kunst verführt. Sie sahen sich 
die wenigen Bedingungen an, die sie sich zurechtgelegt 
hatten und fanden, daß sie zur Formfindung nicht ge- 
nügten. Sie konnten nicht genügen. So wurde die Form 
den Bedingungen oktroyiert, auch bei Häring, gerade 
bei Häring. Wenn man sich daran erinnert, daß er im- 
mer seine Grundrisse schön rechtwinklig aufgezeichnet 
hat, ehe er daran ging, sie „organhaft‘““ zu verformen, so 
wird man zugeben müssen, daß dieser Vorwurf nicht aus 
der Luft gegriffen ist. Und diese Darstellung ist freund- 
lich; denn in vielen Fällen, ich möchte annehmen, in 
den meisten, haben die Funktiomalisten die Bedingun- 
gen post festum aufgestellt. Oder glaubt wirklich jemand, 
Duiker habe seinen wunderbar transparenten Glasturm 
so entworfen, wie er es nachher dargestellt hat: als ein 
Instrument zur Einführung ultravioletter Strahlen? Ra- 
tionalisierung post festum ist die Methode des Funktio- 
nalismus von Anbeginn, ich meine von Louis Sullivans 
16 
ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 27 
Erklärungen seiner Wolkenkratzer an. Damit hängt ein 
anderes Merkmal der Werke des Funktionalismus zusam- 
men: sie funktionieren nicht. 
Diese Überlegung wird Ihnen unter dem Titel vorge- 
tragen: „Kritik der Kritik des Funktionalismus“. Sie se- 
hen mich seit einer Weile damit beschäftigt, den Funk- 
tionalismus viel vernichtender zu kritisieren, als seine 
heutigen Kritiker das tun, und ich nehme an, Sie wun- 
dern sich darüber, wie ich hier den Funktionalismus zer- 
reiße, um seine Ehre zu retten. Ich nehme ihm seine ei- 
genen Erklärungen nicht ab und behaupte, es habe 
sich beim Funktionalismus um eine künstlerische Bewe- 
gung gehandelt. Nun ist diese Kritik aber nicht neu, sie 
wurde bereits damals, in den zwanziger Jahren ausgespro- 
chen. Hermann Muthesius faßt seinen Bericht über die 
Weißenhofsiedlung (1927) mit den Worten zusammen: 
„Es ist also die Form, auf die es in den Bauten der Aus- 
stellung und in der sogenannten neuen Architektur über- 
haupt ankommt. Und das braucht nicht weiter zu über- 
raschen, denn künstlerische Strömungen sind stets for- 
maler Natur.‘ (Die Sperrungen stammen von Muthesius) 
Künstlerische Strömungen! Ein anderer zeitgenössi- 
scher Kritiker, Julius Posener, beginnt einen Aufsatz in 
der Vossischen Zeitung unter dem bezeichnenden Titel - 
„Stuhl oder Sitzmaschine““ mit den Worten: „Eine Schar 
von Baukritikern ist seit einer Weile dabei, die Sachlich- 
keit zu entlarven. Sie weisen an einer ganzen Reihe von 
Bauwerken nach, daß es nicht die „Hörsamkeit“ ist, oder 
die „Hygiene“, oder „Licht, Luft, Bewegung“, denen sie 
ihre Form verdanken, sondern daß diese Ausdrücke nur 
Zauberformeln sind, unter deren Schutz der Architekt, 
der sie anwendet, mehr oder weniger bewußt seiner 
künstlerischen Formkraft die Zügel schießen läßt.” 
Sie müssen es, meine Damen und Herren, dem glei- 
chen Kritiker nachsehen, wenn er sich verwundert die 
Augen reibt, da er findet, daß die Kritik fast ein halbes 
Jahrhundert später den Funktionalismus beim Wort 
nimmt. 
Muthesius hatte seine Kritik damals, 1927, damit ab- 
geschlossen, daß er an den Jugendstil erinnerte. Auch 
seine Protagonisten, sagte er, haben sich auf allgemeine 
Prinzipien berufen; aber sein plötzlicher Zusammen- 
bruch zeige, daß es sich dabei letztenendes um eine Mo- 
de gehandelt habe. Wir brauchen das Wort Mode nicht, 
wie Muthesius es wollte, auf den modernen Stil anzuwen-, 
den. Nennen wir ihn getrost einen Stil. Ich bestehe auf 
diesem Wort. In diesem Zusammenhang ist es kurios, daß 
der echte Funktionalismus, Härings Funktionalismus, von! 
der Kritik geschont wird. Er wird geschont, weil Härings' 
Kunst dem Zeitstil nun sehr bedingt angehörte. In sei- 
nen Werken erblickt man eine Möglichkeit, den trocke- 
nen Stil der späten zwanziger Jahre zu überwinden. Man 
beruft sich auf den wahren Funktionalismus, den man 
nicht so nennt, um den Stil zu überwinden, den man 
funktionalistisch nennt. Beenden wir diesen Teil unserer 
Kritik der Kritik des Funktionalismus mit der These: | 
Der Funktionalismus war eine künstlerische Bewegungs
	        

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