ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 27
Heinrich Klotz
FUNKTIONALISMUS UND
TRIVIALARCHITEKTUR
Der Werkbund und die röhrenden Hirsche
Bei dem nebenstehenden Text handelt es sich um einen Vortrag,
den Prof. Heinrich Klotz auf der Jahrestagung des Deutschen
Werkbunds Baden-Württemberg am 15.2.1975 gehalten hat. Ein
Vorabdruck in Auszügen unter dem Titel „Lauter saubere Miese”
erschien in der Zeitschrift ‚Werk und Zeit”.
Meine Damen und Herren,
mein Thema „Funktionalismus und Trivialarchitektur —
Der Werkbund und die röhrenden Hirsche” paßt nicht
So recht hierher, denn wie sollte es der Werkbund rechtfer-
tigen, ein Interesse an einem Gegenstandsbereich zu ent-
wickeln, der bereits mit Gründung des Werkbundes tabu
gewesen sein sollte, und der allem widerspricht, was den
moralischen Kern des Werkbundprogramms seit alters —
sagen wir, seit nunmehr ca. 60 Jahren — ausmacht: die
„gute Form” die „saubere Form”? Seit wann — so muß
ich fragen, kümmert sich der Werkbund um triviale Form,
seit wann je könnte ihm der sogenannte Kitsch interessant
geworden sein? Ja, wem überhaupt unter den ernsthaften
Architekten und Designern war je darum zu tun, nach
den Motiven zu fragen, die einen Bauherren veranlassen
können, kleinbürgerlich-spießigen Dekorationspomp „gu-
ter” Architektur vorzuziehen? Was in der Architektur gut
ist, hat der Werkbund seit Muthesius immer schon gewußt
und die einmal festgestellten Maßstäbe sind mit Gropius
und Mies van der Rohe noch fester geworden, so daß wir
seit den Fagus-Werken und seit der Kölner Werkbundaus-
stellung von 1914 kaum noch in Verlegenheit gerieten,
gute Architektur als solche zu erkennen und schlechte
Architektur leicht zu entlarven.
Gute Architektur hat ihren nunmehr fünfzigjährigen
Kanon, hat ihre Musterbauten, etwa das Bauhaus in Dessau
von Gropius oder das Seagram-Building von Mies. Über
diese brauchen wir uns nicht mehr zu verständigen. Die
Historiker haben das ihrige getan, und die Architekten
haben sich auf die Seite des Fortschritts geschlagen, sind
selbst kleine Gropiusse und kleine Mies geworden, haben
unsere Städte erneuert und den Kanon radikal zur Geltung
gebracht. Der Werkbund steht an ihrer Wiege, und wenn
man die erste Seite seiner ihn repräsentierenden Zeitschrift
vor sich sieht, so erkennt man auch hier den Kanon, die
saubere Form, das saubere Schriftbild, diese hygienisierte
Nüchternheit, die Ästhetik des „Weniger ist Mehr” — so
als habe Gropius die Schrifttypen von „Werk und Zeit”
persönlich in Blei gegossen. Das ist eine Radition die man
nicht preisgibt. Was also sollte der Werkbund mit den
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Trivialitäten des schlechten Geschmacks zu schaffen
haben?
Und doch hat der Werkbund auf eine kleine Gelegen-
heitsarbeit reagiert die ich vor einiger Zeit in der Bauwelt
veröffentlichte und deren Resonanz eine unerwartet
große war, was wiederum mich in Erstaunen versetzte,
denn — so mußte ich mich fragen, — sind wir so sehr ge-
bunden an die Moral sogenannter „guter Form”, daß wir
die weit sich ausbreitende Landschaft einer architektoni-
schen Subkultur, eben jene „röhrenden Hirsche der Archi-
tektur” wohl immer gesehen aber nie wahrgenommen
haben? Und, so fragte ich mich weiter, charakterisiert
dieses plötzlich um sich greifende Interesse an einer ver-
meintlich nicht recht ernstzunehmenden Popular-Archi-
tektur mit allen ihren allzu seriösen oder gar erheitern-
den Mätzchen nicht unsere eigene überernste Befindlich-
keit, inmitten der ernsten Anti-Funktionalismusdebatte
und inmitten einer abgehobenen stockernsten Theorie-
bildung wieder ein Moment der Sinnlichkeit entdeckt zu
haben, dem man sich zuwenden darf und das gar Amuse-
ment und ironierende Heiterkeit bereitet. Wann zuletzt
haben wir überhaupt noch von „Form” gesprochen? Und
wann zuletzt haben wir die soziologisch geführte Funk-
tionalismuskritik ausgeweitet in den Bereich des Ästheti-
schen hinein? Ist uns nicht gänzlich gleichgültig geworden,
wie eine Siedlung des sozialen Wohnungsbaues oder eine
Siedlung von Einfamilien-Hundehütten im einzelnen aus-
sieht — und war uns die Forderung nach Mischung der
Funktionen, nach Reintegration der isolierten Lebensbe-
reiche des Menschen nicht derart wichtig geworden, daß
uns die Frage nach der Form wie ein läppisches Aus-
weichmanöver erschien, als ein Ausweichen vor der so-
zialen Problematik und als ein Entweichen in eine ästhe-
tische Luxusdomäne hinein. Nun, es scheint mir, daß wir,
die Kritiker des Funktionalismus, dessen Formenarmut
selbst zum Opfer gefallen sind und daß dessen aussichts-
lose utilitäre Nacktheit uns selbst, seine Kritiker, als aus-
sichtslos erscheinen ließ, je noch ein Partikel der Phanta-
sie, ein Zeichen des Spiels, eine Spur des „homo ludens”
irgendwo in dieser seriören Stadtlandschaft der sauberen
Formen entdecken oder gar rechtfertigen zu wollen. Phan-
tasievolle Form, so sagen wir, stelle sich von selbst ein,
wenn für die Mischung der Funktionen, wenn für ein
besseres, dem Renditedenken enthobenes Leben erst ge-
sorgt sei. Diesen Wechsel auf die Zukunft wage ich nicht
zu unterschreiben, auch deshalb nicht, weil mir eine
solche abwartende Theorie als zu mager erscheint und
nicht danach fragt, wo schon heute ein Spiel-Raum ent-
stehen könnte, der mich als Person nicht gänzlich deckungs-
gleich macht mit jenen Verhältnissen, in denen wir leben.
Zugegeben: Form hat heute die Tendenz, mehr denn je,
identisch zu sein mit einem Zweckrationalismus, der un-
sere Gesellschaft regiert, und der wiederum Form zum
bloßen Spiegelbild der Gleichung: höchster Gewinn bei
geringster Investition — zu machen droht. Doch sollte
das Ästhetische keine größere Potenz haben als Bestehen-
des allein zu reflektieren, so wären diejenigen gerecht-
fertigt, deren Kritik am Bestehenden sich allein bestätigt