Halfmann/Zillich
weil es Zufall, nicht Wiederholbarkeit, Wachsen und Ver-
wesen signalisiert, ist in jener das Thema des Spiels.
Die Kultur der Bricolage ist nicht identisch mit der
„offiziellen Kultur‘‘. Das Verhältnis zwischen einer sol-
chen repräsentativen Kultur und dem der populären, im:
mer schon vorhandenen Kultur, ist in unserer Zeit das
einer Überlagerung, eines kulturellen Diffusionsprozes-
ses. Die beiden Kulturen haben ihren jeweils spezifischen
Charakter, sie leben aus der Substanz ihrer eigenen Ge-
schichte und aus der der Anderen. Die populäre Kultur
ist die mit dem geringeren Geschichtsbewußtsein, aber
der größeren kollektiven Kontinuität und Solidarität.
Ihr Verhältnis zur offiziellen Kultur ist immer zwiespäl-
tig, da ihre Logik eine andere ist. Sie lebt in produktiver
Symbiose mit ihr, oder sie ist bedroht von der sie imperia-
listisch überlagernden Kultur. Heute droht ihr überall, ob
in den Ländern der 3. Welt oder in den Industrieländern,
die Ausrottung durch die Weltkultur der technischen Ra-
tionalität.
Doch der Zusammenbruch des Wahns vom unbegrenz-
ten Fortschritt, die profunde Krise aller Bereiche unserer
Kultur läßt ein neues Bewußtsein entstehen vom Verlust
des Milieus populärer Kultur, dieser Erfahrungswelt auto-
nomen Daseins, die uns sinnlich noch verbindet mit der
Vorstellung eines Lebens mit und nicht gegen die Natur,
eines Lebens, das mit Substantiellem sich provisorisch ein-
richtet und identifiziert und nicht eines, das in der Kon-
sumutopie sich verliert. Der Bedrohung der letzten dieser
Erfahrungswelten tritt ein neues ökologisches Bewußtsein
entgegen, das die Reste eines an den energetischen Zyk-
len der Natur orientierten Lebens bewahren und erwei-
tern will. Ebenso tritt ihr entgegen ein neues ästhetisches
Bewußtsein, das sich mit der noch vorhandenen populä-
ren Sensibilität verbindet, um diese Reservate menschen-
würdigen Lebens zu verteidigen, und den Versuch zu be-
ginnen, weiteres Terrain, scheinbar schon verlorenes, un-
ter Asphalt und Beton begrabenes, zurückzugewinnen.
Die Ausdruckswelt, die sich in den Gartenkolonien
am ausgeprägtesten findet, hat auch ihre Orte im urba-
nen Kontext: Hinterhöfe, Balkone, Dachzonen und naive
Reklame sind geprägt vom gleichen Impuls der Aneig-
nung und Umwandlung in ein subkulturelles Milieu.
Hier wächst noch unter immer schwierigeren Bedingun-
gen eben die Substanz, die überall sonst durch den Bru-
talismus der Planung zerstört oder am Entstehen gehin-
dert wird, da die kontrollierende Rationalität die ihr an-
tithetischen Motive als gefährliche Gegenwelt ausmacht.
Eine Substanz, die noch ebenso wie die historischen Mo-
numente der repräsentativen Kultur uns zum Dialog mit
der Vergangenheit aus unserem immer geschichtsloser
werdenden Bewußtsein aufrütteln kann.
Das Thema des Europäischen Denkmalschutzjahres
lautet: „Eine Zukunft für die Vergangenheit? ‘ Die
Denkmäler haben Aussicht hinüber gerettet zu werden,
sie können neue Interessen repräsentieren, sie fügen sich
als Antiquitäten in das neue technisch-bürokratische
Stadtbild ein — als dekorativer Kontrast.
Gefährdet dagegen ist, was schlechthin nicht reprä-
santativ sein will, sondern bloß Milieu:
— dieser spannungsvolle Raum, in dem sich Geschich-
ten und Geschichte begegnen —
der Raum, in dem der funktionalen und technolo-
gischen als ebenso notwendige die poetische Dimen-
sion sich hinzufügt
der Raum, in dem Bedeutungen und Symbole, auch
von Herrschaft, zur Ruhe kommen, sich von ihren
Gegenständen ablösen und zu gleichem Material sich
sedimentieren oder zu Neuem sich fügen: Alles ist
möglich, weil alles möglich war.
Die Frage nach einer „Zukunft für die Vergangen-
heit‘“ ist eine Frage auch nach der Zukunft von Milieu.
Die letzten Reservate städtischen Milieus müssen vor
der Zerstörung bewahrt werden, sie sind einzig noch
imstande, den historischen Begriff urbaner Komplexi-
tät sinnlich zu vermitteln und seine Erneuerung anzu-
regen. Der manifeste Widerstand, der ein bedrohtes po-
puläres Milieu verteidigt, kann dies wirksamer tun durch
Kooperation mit Planern und Künstlern. Die spezifische
Logik des Milieus wird so unterstützt gegen die ihr feind
liche Bürokratie und eine Selbsthilfe, die allein hilft, die
Sache zu bewahren, kann in kreativen Formen um so
vitaler sich äußern, je mehr das, was ihr Denken kon-
trolliert, im Experiment dem Bewußtsein möglicher
Welten weicht. So wächst ihr Wissen um ihre eigene
Kraft und um den strukturellen Rahmen von Geschich-
te, in dem sie steht.
Das Projekt HEIMAT KAPUTT stellt einen Versuch
dar, in diesem Sinne Prozesse der Beteiligung von Be-
troffenen an Gestaltungs- und Planungsentscheidungen
zu initiieren und im Ablauf dieser Prozesse kooperie-
rende und leitende Funktionen wahrzunehmen. Dabei
kann es uns als Künstlern und Planern nicht darum ge-
hen, die eigene subjektive künstlerische Ausdruckswelt
zu verdrängen, den puristischen Standpunkt einer
„Massenlinie‘‘ anzunehmen, sich selbst gesichtslos in
den Dienst der Artikulation populärer Kultur zu stellen.
Was uns zentral interessiert, ist der produktive Dialog
zwischen dem avancierten Sensorium der Avantgarde
und der erruptiven Produktivität populärer Kultur. Aus
diesem Dialog — einem bewußt initiierten kulturellen
Diffusionsprozeß — kann sich eine neue strukturelle
Iconografie entwickeln, in der einander entfremdete
Bereiche unserer Kultur kooperieren gegen den Totali-
tarismus der technischen Rationalität.
Nehmen wir Verbindung auf zu den generativen Pro-
zessen an der Basis unserer Kultur. Entwickeln wir wie-
der ein Kontinuum künstlerischer Artikulation ausge-
hend von den Fragmenten populärer Kultur, sie stär-
kend, verbreitend und interpretierend über kooperative
künstlerische Prozesse bis hin zur subjektiven Geste. Or-
ganisieren wir die Wiederkehr des Verdrängten im Sin-
ne von Canettis Wort: „Prinzip der Kunst — mehr wie-
derzufinden als verlorengegangen ist.‘‘