ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 26
2. Exkurs: Was bestimmt den Wohnstandard? 31)
Wir meinen, daß die vorhandenen und geplanten gesetzlichen
Regelungen'zur Förderung der Modernisierung mehr darauf
ausgerichtet Sind, Strukturkrisen der Bauproduktion’zu
bekämpfen, als den Wohnstandard für die Masse der Mieter
zu heben. Dennoch wird vom Gesetzgeber gerade die gegef-
teilige Behauptung aufgestellt und damit die Modernisierung
propagiert. Es ergibt sich die nüchterne Frage: Was bzw.
wer bewirkt eigentlich Veränderung des jeweiligen Woh-
nungsstandards? Dazu ein kurzer Exkurs.
2.1 Wohnstandards sind Ausdruck des gesellschaft-
lichen Kräfteverhältnisses
Die Verbesserung des Lebensstandards allgemein, also
auch die Verbesserung des Wohnstandards, hat technische
Voraussetzungen. Der Einbau von sanitären und elektri-
schen Installationen, wie sie heute im Wohnungsbau üb-
lich sind, von Sammelheizungen etc., setzt ein bestimm-
tes Niveau der technologischen Entwicklung voraus.
Die Verbesserung des Wohnstandards hat aber vor
allem politische Voraussetzungen. Die notwendige Tech-
nologie vorausgesetzt, stellt sich immer noch die Frage,
wer welchen Standard in Anspruch nehmen kann. Die
Wohnung ist ein unverzichtbares Gut, wird aber unter
kapitalistischen Bedingungen als Ware behandelt und ge-
handelt. Lage, Größe und Ausstattung von Wohnungen
werden nicht am Bedarf orientiert, sondern sind vor
allem von der zahlungsfähigen Nachfrage der Mieter oder
Käufer abhängig.
Unzureichende Wohnstandards sind für all diejeni-
gen ein Problem, deren Zahlungsfähigkeit vor allem be-
schränkt ist: für die Lohnabhängigen. Über deren Zah-
lungsfähigkeit, über die Verteilung des gesellschaftlichen
Reichtums, entscheidet letztlich das gesellschaftliche
Kräfteverhältnis zwischen den Klassen. Die Veränderung
der Wohnstandards ist ein Spiegelbild der Veränderung
dieses Krftesrhöllase, ES At mm
"Zu Beginn der Industrialisierung war dieses Kräftever-
hältnis extrem ungünstig für das Proletariat. Die anfäng-
lich mangelnde Organisation der Industriearbeiter ermög-
lichte deren schrankenlose Ausbeutung nicht nur im Ar-
beits-, sondern auch im Wohnbereich. Kriterium für das
Maß der baulichen Verdichtung wurde nicht das Bedürf-
nis nach Licht und Sonne, sondern die Maximierung der
Mieteinnahmen und allenfalls der Schutz des Privateigen-
tums vor Zerstörung: die Größe der „Innenhöfe” wurde
bestimmt durch den Wendekreis des Feuerlöschwagens,
der Abstand der Gebäude durch die Basis des Trümmer-
kegels eines eingestürzten Hauses.
Nicht zuletzt die Verknappung der Arbeitskräfte er-
möglichte die Veränderung der gesellschaftlichen Kräfte-
verhältnisse: das Proletariat organisierte sich in Gewerk-
schaften und Parteien. Die Industrie war erstmals zu dem
Versuch gezwungen, ihre Stammarbeiterschaft durch
Werkswohnungen an sich zu binden. Vor allem große
Unternehmen konnten es sich leisten, in größerem Um-
fang Kapital für den Bau von Werkswohnungen vorzu-
schießen:
— Die Firma Krupp baute bis 1899 insgesamt 2.694
Werkswohnungen für rund 13.000 Personen sowie
Ledigenkasernen für 1.800 Betriebsangehörige. 32)
Der Standard der Werkswohnungen war in der Regel
besser als bei Mietwohnungen, die von privaten Speku-
lanten errichtet wurden. Schließlich ging es darum, die
Abhängigkeit der Stammarbeiterschaft dauerhaft zu
sichern:
— Schon 1846 baute die Gutehoffnungshütte/Oberhausen
die Siedlung Eisenheim I, deren 4-Zimmer-Wohnungen
— jeweils in Doppelhäusern — 72 qm (!) Nutzfläche
besitzen 33).
Parallel entwickelte sich der staatliche, gemeinnützige
und genossenschaftliche Wohnungsbau: bis heute ist er
jedoch allenfalls Korrektiv der unzulänglichen privat-
kapitalistischen Wohnungsversorgung 34). Er ist zwar
dem Marktmechanismus nicht unmittelbar unterworfen.
Der Warencharakter der Wohnung bleibt jedoch erhalten.
Größe, Lage und Ausstattung sind nach wie vor abhän-
gig von der Zahlungsfähigkeit der Mieter. Der Unterschied
zum privatkapitalistischen Wohnungsbau besteht darin,
daß der Benutzerkreis auf untere Einkommensschichten
beschränkt wird und daß der Preis der Wohnungen
durch Profitbegrenzungen, öffentliche Finanzzuschüsse
oder Bereitstellung verbilligten Baulandes gesenkt wird.
Entfallen einer oder mehrere der verbilligenden Fakto-
ren, kommt diese Art des Wohnungsbaus naheliegend
in Schwierigkeiten oder gar zum Erliegen.
In den 20er Jahren verbesserte sich die Wohnsitua-
tion der Arbeiter und Angestellten — eine Folge der
revolutionären Periode zwischen 1918 und 1923: Die’
bürgerliche Herrschaft wurde zwar nicht gestürzt, aber
ihre Aufrechterhaltung erforderte Zugeständnisse (z.B.
den 8-Stunden-Tag).
Während des Krieges war der Wohnungsbau zum Er-
liegen gekommen. Nach wie vor herrschte extreme Woh-
nungsnot. Erstmals übernahm der Staat für eine Über-
gangsperiode in größerem Umfang die Wohnungsversor-
gung. Es wurde versucht, die Mieten der Neubauwohnun-
gen nicht nur durch staatliche Zuschüsse, sondern vor
allem durch Vereinheitlichung, aber auch Minimierung
der Wohnstandards an die äußerst begrenzte Zahlungs-
fähigkeit der Arbeiter und Angestellten anzupassen.
Trotzdem brachte der staatliche bzw. kommunale .Woh-
nungsbau teilweise erhebliche Fortschritte.
Wohl bekanntestes Beispiel ist der Wiener Volks-
wohnungsbau. Im Rahmen kommunaler Wohnungsbau-
programme, die von der sozialdemokratischen Mehrheit
durchgesetzt wurden, entstanden dort zwischen 1923
und 1934 64.000 Wohnungen 35). Die kommunalen
Richtlinien schrieben vor, vermehrt Gemeinschafts-
einrichtungen zu schaffen sowie 50% des Baugrundstücks
als gärtnerisch gestaltete Freifläche zu nutzen. Lichthöfe
zur Belichtung von Wohnräumen wurden untersagt.
Zwar waren 75% der Neubauwohnungen nur 38 qm groß
und weitere 12% nur 48 qm, doch hatte jede Wohnung
WC. Wasseranschluß und Gasherd.