Full text: ARCH+ : Studienhefte für Planungspraxis und Planungstheorie (ab H. 28: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen) (1975, Jg. 7, H. 25-28)

ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 27 
eine stilschaffende Bewegung, welche unter bestimm- 
ten historischen Bedingungen entstanden ist. Er war 
nicht analytisch; aber seine Methode war Analysis, viel- 
mehr sie wollte es sein. Seine Theorie bereits versuchte, 
den Zweck in den Dienst der Form zu stellen, obwohl 
sie es oft umgekehrt ausgedrückt hat. Sie versuchte, eine 
zwingende Beziehung zwischen Zweck und Form herzu- 
stellen, indem sie von mechanischen Vorgängen ausging. 
Sie hat nicht bedacht, daß Wohnen, zum Beispiel, kein 
mechanischer Vorgang ist. Das machte die Theorie für 
die Praxis der Architektur unbrauchbar und ließ dem 
Architekten keine Wahl: er mußte jedesmal den Kurz- 
schluß zur Kunst zu machen. Und noch dies: der Funktio- 
nalismus ist an seinen Widersprüchen gescheitert schon 
ehe er von der Reaktion unterdrückt wurde. Böse Zun- 
gen sagen, daß es die Unterdrückung war, die sein Nach- 
leben gesichert hat. 
Ich komme endlich zur Kritik des Funktionalismus 
und damit zum Schluß. Die Kritik hat die Thesen des 
Funktionalismus wörtlich genommen und dadurch den 
Funktionalismus, ein historisches Phänomen, eine künst 
lerische Strömung der zwanziger Jahre, nicht getroffen. 
Sie hat das zweckrationale Denken, welches sie dem 
Funktionalismus unterstellt, auf die Zweckrationalität 
des Kapitalismus bezogen. Wir haben gesehen, daß die- 
ses Mißverständnis sehr leicht unterlaufen konnte, wenn 
man lediglich gewisse Thesen gewisser Funktionalisten, 
also zum Beispiel Walter Gropius’ Programm für das 
zweite Bauhaus, betrachtet und wenn man sie überdies 
nicht genau genug, nicht psychologisch betrachtet. In 
beider Hinsicht trennen wir den Funktionalismus von 
1930 von der Architektur der Nachkriegszeit. Auf die- 
sem Unterschied haben wir bereits eingangs bestanden. 
Nun gut, die Kritik kann antworten, daß sie nicht 
die Arbeit des Historikers zu leisten beabsichtigt. Hat 
sie sich über den authentischen Funktionalismus in ge- 
wissen Punkten geirrt, seis drum. Es bleibt auch da eini- 
ges übrig, eine Beziehung zwischen damals und heute, 
welche keine noch so spitzfindige historische oder pSy- 
Chologische Darstellung des authentischen Funktionalis- 
mus aus der Welt schaffen kann. Der Funktionalismus 
hat den Zweck zum Maßstab gemacht und damit die 
öde Zweckarchitektur von heute legitimiert. Er hat mit 
dem Ornament die architektonischen Gliederungen ab- 
geschafft und damit die gesamte Grammatik der Archi- 
tektur. Er hat sie durch ein neues Ornament ersetzt, das 
Stijl-Ornament. Man denke nur an Mies van der Rohes 
Barcelona-Pavillon: Mondrian in drei Dimensionen; 
diesmal wurde das ganze Gebäude zum Ornament. Nach- 
dem auch dieser Versuch sich als ephemär erwiesen hat- 
te, hat der Funktionalismus den Architekten der neuen 
Architektur nichts übrig gelassen. Endlich: der Funktio- 
nalismus hat sich auf die kapitalistische Industrie bezo- 
gen und es sollte nun niemand sich wundern, wenn der 
Architekt heute wirklich im Dienste der großen Bauträ- 
Ser und der Bauindustrie steht. Das ist eine direkte Fol- 
ge der Tendenzen der zwanziger Jahre. 
