Full text: ARCH+ : Studienhefte für Planungspraxis und Planungstheorie (ab H. 28: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen) (1975, Jg. 7, H. 25-28)

ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 25 
ihren physischen Formen voll der gegenwärtigen Entwick- 
Jungsstufe der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ent- 
sprechen, weit weniger haben, bzw. die sie durch ihre Um- 
setzung schon eingebüßt haben.) 
3. Der Anachronismus hat noch ein drittes Moment, nämlich 
die physische Obsolenz der Bausubstanz, das Zurückbleiben 
der Wohnungsausstattung hinter mittlerweile durchschnitt- 
lichen Standards, und die Unterausstattung dieser Stadtvier- 
tel mit sozialer Infrastruktur, Freizeiteinrichtungen, etc. Die 
Bewohner des Viertels erkaufen also die Qualitätsmomente 
partiell nicht entfremdeter Lebenszusammenhänge mit dem 
Verzicht auf selbstverständlichen „Komfort”. Und nur weil 
hier diese selbstverständlichen Gebrauchswerte fehlen, kön- 
nen sie in diesem Viertel zu tragbaren Mieten wohnen. Ande- 
rerseits ist die infrastrukturelle Ausstattung dieser Viertel 
auf strukturelle Bedingungen staatlicher Interventionstätig- 
keit auf diesem Sektor zurückzuführen: die Lokalisierung 
von Versorgungseinrichtungen der sozialen Infrastruktur hat 
sich nach dem Kriterium der Schaffung optimaler Wachstums 
voraussetzungen für die städtische und regionale Wirtschaft 
in Relation zu konkurrierenden Räumen zu richten. Das 
heißt, daß etwa die Hebung der Attraktivität der Stadt für 
qualifizierte Arbeitskräfte durch gute Ausstattung neuer 
Wohngebiete funktionaler ist, als die Verbesserung der Le- 
bensbedingungen für Arbeitskräfte, deren Qualifikation 
nicht mehr den Anforderungen einer zukunfts- und wachs- 
tumsträchtigen Verwertung entspricht. 
Nach dieser Darstellung der Wesensmomente von Milieu 
und ihrer Zusammenhänge und historischen Entwicklung 
kann man die Frage nach der Reproduzierbarkeit von Milieu 
negativ beantworten. Es ist klar, daß wesentliche Momente 
von Milieu, wie eben die Bau- und Funktionsstruktur in 
ihrem historischen Kontext, und die in ihr enthaltenen 
materialisierten Lebensbedingungen nicht mehr nachvoll- 
ziehbar sind. Also ist Milieu als Ganzes nicht reproduzierbar. 
Auf der Grundlage der verkürzten Definition von Milieu 
(Reduzierung auf die Ästhetik der Bausubstanz) wird natür- 
lich versucht, „Milieu” zu reproduzieren (vgl. Teil A). Die- 
ses bestimmte Moment, die Bausubstanz, ist als einzelnes 
zwar reproduzierbar, nur sind damit eben nicht die Ent- 
stehungsgeschichte und die traditionellen Momente, aus 
denen gerade die Möglichkeiten der partiell nicht entfrem- 
deten Verkehrsformen der Bewohner entscheidend mitre- 
sultieren, gleichermaßen wiederhergestellt. 
Die Forderung nach der Erhaltung spezifischer Milieuquali- 
täten, nämlich der Möglichkeit zu nicht völlig entfremdeten 
und verdinglichten Verkehrs- und Verhaltensformen und 
einer rudimentären proletarischen politischen Öffentlichkeit 
ist die Forderung nach der Erhaltung von Gebrauchswerten 
und Konsumtionsweisen, die den aktuellen Erfordernissen 
der kapitalistischen Produktionsverhältnisse widersprechen. 
