Full text: ARCH+ : Studienhefte für Planungspraxis und Planungstheorie (ab H. 28: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen) (1975, Jg. 7, H. 25-28)

Halfmann/Zillich 
weil es Zufall, nicht Wiederholbarkeit, Wachsen und Ver- 
wesen signalisiert, ist in jener das Thema des Spiels. 
Die Kultur der Bricolage ist nicht identisch mit der 
„offiziellen Kultur‘‘. Das Verhältnis zwischen einer sol- 
chen repräsentativen Kultur und dem der populären, im: 
mer schon vorhandenen Kultur, ist in unserer Zeit das 
einer Überlagerung, eines kulturellen Diffusionsprozes- 
ses. Die beiden Kulturen haben ihren jeweils spezifischen 
Charakter, sie leben aus der Substanz ihrer eigenen Ge- 
schichte und aus der der Anderen. Die populäre Kultur 
ist die mit dem geringeren Geschichtsbewußtsein, aber 
der größeren kollektiven Kontinuität und Solidarität. 
Ihr Verhältnis zur offiziellen Kultur ist immer zwiespäl- 
tig, da ihre Logik eine andere ist. Sie lebt in produktiver 
Symbiose mit ihr, oder sie ist bedroht von der sie imperia- 
listisch überlagernden Kultur. Heute droht ihr überall, ob 
in den Ländern der 3. Welt oder in den Industrieländern, 
die Ausrottung durch die Weltkultur der technischen Ra- 
tionalität. 
Doch der Zusammenbruch des Wahns vom unbegrenz- 
ten Fortschritt, die profunde Krise aller Bereiche unserer 
Kultur läßt ein neues Bewußtsein entstehen vom Verlust 
des Milieus populärer Kultur, dieser Erfahrungswelt auto- 
nomen Daseins, die uns sinnlich noch verbindet mit der 
Vorstellung eines Lebens mit und nicht gegen die Natur, 
eines Lebens, das mit Substantiellem sich provisorisch ein- 
richtet und identifiziert und nicht eines, das in der Kon- 
sumutopie sich verliert. Der Bedrohung der letzten dieser 
Erfahrungswelten tritt ein neues ökologisches Bewußtsein 
entgegen, das die Reste eines an den energetischen Zyk- 
len der Natur orientierten Lebens bewahren und erwei- 
tern will. Ebenso tritt ihr entgegen ein neues ästhetisches 
Bewußtsein, das sich mit der noch vorhandenen populä- 
ren Sensibilität verbindet, um diese Reservate menschen- 
würdigen Lebens zu verteidigen, und den Versuch zu be- 
ginnen, weiteres Terrain, scheinbar schon verlorenes, un- 
ter Asphalt und Beton begrabenes, zurückzugewinnen. 
Die Ausdruckswelt, die sich in den Gartenkolonien 
am ausgeprägtesten findet, hat auch ihre Orte im urba- 
nen Kontext: Hinterhöfe, Balkone, Dachzonen und naive 
Reklame sind geprägt vom gleichen Impuls der Aneig- 
nung und Umwandlung in ein subkulturelles Milieu. 
Hier wächst noch unter immer schwierigeren Bedingun- 
gen eben die Substanz, die überall sonst durch den Bru- 
talismus der Planung zerstört oder am Entstehen gehin- 
dert wird, da die kontrollierende Rationalität die ihr an- 
tithetischen Motive als gefährliche Gegenwelt ausmacht. 
Eine Substanz, die noch ebenso wie die historischen Mo- 
numente der repräsentativen Kultur uns zum Dialog mit 
der Vergangenheit aus unserem immer geschichtsloser 
werdenden Bewußtsein aufrütteln kann. 
Das Thema des Europäischen Denkmalschutzjahres 
lautet: „Eine Zukunft für die Vergangenheit? ‘ Die 
Denkmäler haben Aussicht hinüber gerettet zu werden, 
sie können neue Interessen repräsentieren, sie fügen sich 
als Antiquitäten in das neue technisch-bürokratische 
Stadtbild ein — als dekorativer Kontrast. 
Gefährdet dagegen ist, was schlechthin nicht reprä- 
santativ sein will, sondern bloß Milieu: 
— dieser spannungsvolle Raum, in dem sich Geschich- 
ten und Geschichte begegnen — 
der Raum, in dem der funktionalen und technolo- 
gischen als ebenso notwendige die poetische Dimen- 
sion sich hinzufügt 
der Raum, in dem Bedeutungen und Symbole, auch 
von Herrschaft, zur Ruhe kommen, sich von ihren 
Gegenständen ablösen und zu gleichem Material sich 
sedimentieren oder zu Neuem sich fügen: Alles ist 
möglich, weil alles möglich war. 
Die Frage nach einer „Zukunft für die Vergangen- 
heit‘“ ist eine Frage auch nach der Zukunft von Milieu. 
Die letzten Reservate städtischen Milieus müssen vor 
der Zerstörung bewahrt werden, sie sind einzig noch 
imstande, den historischen Begriff urbaner Komplexi- 
tät sinnlich zu vermitteln und seine Erneuerung anzu- 
regen. Der manifeste Widerstand, der ein bedrohtes po- 
puläres Milieu verteidigt, kann dies wirksamer tun durch 
Kooperation mit Planern und Künstlern. Die spezifische 
Logik des Milieus wird so unterstützt gegen die ihr feind 
liche Bürokratie und eine Selbsthilfe, die allein hilft, die 
Sache zu bewahren, kann in kreativen Formen um so 
vitaler sich äußern, je mehr das, was ihr Denken kon- 
trolliert, im Experiment dem Bewußtsein möglicher 
Welten weicht. So wächst ihr Wissen um ihre eigene 
Kraft und um den strukturellen Rahmen von Geschich- 
te, in dem sie steht. 
Das Projekt HEIMAT KAPUTT stellt einen Versuch 
dar, in diesem Sinne Prozesse der Beteiligung von Be- 
troffenen an Gestaltungs- und Planungsentscheidungen 
zu initiieren und im Ablauf dieser Prozesse kooperie- 
rende und leitende Funktionen wahrzunehmen. Dabei 
kann es uns als Künstlern und Planern nicht darum ge- 
hen, die eigene subjektive künstlerische Ausdruckswelt 
zu verdrängen, den puristischen Standpunkt einer 
„Massenlinie‘‘ anzunehmen, sich selbst gesichtslos in 
den Dienst der Artikulation populärer Kultur zu stellen. 
Was uns zentral interessiert, ist der produktive Dialog 
zwischen dem avancierten Sensorium der Avantgarde 
und der erruptiven Produktivität populärer Kultur. Aus 
diesem Dialog — einem bewußt initiierten kulturellen 
Diffusionsprozeß — kann sich eine neue strukturelle 
Iconografie entwickeln, in der einander entfremdete 
Bereiche unserer Kultur kooperieren gegen den Totali- 
tarismus der technischen Rationalität. 
Nehmen wir Verbindung auf zu den generativen Pro- 
zessen an der Basis unserer Kultur. Entwickeln wir wie- 
der ein Kontinuum künstlerischer Artikulation ausge- 
hend von den Fragmenten populärer Kultur, sie stär- 
kend, verbreitend und interpretierend über kooperative 
künstlerische Prozesse bis hin zur subjektiven Geste. Or- 
ganisieren wir die Wiederkehr des Verdrängten im Sin- 
ne von Canettis Wort: „Prinzip der Kunst — mehr wie- 
derzufinden als verlorengegangen ist.‘‘
	        

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