Auf die Vorwürfe kann man nur als Materialist ant- 
worten. Daß der Funktionalismus einen Zugang zu der 
Welt der Industrie gewinnen wollte, wer leugnet es? Wir 
haben ausdrücklich darauf hingewiesen, Le Corbusier 
hat die Industrie auf den Bauplatz gerufen; und er war 
der einzige nicht. So stark aber dürfen wir seine Stimme 
nicht einschätzen, daß sein Ruf es gewesen wäre, wel- 
chem die Industrie auf den Bauplatz gefolgt ist. Sie hat 
sich der Bauplätze bemächtigt, und zwar auf beiden Sei- 
ten der Berliner Mauer. Die Mächte der Wirtschaft haben 
den Architekten in Abhängigkeit gebracht, und zwar auf 
beiden Seiten der Berliner Mauer. Es ist die Entwicklung 
der Produktionsweise mehr noch als die der Produktions: 
verhältnisse, welche eine Art des Bauens hervorgebracht 
hat, welche prinzipiell hier, in der DDR, in den USA, in 
Brasilien, in England, wo immer, die gleiche ist. Das 
Märkische Viertel ist mit einem stärkeren Schuß 
Kunst versetzt als die neuen Wohnbauten in Ost- 
berlin. Das ist grundsätzlich kein Unterschied. Der 
Funktionalismus hat mit dieser Entwicklung wenig 
zu tun. Hätte es ihn nie gegeben, so würde man 
vielleicht heute Bauplatten mit Pilastern gießen. Die 
Gebäude würden deswegen nicht viel anders aussehen. 
Um aber doch auf den Vorwurf einzugehen, der eben 
aufklang: jawohl, Le Corbusier hat die Industrie auf den 
Bauplatz gerufen. Das tat er, um die Wohnungen endlich 
für alle erschwinglich zu machen: auch für das Existenz- 
minimum. Wir haben es wirklich in diesem Seminar ge- 
hört, daß man dem Funktionalismus seine Beschäftigung 
mit der Wohnung für das Existenzminimum zum Vorwurf 
macht. Diese Schurken, so klang das, haben im Dienste 
des Kapitalismus die Wohnung für die Ärmsten auf ein 
Minimum herabgeschraubt. In Wahrheit haben die Funk- 
tionalisten sich mit der Wohnung für das Existenzmini- 
mum beschäftigt, weil das vorher die Spekulation getan 
hatte, die Ausbeuter. Man kann den Funktionalisten 
auch bei dieser Tätigkeit Vorwürfe nicht ersparen: die 
Wohnung für das Existenzminimum, muß man sagen, hat 
das Existenzminimum nicht erreicht: sie kostete immer 
noch zu viel. Man könnte ihnen auch den Vorwurf ma- 
chen, daß sie durch ihre Bemühung an dem allgemeinen 
Reformismus teilgenommen haben, welcher die beste- 
hende Ordnung stützt. So weit darf die Kritik gehen; 
und ich kann hier nicht auf die Frage nach dem Recht 
und Unrecht des Reformismus eingehen. Aber daß die 
Funktionalisten im Dienste der Ausbeuter den Armen 
ärmliche Wohnungen aufgezwungen haben , der Vorwurf 
läßt sich nicht halten. Ich erwähne aber diesen Vorwurf, 
denn es ist wirklich Zeit, daß ich auf den sozialreforme- 
rischen Aspekt des Funktionalismus wenigstens hindeute. 
Was man aber dem Funktionalismus vorwerfen darf, 
soweit man historischen Phänomenen ihre Unzulänglich- 
keit zum Vorwurf machen kann, ist dies: daß er geschei- 
tert ist, und woran er gescheitert ist. Er ist gescheitert, 
weil er nicht gesehen hat, daß Zerlegen, Zerteilen, Ana- 
Iysieren keine Grundlage für eine Theorie des Bauens 
und Planens sein kann, da es sich dabei um ein Unteil- 
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