Dieser Widerspruch erscheint auf verschiedenen Ebenen: 
1. Die für die Milieuqualitäten wesentliche Funktionsstruk- 
tur innerstädtischer Arbeiterwohnviertel steht im Wider- 
spruch zu den objektiven Tendenzen der Entwicklung der 
kapitalistischen Produktionsweise, sowohl in bezug auf de- 
ren strukturelle als auch in bezug auf deren räumliche Aus- 
6” 
wirkungen und Erfordernisse. Konzentrationsprozesse äus- 
sern sich im Verschwinden kleiner Handwerks- und Einzel- 
handelsbetriebe; der Prozeß der Durchsetzung einer den Er- 
fordernissen der Kapitalverwertung entsprechenden räumli- 
chen Struktur in den Städten führt zur Tertiärisierung der 
im Erweiterungsbereich der City liegenden innerstädtischen 
Wohnviertel und damit zur Verdrängung der Wohnbevölke- 
rung und der letzten, dem strukturellen Verdrängungspro- 
zeß entgangenen Handels- und Produktionsbetriebe mit ih- 
rer unterdurchschnittlichen Verwertungsrate. Dieser Prozeß. 
in dem die materiellen und immateriellen Bedingungen für 
Milieuqualitäten zerstört werden,setzt sich mit mehr oder 
minder offener Gewaltförmigkeit als geplante Sanierung 
oder schleichende Umstrukturierung durch. 
2. Die Möglichkeiten zu partiell nicht entfremdeten Ver- 
kehrsformen stehen nicht nur objektiv im Widerspruch 
zu den aktuellen Erfordernissen der kapitalistischen Pro- 
duktionsweise, sondern auch subjektiv zu den gegensätzlicher 
Erfahrungen und Verhaltensprägungen, die die Bewohner 
außerhalb des sozialen Lebenszusammenhangs im Stadt- 
viertel, etwa im Produktionsalltag erleben. Selbst wenn also 
die Ausschaltung der Auswirkungen ökonomischer Ent- 
wicklungsprozesse auf die Funktionsstruktur eines Viertels 
gelingen würde, wäre damit noch lange nicht die Erhaltung 
von Milieuqualitäten gesichert. Denn die Perzeptions- und 
Wirkungsweise der im Viertel selbst liegenden materiellen. 
Momente von Milieuqualitäten hängt nicht nur von den 
im Viertel selbst liegenden materiellen Momenten der Mi- 
lieuqualitäten ab, sondern auch von den Alltagserfahrun- 
gen, die die Bewohner außerhalb des Viertels machen. 
Das heißt: die außerhalb des Viertels geforderten Verhal- 
tensmuster und gemachten Erfahrungen beginnen die 
Reste nicht entfremdeten Lebens als wichtiges Moment 
des Milieus zu verdrängen. 
3. Schließlich steht die Forderung nach der Erhaltung 
von Milieuqualitäten im Widerspruch zu der berechtigten 
und notwendigen Forderung nach einer Verbesserung deı 
Gebrauchswerte durch eine dem durchschnittlichen Stan- 
dard entsprechende Wohnungsausstattung und die den 
spezifischen Bedürfnissen der Bewohner des Viertels adä- 
quate Versorgung mit Einrichtungen der sozialen Infra- 
struktur. Dies einmal, weil Wohnungsmodernisierung und 
bessere Infrastrukturausstattung (letztere über externe 
Effekte) automatisch die Wertseite der Baustruktur und 
damit eine der wesentlichen Bedingungen für Milieu ver- 
ändern: die Mieten steigen, die Bewohner werden entweder 
verdrängt oder müssen dürch Konsumeinschränkungen in 
anderen Bereichen, durch Überstunden oder die Mitarbeit 
der Frau die höhere Mietbelastung kompensieren. Die 
Lebensbedingungen der Bewohner ändern sich in jedem Fall 
einschneidend. 
Zum zweiten hat die Verbesserung der Wohnungsausstattung 
und der Versorgung mit sozialen Infrastruktureinrichtungen 
über die von bürgerlichen Planern nach bürgerlichen Lebens- 
modellen bestimmte Form dieser Gebrauchswerte und die 
darin angelegte Konsumtionsweise Einfluß auf die Ver- 
kehrs- und Verhaltensformen der Bewohner. Die Forderung
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.