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nach der Verbesserung der Gebrauchswerte kann sich also
durchaus als trojanisches Pferd erweisen, solange diese Ge-
brauchswerte nicht inhaltlich nach den Interessen der
Lohnabhängigen bestimmt sind.
Diese Widersprüche zeigen, daß die Forderung nach der
Erhaltung von Milieuqualitäten und der Verbesserung der
Gebrauchswerte im Stadtviertel zwar eine realistische,
aber keine realisierbare 10 ist. Das bedeutet, daß die Wider-
sprüche sich weder von Planern noch von den Bewohnern
im Rahmen der Sanierungsdiskussion auflösen lassen, da
die Gründe für die fehlende Realisierbarkeit der Forderung
in der sich widersprüchlich darstellenden Struktur des ge-
sellschaftlichen Reproduktionsprozesses liegen. Urbanisti-
sche Politik und Sanierungsdiskussion können also nicht
Zentrum und einziger Bezugspunkt politischer Strategie
sein, sondern sind vielmehr einer der Ausgangspunkte ge-
samtgesellschaftlicher Strategie. Damit wird langfristig
tatsächlich eine gewerkschaftliche Strategie 11, in der
sich der Kampf um die Bestimmung des Wertes der Ar-
beitskraft nach der Quantität und der Qualität der Kon-
sumtionsmittel, in der sich das Aufgreifen der Konflikte
in den Betrieben und in den Städten miteinander verei-
nigt 12, zur einzig sinnvollen.
Dies bedeutet jedoch zweierlei nicht: Erstens, daß die Dis-
kussion um die Berufsinhalte — und damit um die Gebrauchs-
werte im Wohn- und Stadtteilbereich — zugunsten einer von
der konkreten Tätigkeit abstrahierenden Diskussion gewerk-
schaftlicher Organisierung des lohnabhängigen Architekten
aus der Bestimmung der Berufspraxis von Architekten
und Planern eliminiert werden kann. Zweitens, daß über
die langfristige Perspektive einer gewerkschaftlichen Strate-
gie die aktuellen kurzfristigen, sich in Bürgerinitiativen äus-
sernden Forderungen der in ihren Lebensbedingungen be-
drohten Stadtbewohner, ignoriert werden. Vielmehr sind
die Bürgerinitiativen als historische Übergangsform sehr
wohl von politischer Bedeutung. 13
Wenn in Bürgerinitiativen Forderungen nach der Erhaltung
und Verbesserung von Gebrauchswerten im Stadtviertel
artikuliert werden, so richten sich diese Forderungen im-
plizit gegen die Rationalität, die die berechtigten Forde-
rungen als nicht realisierbar erscheinen läßt. Es müssen
also neben der Unterstützung kurzfristiger Forderungen
genau die Momente von Bürgerinitiativen aufgenommen
werden, die die kurzfristigen Forderungen transzendieren
und den Ansatz zur Bewußtmachung der Totalität gesell-
schaftlicher Abhängigkeitsverhältnisse und der notwendigen
Einheit der Auseinandersetzung im Betrieb und im Wohn-
viertel darstellen.
Dieser Zusammenhang ist CTR durch ihre Verkürzung
des Milieubegriffs entgangen: Bürgerinitiativen kommen
nicht vor, spontane Bedürfnisartikulation wird eher als
Hereinfallen auf die Ideologie vom Milieu abgetan, und
nachdem als Handlungsperspektiven des Planers fachliche
und wissenschaftliche Arbeit in den Institionen ausführlich
gefordert wurde, wird dies zum Schluß mit dem Hinweis
auf die allein mögliche Perspektive der Organisierung in
ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 25
Gewerkschaften und Parteien wieder zurückgenommen,
wird genau die notwendige Verbindung von Berufsinhalten
und politischer Arbeit ignoriert. Wenn nämlich das Problem
der Erhaltung „billigen und nutzbaren Wohnraums und
seiner Verbesserung” 14 weil es eine politische Forderung
impliziert, aus der Diskussion der Berufsinhalte ausgeblen-
det wird, dann blendet man gleichzeitig das Problem der
inhaltlichen Bestimmung alternativer Gebrauchswerte,
das ein politisches und fachliches ist, aus der Diskussion
um die Berufsinhalte aus.
Es geht weder um die „Aktion Milieuerhalten” aus kulina-
risch-ästhetischen Interessen einiger ausgeflippter Intellek-
tueller, noch allein um die „Aktion Lohnraub verhindern”
oder die „Aktion billige Mieten erhalten”. Es geht um
die Erhaltung und Erweiterung spezifischer Gebrauchswer-
te im Stadtviertel als ein wesentlicher Bestandteil der
Auseinandersetzung um den Wert der Arbeitskraft; es
geht um die Durchsetzung der Forderung nach Erhaltung
und Verbesserung der Gebrauchswerte gegen die Tausch-
rationalität und das kapitalistische Lebensmodell. Es ist
dies ein politisches Problem auf der Ebene einer gesamt-
gesellschaftlichen Strategie, und es ist ebenso ein Problem
der Berufspraxis und der Berufsinhalte von Architekten
und Planern.
Der Vortrag wurde auf der Bundesdelegiertenkonferenz des
BDA, die im Mai 1974 in Berlin-Kreuzberg stattfand, gehalten.
BDA-Manifest
„Zu erhalten und zu pflegen ist gegenwärtig vielmehr günsti-
ge, billige Wohnmöglichkeit. Die anderen von uns und von
Bewohnern als positiv erachteten äußeren Merkmale wie auch
Kommunikation ergeben sich daraus, nicht umgekehrt.”
(CTR; 5.37)
W.F. Haug, Zur Kritik der Warenästhetik, Frankfurt/M. 1971,
S. 148.
Michael Schneider, Neurose und Klassenkampf, Reinbek
1973,S. 171:
Francis Godard, Vom Bedürfnisbegriff zur Klassenpraxis,
deutsch in: Marxismus Digest, Heft 3/73, S. 22.
Vgl. dazu u.a.: Projektgruppe Eisenheim, Rettet Eisenheim,
2. Aufl. Berlin 1973, bes.: S. 62-142.
Michael Schneider, Neurose und Klassenkampf, Reinbek 1973
A. Evers, Städtische Strukturen und Staatsinterventionismus,
in: Arch+ 20/73, S. 14.
10) Zur Definition der Begriffe „realistisch”” und „realisierbar””
vgl. oben, Teil B.
11) Vgl.CTR,5S. 38.
12) Vegl. dazu: A. Evers, Städtische Strukturen und Staatsinter-
ventionismus, in: Arch+ 20/73, S. 33 ff.
Vgl. dazu u.a. A. Evers, op. cit. S. 35/36: „„.. . solange Ar-
beiter und Angestellte bereits begriffen haben, daß die Pro-
bleme in den Städten in steigendem Maße ihre Lebensbedin-
gungen und Chancen berühren, ihre Stellung im Arbeitsprozeß
und die kommunale Werbung mit Wohn- und Freizeitbedarf
zwei Seiten einer Medaille bilden, ihre gewerkschaftlichen
Organisationen jedoch, deren Aufgabe die Erhaltung des Werts
der Arbeitskraft sein müßte, in der überwiegenden Mehrheit
noch nicht fähig und willens zu sein scheinen, diesem prakti-
schen Auftrag seinen heute notwendigen Ausdruck zu geben,
muß sich notwendig der praktische Widerstand spontan neben
ihnen artikulieren.”
14): :CTR., 5:38.
4)
13)