Full text: ARCH+ : Studienhefte für Planungspraxis und Planungstheorie (ab H. 28: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen) (1975, Jg. 7, H. 25-28)

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ARCH+ 7. Jg. (1975) H: 25 
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darf nicht allein gestellt werden: Die Reihenfolge muß heis- 
sen: Billige und bessere Wohnungen. Die umgekehrte Reihen- 
folge zeugt von weitgehender Unkenntnis der realen Verhält- 
nisse in den Gebieten, von denen die Rede ist und auf die 
sich alle Aussagen allein bezogen. 
4. Die Autoren glauben, der Beweis dafür, daß sanierungsbe- 
dingte Verluste sich in materialisierbaren Faktoren nicht 
allein oder erstrangig erfassen ließen, sei darin zu sehen, daß 
der Sozialstaat nicht mit Interventionen, z.B. Subventionen, 
Sozialleistungen, die Probleme löse: Der Sozialstaat würde 
die Verluste doch ausgleichen, wenn sie wirklich in so ma- 
terialisierbarer Gestalt existieren würden! Die Autoren gehen 
offenbar davon aus, daß der kapitalistische Staat die Mög- 
lichkeit zu umfassender und gezielter Regulierung ökonomi- 
scher, gesellschaftlicher und politischer Prozesse habe und 
die Verteilung des Sozialprodukts je nach politischen Er- 
fordernissen vornehmen könne. Die Illusion vom Sozialstaat 
ist hier ungebrochen: Die Auffassung von der unabhängig 
von der kapitalistischen Form der Produktion verteilenden 
Tätigkeit des Staates und damit die Überschätzung seiner 
Eingriffsmöglichkeiten. Miete ist bereits Ergebnis politi- 
scher Intervention, denn jede Miete ist eine subventionier- 
te Miete. Der „Sozialstaat”’ ist eben nicht in der Lage, den 
Ausgleich zu garantieren. 
5. Überschätzt werden weiterhin die Eingriffsmöglichkeiten 
des Planers und Architekten, wenn Fuhrmann/Mailandt/ 
Reiss-Schmidt meinen, er könne „innerhalb seiner konkret 
nützlichen Berufstätigkeit jenseits und gegen die Rationali- 
tät des Warentauschs” arbeitern. Die Autoren meinen, 
eine „ökonomistische”” Position, d.h. die Betonung des 
Tauschwerts der Wohnung, behindere die Handlungsmög- 
lichkeiten des Architekten. Behindert werden kann damit 
jedoch höchstens die Einbildung gewisser Handlungsmög- 
lichkeiten, nämlich „zugunsten der Verbesserung der Le- 
bensbedingungen der Masse der Lohnabhängigen” zu ar- 
beiten. Im Glauben an die bedeutenden Eingriffsmöglich- 
keiten des Architekten, der die gegebenen Spielräume nur 
richtig nutzen lernen muß, steckt — in weitgehender Über: 
einstimmung mit der herrschenden BDA-Ideologie — wei- 
terhin die Auffassung von der Unabhängigkeit der Planung. 
Das Planungsergebnis ist aber erst in letzter Linie der Fin- 
digkeit, Überzeugungskraft oder Veränderungsanstrengung 
des Architekten zuzuschreiben; er kann nicht mehr reali- 
sieren, als die Planungsziele und die Interessen seiner Auf- 
traggeber es zulassen. Es kann nicht darum gehen, Erkennt: 
nisse unter dem Aspekt ihrer Dienlichkeit zur subjektiven 
Lebenshilfe, zur Instandsetzung des psychischen Haushalts 
des Individuums zu organisieren und zu selegieren. Natür- 
lich ist es viel befriedigender, seine tägliche Tätigkeit im 
Bewußtsein ihrer tatsächlichen Nützlichkeit zu betreiben! 
6. Historisch völlig falsch ist die Einschätzung der Epoche, 
in der die hier in Frage stehenden Wohnquartiere entstanden 
sind: Nicht in einer „frühkapitalistischen Epoche” mit noch 
„vorindustriell”” geprägter Stadtstruktur. Vielmehr um 1870 
und danach, in der Blüte des Hochkapitalismus, während 
der Entwicklung Deutschlands zum durchkapitalisierten 
Industriestaat nach der zweiten großen Industrialisierungs- 
welle. Die jetzigen Sanierungsviertel sind in Berlin großen- 
teils direkt als Arbeiterviertel geplant worden, nachdem sie 
von Produktionsstätten geräumt worden waren, die an ver- 
kehrsgünstigere Standorte wanderten. Diese „vergangenen 
Zeiten” werden mit ihren angeblich „weniger entfremdeten” 
Lebensbedingungen von Fuhrmann/Mailandt/Reiss-Schmidt 
idyllisch verklärt. Sie konstruieren einen Widerspruch zwi- 
schen dem Kapitalismus von 1870 und dem von heute. Daß 
dieser Widerspruch erfunden ist, zeigen die durch Exmittie- 
rungen ausgelöste Berliner Wohnungsrevolte von 1872, die 
im gleichen Jahr im Leipziger „Volksstaat” erschienenen 
Artikel „Zur Wohnungsfrage” von Friederich Egensl, Unter- 
suchungen der Berliner Wohnverhältnisse durch die Berli- 
ner Arbeiter-Sanitäts-Kommission, veröffentlicht 1893 etc. 
7. Fuhrmann/Mailandt/Reiss-Schmidt ziehen Inhalte und 
Forderungen von Bürgerinitiativen für die Erhaltung von 
„Milieu” als Beweis für die tatsächliche Priorität des Ge- 
brauchswerts gegenüber dem Tauschwert des Quartiers bzw. 
seiner Wohnungen heran, bzw. sie erklären diejenigen For- 
derungen, denen es „nur”” um den Tauschwert, die Miete, 
geht, mit der unzureichenden Artikulationsfähigkeit und 
dem mangelnden Durchblick der Mieter. Zur richtigen Er- 
klärung solcher Unterschiede kann aber nur die Frage füh- 
ren: Wer ist es, der die Forderung stellt. Die Klassenfrage 
wird von den Autoren konsequent vermieden. Sie wird 
nie gestellt, weder wenn es um die Bestimmung von Bedürf- 
nissen, noch um das Verhältnis von materiellen und imma- 
teriellen Wohnbedingungen und von Gebrauchswert und 
Tauschwert, noch der Aktionen von Bürgerinitiativen geht. 
Deswegen können auch Bürgerinitiativen, ihre Forderungen 
und ihre gesellschaftliche Funktion nicht präzise einge- 
schätzt werden und wird ihnen generell eine Bedeutung 
bei der „Emanzipation vom kapitalistischen Lebensmodell” 
(was soll das heißen? ) zugesprochen. Die meisten Bürger- 
initiativen im Wohnsektor sind kleinbürgerliche Initiativen. 
Damit sollen sie nicht grundsätzlich disqualifiziert werden. 
Aber die Bestimmung ihrer Funktion und die Einschätzung 
ihrer Forderungen kann nur über die Bestimmung ihrer 
klassenmäßigen Interessen erfolgen. Das Erhalten von 
Pöseldorfs entspricht proletarischen Interessen nicht und 
wird von den entsprechenden Initiativen auch nicht ge- 
fordert.
	        
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