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ARCH+ 7. Jg. (1975) H: 25
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darf nicht allein gestellt werden: Die Reihenfolge muß heis-
sen: Billige und bessere Wohnungen. Die umgekehrte Reihen-
folge zeugt von weitgehender Unkenntnis der realen Verhält-
nisse in den Gebieten, von denen die Rede ist und auf die
sich alle Aussagen allein bezogen.
4. Die Autoren glauben, der Beweis dafür, daß sanierungsbe-
dingte Verluste sich in materialisierbaren Faktoren nicht
allein oder erstrangig erfassen ließen, sei darin zu sehen, daß
der Sozialstaat nicht mit Interventionen, z.B. Subventionen,
Sozialleistungen, die Probleme löse: Der Sozialstaat würde
die Verluste doch ausgleichen, wenn sie wirklich in so ma-
terialisierbarer Gestalt existieren würden! Die Autoren gehen
offenbar davon aus, daß der kapitalistische Staat die Mög-
lichkeit zu umfassender und gezielter Regulierung ökonomi-
scher, gesellschaftlicher und politischer Prozesse habe und
die Verteilung des Sozialprodukts je nach politischen Er-
fordernissen vornehmen könne. Die Illusion vom Sozialstaat
ist hier ungebrochen: Die Auffassung von der unabhängig
von der kapitalistischen Form der Produktion verteilenden
Tätigkeit des Staates und damit die Überschätzung seiner
Eingriffsmöglichkeiten. Miete ist bereits Ergebnis politi-
scher Intervention, denn jede Miete ist eine subventionier-
te Miete. Der „Sozialstaat”’ ist eben nicht in der Lage, den
Ausgleich zu garantieren.
5. Überschätzt werden weiterhin die Eingriffsmöglichkeiten
des Planers und Architekten, wenn Fuhrmann/Mailandt/
Reiss-Schmidt meinen, er könne „innerhalb seiner konkret
nützlichen Berufstätigkeit jenseits und gegen die Rationali-
tät des Warentauschs” arbeitern. Die Autoren meinen,
eine „ökonomistische”” Position, d.h. die Betonung des
Tauschwerts der Wohnung, behindere die Handlungsmög-
lichkeiten des Architekten. Behindert werden kann damit
jedoch höchstens die Einbildung gewisser Handlungsmög-
lichkeiten, nämlich „zugunsten der Verbesserung der Le-
bensbedingungen der Masse der Lohnabhängigen” zu ar-
beiten. Im Glauben an die bedeutenden Eingriffsmöglich-
keiten des Architekten, der die gegebenen Spielräume nur
richtig nutzen lernen muß, steckt — in weitgehender Über:
einstimmung mit der herrschenden BDA-Ideologie — wei-
terhin die Auffassung von der Unabhängigkeit der Planung.
Das Planungsergebnis ist aber erst in letzter Linie der Fin-
digkeit, Überzeugungskraft oder Veränderungsanstrengung
des Architekten zuzuschreiben; er kann nicht mehr reali-
sieren, als die Planungsziele und die Interessen seiner Auf-
traggeber es zulassen. Es kann nicht darum gehen, Erkennt:
nisse unter dem Aspekt ihrer Dienlichkeit zur subjektiven
Lebenshilfe, zur Instandsetzung des psychischen Haushalts
des Individuums zu organisieren und zu selegieren. Natür-
lich ist es viel befriedigender, seine tägliche Tätigkeit im
Bewußtsein ihrer tatsächlichen Nützlichkeit zu betreiben!
6. Historisch völlig falsch ist die Einschätzung der Epoche,
in der die hier in Frage stehenden Wohnquartiere entstanden
sind: Nicht in einer „frühkapitalistischen Epoche” mit noch
„vorindustriell”” geprägter Stadtstruktur. Vielmehr um 1870
und danach, in der Blüte des Hochkapitalismus, während
der Entwicklung Deutschlands zum durchkapitalisierten
Industriestaat nach der zweiten großen Industrialisierungs-
welle. Die jetzigen Sanierungsviertel sind in Berlin großen-
teils direkt als Arbeiterviertel geplant worden, nachdem sie
von Produktionsstätten geräumt worden waren, die an ver-
kehrsgünstigere Standorte wanderten. Diese „vergangenen
Zeiten” werden mit ihren angeblich „weniger entfremdeten”
Lebensbedingungen von Fuhrmann/Mailandt/Reiss-Schmidt
idyllisch verklärt. Sie konstruieren einen Widerspruch zwi-
schen dem Kapitalismus von 1870 und dem von heute. Daß
dieser Widerspruch erfunden ist, zeigen die durch Exmittie-
rungen ausgelöste Berliner Wohnungsrevolte von 1872, die
im gleichen Jahr im Leipziger „Volksstaat” erschienenen
Artikel „Zur Wohnungsfrage” von Friederich Egensl, Unter-
suchungen der Berliner Wohnverhältnisse durch die Berli-
ner Arbeiter-Sanitäts-Kommission, veröffentlicht 1893 etc.
7. Fuhrmann/Mailandt/Reiss-Schmidt ziehen Inhalte und
Forderungen von Bürgerinitiativen für die Erhaltung von
„Milieu” als Beweis für die tatsächliche Priorität des Ge-
brauchswerts gegenüber dem Tauschwert des Quartiers bzw.
seiner Wohnungen heran, bzw. sie erklären diejenigen For-
derungen, denen es „nur”” um den Tauschwert, die Miete,
geht, mit der unzureichenden Artikulationsfähigkeit und
dem mangelnden Durchblick der Mieter. Zur richtigen Er-
klärung solcher Unterschiede kann aber nur die Frage füh-
ren: Wer ist es, der die Forderung stellt. Die Klassenfrage
wird von den Autoren konsequent vermieden. Sie wird
nie gestellt, weder wenn es um die Bestimmung von Bedürf-
nissen, noch um das Verhältnis von materiellen und imma-
teriellen Wohnbedingungen und von Gebrauchswert und
Tauschwert, noch der Aktionen von Bürgerinitiativen geht.
Deswegen können auch Bürgerinitiativen, ihre Forderungen
und ihre gesellschaftliche Funktion nicht präzise einge-
schätzt werden und wird ihnen generell eine Bedeutung
bei der „Emanzipation vom kapitalistischen Lebensmodell”
(was soll das heißen? ) zugesprochen. Die meisten Bürger-
initiativen im Wohnsektor sind kleinbürgerliche Initiativen.
Damit sollen sie nicht grundsätzlich disqualifiziert werden.
Aber die Bestimmung ihrer Funktion und die Einschätzung
ihrer Forderungen kann nur über die Bestimmung ihrer
klassenmäßigen Interessen erfolgen. Das Erhalten von
Pöseldorfs entspricht proletarischen Interessen nicht und
wird von den entsprechenden Initiativen auch nicht ge-
fordert.