ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 27
eine stilschaffende Bewegung, welche unter bestimm-
ten historischen Bedingungen entstanden ist. Er war
nicht analytisch; aber seine Methode war Analysis, viel-
mehr sie wollte es sein. Seine Theorie bereits versuchte,
den Zweck in den Dienst der Form zu stellen, obwohl
sie es oft umgekehrt ausgedrückt hat. Sie versuchte, eine
zwingende Beziehung zwischen Zweck und Form herzu-
stellen, indem sie von mechanischen Vorgängen ausging.
Sie hat nicht bedacht, daß Wohnen, zum Beispiel, kein
mechanischer Vorgang ist. Das machte die Theorie für
die Praxis der Architektur unbrauchbar und ließ dem
Architekten keine Wahl: er mußte jedesmal den Kurz-
schluß zur Kunst zu machen. Und noch dies: der Funktio-
nalismus ist an seinen Widersprüchen gescheitert schon
ehe er von der Reaktion unterdrückt wurde. Böse Zun-
gen sagen, daß es die Unterdrückung war, die sein Nach-
leben gesichert hat.
Ich komme endlich zur Kritik des Funktionalismus
und damit zum Schluß. Die Kritik hat die Thesen des
Funktionalismus wörtlich genommen und dadurch den
Funktionalismus, ein historisches Phänomen, eine künst
lerische Strömung der zwanziger Jahre, nicht getroffen.
Sie hat das zweckrationale Denken, welches sie dem
Funktionalismus unterstellt, auf die Zweckrationalität
des Kapitalismus bezogen. Wir haben gesehen, daß die-
ses Mißverständnis sehr leicht unterlaufen konnte, wenn
man lediglich gewisse Thesen gewisser Funktionalisten,
also zum Beispiel Walter Gropius’ Programm für das
zweite Bauhaus, betrachtet und wenn man sie überdies
nicht genau genug, nicht psychologisch betrachtet. In
beider Hinsicht trennen wir den Funktionalismus von
1930 von der Architektur der Nachkriegszeit. Auf die-
sem Unterschied haben wir bereits eingangs bestanden.
Nun gut, die Kritik kann antworten, daß sie nicht
die Arbeit des Historikers zu leisten beabsichtigt. Hat
sie sich über den authentischen Funktionalismus in ge-
wissen Punkten geirrt, seis drum. Es bleibt auch da eini-
ges übrig, eine Beziehung zwischen damals und heute,
welche keine noch so spitzfindige historische oder pSy-
Chologische Darstellung des authentischen Funktionalis-
mus aus der Welt schaffen kann. Der Funktionalismus
hat den Zweck zum Maßstab gemacht und damit die
öde Zweckarchitektur von heute legitimiert. Er hat mit
dem Ornament die architektonischen Gliederungen ab-
geschafft und damit die gesamte Grammatik der Archi-
tektur. Er hat sie durch ein neues Ornament ersetzt, das
Stijl-Ornament. Man denke nur an Mies van der Rohes
Barcelona-Pavillon: Mondrian in drei Dimensionen;
diesmal wurde das ganze Gebäude zum Ornament. Nach-
dem auch dieser Versuch sich als ephemär erwiesen hat-
te, hat der Funktionalismus den Architekten der neuen
Architektur nichts übrig gelassen. Endlich: der Funktio-
nalismus hat sich auf die kapitalistische Industrie bezo-
gen und es sollte nun niemand sich wundern, wenn der
Architekt heute wirklich im Dienste der großen Bauträ-
Ser und der Bauindustrie steht. Das ist eine direkte Fol-
ge der Tendenzen der zwanziger Jahre.
Auf die Vorwürfe kann man nur als Materialist ant-
worten. Daß der Funktionalismus einen Zugang zu der
Welt der Industrie gewinnen wollte, wer leugnet es? Wir
haben ausdrücklich darauf hingewiesen, Le Corbusier
hat die Industrie auf den Bauplatz gerufen; und er war
der einzige nicht. So stark aber dürfen wir seine Stimme
nicht einschätzen, daß sein Ruf es gewesen wäre, wel-
chem die Industrie auf den Bauplatz gefolgt ist. Sie hat
sich der Bauplätze bemächtigt, und zwar auf beiden Sei-
ten der Berliner Mauer. Die Mächte der Wirtschaft haben
den Architekten in Abhängigkeit gebracht, und zwar auf
beiden Seiten der Berliner Mauer. Es ist die Entwicklung
der Produktionsweise mehr noch als die der Produktions:
verhältnisse, welche eine Art des Bauens hervorgebracht
hat, welche prinzipiell hier, in der DDR, in den USA, in
Brasilien, in England, wo immer, die gleiche ist. Das
Märkische Viertel ist mit einem stärkeren Schuß
Kunst versetzt als die neuen Wohnbauten in Ost-
berlin. Das ist grundsätzlich kein Unterschied. Der
Funktionalismus hat mit dieser Entwicklung wenig
zu tun. Hätte es ihn nie gegeben, so würde man
vielleicht heute Bauplatten mit Pilastern gießen. Die
Gebäude würden deswegen nicht viel anders aussehen.
Um aber doch auf den Vorwurf einzugehen, der eben
aufklang: jawohl, Le Corbusier hat die Industrie auf den
Bauplatz gerufen. Das tat er, um die Wohnungen endlich
für alle erschwinglich zu machen: auch für das Existenz-
minimum. Wir haben es wirklich in diesem Seminar ge-
hört, daß man dem Funktionalismus seine Beschäftigung
mit der Wohnung für das Existenzminimum zum Vorwurf
macht. Diese Schurken, so klang das, haben im Dienste
des Kapitalismus die Wohnung für die Ärmsten auf ein
Minimum herabgeschraubt. In Wahrheit haben die Funk-
tionalisten sich mit der Wohnung für das Existenzmini-
mum beschäftigt, weil das vorher die Spekulation getan
hatte, die Ausbeuter. Man kann den Funktionalisten
auch bei dieser Tätigkeit Vorwürfe nicht ersparen: die
Wohnung für das Existenzminimum, muß man sagen, hat
das Existenzminimum nicht erreicht: sie kostete immer
noch zu viel. Man könnte ihnen auch den Vorwurf ma-
chen, daß sie durch ihre Bemühung an dem allgemeinen
Reformismus teilgenommen haben, welcher die beste-
hende Ordnung stützt. So weit darf die Kritik gehen;
und ich kann hier nicht auf die Frage nach dem Recht
und Unrecht des Reformismus eingehen. Aber daß die
Funktionalisten im Dienste der Ausbeuter den Armen
ärmliche Wohnungen aufgezwungen haben , der Vorwurf
läßt sich nicht halten. Ich erwähne aber diesen Vorwurf,
denn es ist wirklich Zeit, daß ich auf den sozialreforme-
rischen Aspekt des Funktionalismus wenigstens hindeute.
Was man aber dem Funktionalismus vorwerfen darf,
soweit man historischen Phänomenen ihre Unzulänglich-
keit zum Vorwurf machen kann, ist dies: daß er geschei-
tert ist, und woran er gescheitert ist. Er ist gescheitert,
weil er nicht gesehen hat, daß Zerlegen, Zerteilen, Ana-
Iysieren keine Grundlage für eine Theorie des Bauens
und Planens sein kann, da es sich dabei um ein Unteil-
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