ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 25
veranlaßt hat; vielmehr wollte er die Mietskasernenstadt ent-
lasten, die, wie er sagte, unerträglich geworden war: „Diese für
Gesundheit und Sittlichkeit gleich sehr gefährlichen Zustände
mahnen dringend zu schleuniger Abhilfe. Schon für den vorste-
hend konstatierten Überschuß über eine rationelle Durch-
schnittszahl der Bevölkerung ist eine Erweiterung von Berlin
erforderlich, sie wird aber zur zwingenden Notwendigkeit
durch die von Jahr zu Jahr sich steigernde Zunahme der Ein-
wohnerzahl . . . Diese Zunahme hat aber von 1885 zu 1890
rund 114 000 Personen betragen, und so wird die Annahme
nicht so weit gegriffen sein, daß Berlin einschließlich der dann
mit in Frage kommenden jetzigen Vororte in 15 Jahren eine
Einwohnerzahl von mehr als 3 Millionen aufweisen wird. Es
ist deshalb dringend geboten, für diese Zunahme von 1 500 000
Menschen, welche eine Verdoppelung der gegenwärtigen Ein-
wohnerzahl bedeutet, schon jetzt mit aller Energie eine räumliche
Erweiterung von Berlin anzubahnen, die dem berechtigten An-
spruch auf Licht und Luft, den Ansprüchen der Gesundheits-
pflege Rechnung trägt und der Würde der Reichs-Hauptstadt
der zivilisiertesten Nation der Welt entspricht.”
Selbstverständlich sah Carstenn nicht in den wenigen Kolonien,
die er gegründet hatte, die von ihm geforderte Stadterweite-
rung. Er gibt vielmehr seiner Schrift einen Plan der Ausdehnung
Berlins bei, in dem die geplante Stadterweiterung die bestehen-
de Stadt allerdings an Fläche erheblich übertrifft. Auf diesem
Plan sendet Berlin eine Vorortzunge nach Südwesten aus, wel-
che den Grunewald umgreifend — Carstenn wollte ihn als eine
Art größeren Tiergarten innerhalb des bebauten Gebietes er-
halten — bis Potsdam reicht. Eine zweite Zunge streckt sich
nach Südosten in der Gegend Köpenick-Grünau aus. Im Nord-
westen an der Jungfernheide, also auf dem Gebiete der heutigen
Siemenssiedlungen ist ein weiteres Vorortgebiet geplant, welches
bis Tegel reichen sollte; lediglich der Norden und der Süden
werden ausgespart, weil sie landschaftlicher Schönheit erman-
geln und überdies durch die dort liegenden Rieselfelder als
Wohngebiete unerfreulich seien. Dieser Plan begleitet Carstenns
Schrift von 1892, eine Streit- und Rechtfertigungsschrift, wie
wir noch sehen werden; und man könnte meinen, daß der Plan
ebenso wie die Bemerkungen über seine soziale Notwendigkeit
als einer Entlastung der ständig und schnell wachsenden Miets-
kasernenstadt den Standpunkt Carstenns wiedergibt, nachdem
er sich von den Geschäften zurückgezogen hatte, nicht den
des Gründers von Villenkolonien. Mit welchem Rechte man
das annehmen darf ist nicht leicht zu beurteilen. Auf zwei Um-
stände möchte ich allerdings hinweisen, die dafür sprechen, daß
Carstenns Gedanken von 1892 zumindest als die logische Fort-
setzung seiner Gedanken von 1868 bezeichnet werden dürfen.
In diesem Jahre 1868 — dies ist mein erster Punkt — empfing
Carstenn den König, Wilhelm den Ersten, in seiner neu gegrün-
deten Kolonie Lichterfelde und richtete an ihn folgende Worte:
„Majestät, nach den Errungenschaften des Jahres 1866 ist Ber-
lin zur ersten Stadt des Kontinents berufen, und was seine räum:
liche Ausdehnung anbelangt, so muß Berlin und Potsdam eine
Stadt werden, verbunden durch den Grunewald als Park.” Die
Ansprache zeigt immerhin, daß er die größte Vorortzunge Sei-
nes Planes von 1892 bereits im Jahre 1868 geplant hatte; und
nichts hindert uns anzunehmen, daß ein Mann, der in einer Rich-
ER
Do ph br AFARSSER