ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 25
Christina Thürmer-Rohr
DIE ABSTRAKTION VOM TAUSCHWERT:
ZUR KRITIK VON “MILIEU UND WAS
DAHINTER STECKT”
VON FUHRMANN/MAILANDT/REISS-
SCHMIDT,
Diese Stellungnahme zur Kritik meines Referats zum The-
ma „Milieu” (Arch+ 23, 1974, S. 32-38) soll vermeiden,
daß über Rechtfertigungsreden der sachliche Inhalt verwischt
und die Auseinandersetzung zur persönlichen und damit un-
interessant wird. Vielmehr geht es darum, die unterschiedli-
chen Positionen zu der diskutierten Sache deutlich heraus-
zuarbeiten, anstatt sie nochmals mit einem komplizierten
Wortballast zu verunklaren. Erschwert wird die Absicht
allerdings dadurch, daß der Beitrag von Fuhrmann/Mailandt/
Reiss-Schmidt eine Reihe objektiv falscher Aussagen macht,
die richtig gestellt werden müssen; ebenso wie falsche Prä-
missen, die daraus resultieren, daß das kritisierte Referat
für die Polemik solange zurechtgestutzt wurde, bis es zu
den Intentionen der Kritiker paßte.
1. Das zur Diskussion stehende Referat ist als Vortrag auf
einem BDA-Kongreß entstanden: Es handelt sich also um
einen klar adressierten Beitrag zu einem bestimmten Zeit-
punkt mit einer auf die Situation bezogenen bestimmten
Zielsetzung. Die Abstraktion von diesen konkreten Bedingun-
gen, nämlich das Behandeln des Beitrags so als sei er eine ab-
gehobene, umfassende Abhandlung zum Thema, beweist
ein ahistorisches Vorgehen bei der Materialrezeption. Ziel
des Vortrags lag nicht in Definitionsbemühungen (damit sol-
len definitorische Nachlässigkeiten nicht entschuldigt wer-
den: den Hinweis auf eine analytische Trennung von drei
Begriffsebenen des Milieubegriffs sehe ich als notwendige
Korrektur an), sondern in der Bestimmung von Interessen,
besonders der Mieter ganz bestimmter gegenwärtiger Sanie-
rungsgebiete.
2. Die Rezensenten befinden sich in Übereinstimmung mit
der BDA-internen Diskussion und mit Kommentaren der
Presse, wenn sie gegen meine Position den Vorwurf der „öko-
nomistischen Verkürzung” erheben: Das Referat hatte darauf
abgehoben, in der Gegenüberstellung von aktueller Interessen-
lage des Architektenstandes einerseits und Interessenlage
sanierungsbetroffener Mieter andrerseits die ökonomische
Situation der Mieter zum Ausgangspunkt einer Einschätzung
ihres Interesses an der Erhaltung von „Milieu” zu machen.
Die Bindung der Sanierungsmieter an Wohnung und Wohn-
gebiet wurde dabei in erster Linie als ökonomisch bedingt
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angesehen und auf billige Mieten und Lebenshaltungskosten,
günstige Lage der Wohnung zu Arbeitsplätzen, öffentlichen
Verkehrsmitteln, Dienstleistungen zurückgeführt (S. 35 f.).
Die Rezensenten machen dieser Schwerpunktsetzung den
Vorwurf undialektischer Betrachtungsweise. Ein undialekti-
scher Milieubegriff werde verwandt; demgegenüber sei „Mi-
lieu” nur als dialektisches Verhältnis von materiellen und im-
materiellen Bedingungen interpretierbar.
Der Dialektikbegriff wird hier mißbraucht in der Funktion,
klare Sachverhalte zu verwischen und in Unverbindlichkeiten
aufzulösen. Im Nebel so verstandener Widersprüche findet
man sich dann nicht mehr zurecht und die wesentliche Seite
des Widerspruchs kann nicht mehr erkannt werden. Darin
liegt aber die wichtigste Aufgabe, wenn man auf der Grund-
lage materialistischer Dialektik eine Sache analysieren will:
nämlich in der Bestimmung der hauptsächlichen Seite des
Widerspruchs. Denn die beiden Seiten eines Widerspruchs
sind nicht gleichgewichtig, vielmehr ist eine Seite immer die
Hauptseite, — diejenige, die den Charakter und die Entwick-
lung der zu analysierenden Erscheinung bestimmt, — und
eine die Nebenseite. In dem Widerspruch von materiellen
und immateriellen Bedingungen des Wohnens in einem be-
stimmten Sanierungsquartier wurde die materielle Seite als
Hauptseite bestimmt und die weitere Einschätzung unter
dieser Voraussetzung vorgenommen. Die Autoren lehnen
implizit die Bestimmung der materiellen Seite des bestimm-
ten Widerspruchs zur Hauptseite des Widerspruchs ab.
3. Die materielle Seite von „Milieu” wurde von mir nicht
ausschließlich aber pointiert an ihrem härtesten Moment,
der Miete — Preis für eine bestimmte Ware, deren Besitz
unentbehrlich und die zum gleichen Preis anderswo nicht
zu haben ist, — festgemacht. Die Rezensenten sind nun
der Meinung, hier fallen andere Qualitäten unter den Tisch.
Vom Gebrauchswert werde abstrahiert, die billige Wohnung
werde per se zur Qualität. Der Nutzenbegriff werde auf
die „ökonomische Rationalität des Warentauschs” redu-
ziert. Die Autoren machen den Gebrauchswert der Wohnung
zur Hauptseite des Widerspruchs von Gebrauchswert und
Tauschwert. Für sie rangiert die Miete, also der Tauschwert
der Wohnung, lediglich als ein Moment unter vielen. Dem-
gegenüber galt es zu zeigen, daß der Gebrauchswert sich
überhaupt erst realisieren kann, wenn der Tauschakt voll-
zogen werden kann. Das Gebrauchsgut Wohnung, — des-
sen notwendige Qualitätsverbesserung ich überhaupt nie
in Frage gestellt habe, das in der wortreichen Rezension
allerdings nie präzise bestimmt wird, — wird nicht um sei
ner selbst willen, sondern als Träger von Tauschwert her-
gestellt. Solange es die Lohnhöhe von Käufern nicht zu-
läßt, kann der Tausch nicht stattfinden: Der Mieter kann
seine ihm eigentümliche Ware, die Arbeitskraft, nicht teu-
er genug verkaufen, um das Warengeschäft eingehen zu
können; die Sanierungsmieter der gemeinten Gebiete kom-
men als Käufer des Gebrauchs einer verbesserten qualität-
volleren Ware Wohnung großenteils nicht in Betracht,
bzw. belasten sich durch den Kauf in unzulässiger Weise.
Die Forderung nach Verbesserung der Wohnverhältnisse