Full text: ARCH+ : Studienhefte für Planungspraxis und Planungstheorie (ab H. 28: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen) (1975, Jg. 7, H. 25-28)

ARCH+ 7. Jg. (1975) H. 26 
So bescheiden dies erscheint, der Vergleich mit Zahlen 
aus der Wiener Wohnungszählung von 1917 erweist den 
tatsächlichen Fortschritt: Bis 1917 hatten nämlich 73,2%, 
in Arbeitervierteln oft mehr als 90% aller Wiener Wohnun- 
gen nur 1 — 1 1/2 Zimmer. Aborte und Wasserstellen gab 
es in der Regel nur außerhalb der Wohnungen. 
Die von den Sozialdemokraten zu Beginn der Weimarer 
Republik vorangetriebenen kommunalen Wohnungsbaupro- 
gramme.— beispielsweise in Berlin und Frankfurt — verlie- 
fen in vieler Hinsicht ähnlich wie in Wien. 
Die sich verschärfende wirtschaftliche Krise — mit der 
Weltwirtschaftskrise 1929 — 32 als Höhepunkt — blieb 
nicht ohne Folgen für den Wohnstandard. Schon 1926 
wird die „Reichsforschungsstelle für Wirtschaftlichkeit 
im Bau- und Wohnungswesen” gegründet. Ihr Ziel: Ent- 
wicklung von Kleinstwohnungen. Auch im Bauhaus steht 
die Minimalwohnung im Zentrum der architektonischen 
Diskussion. 
Während der Weltwirtschaftskrise entsteht dann die 
groteske Situation, daß einerseits — trotz „Krisenmie- 
ten” — hunderttausende von Wohnungen mit gutem Wohn- 
standard leerstehen, während andererseits ein Bedarf von 
1 Million Wohneinheiten nicht gedeckt werden kann. 36) 
Der Einsatz von „Ersatz- und Sparbauweisen””, der Bau 
von Kleinstwohnungen und Erwerbslosensiedlungen wer- 
den auch im 3. Reich fortgeführt. Allerdings kommt es 
bald zu weiterer Beschränkung der öffentlich geförder- 
ten Wohnungsbauprogramme und zur weiteren Senkung 
des Wohnstandards. Das ist nicht erstaunlich, ist doch 
der Faschsimus die ultima ratio der bürgerlichen Klasse, 
ihre seit 1918 erschütterte Herrschaft endgültig wieder 
zu festigen. Ausdruck vollständig veränderter Kräftever- 
hältnisse ist die sofortige Auflösung der Gewerkschaften 
und die Durchsetzung eines Lohnstopps. 
Der Grund für die erneute Steigerung der Wohnstan- 
dards nach dem 2. Weltkrieg, nachvollziehbar etwa beim 
Vergleich der Förderungsbestimmungen des 1. WoBauG 
von 1950 mit den Kölner Empfehlungen von 1970 37), 
liegt in einet langanhaltenden Boomphase der westdeut- 
schen Wirtschaft. Besondere Förderung erfuhr das Fami- 
lieneigenheim. Im 1. WoBauG heißt es: „Beim Neubau von 
Wohnungen ist in erster Linie der Bau von Eigenheimen, 
Kleinsiedlungen . . . zu fördern.” Diese Zielrichtung, im 
2. WoBauG noch verstärkt, hatte ihren Grund allerdings 
nicht nur im Wunsch der damaligen Bundesregierung, den 
Wohnstandard zu heben. Sie war und ist vorwiegend ideo- 
logisch bedingt. Die Eigentumsbildung soll — wie in be- 
grenztem Umfang schon seit Mitte des vorigen Jahrhun- 
derts — als sozialpolitisches Mittel zur Integration der 
Arbeiter und Angestellten in die kapitalistische Gesell- 
schaftsordnung eingesetzt werden. 
Wuermeling, erster Wohnungsbauminister, schrieb da- 
zu 1953: „Eigentum, besonders am eigenen Heim, festigt 
den Bestand und den Zusammenhalt der Familie, am be- 
sten natürlich das Eigenheim als Siedlungshaus, in dem 
die Familie Raum und Luft zur echten Entfaltung hat.” 38) 
Und weiter: ..Millionen innerlich gesunder Familien mit 
rechtschaffen erzogenen Kindern sind als Sicherung ge- 
gen die drohende Gefahr der kinderreichen Völker des 
Ostens mindestens so wichtig wie alle militärischen 
Sicherungen.” 39) 
2.2 Wohnstandards sind Ausdruck des Werts der 
Ware Arbeitskraft 
Für die Verbesserung des Wohnstandards der Lohnab- 
hängigen ist nicht die Steigerung ihrer monetären Zah- 
lungsfähigkeit entscheidend, sondern die reale Steigerung 
des Werts der Ware Arbeitskraft. Der Lohn entspricht — 
als monetärer Ausdruck des Werts der Ware Arbeitskraft 
— dem Wert der Güter und Dienstleistungen, die zur 
Reproduktion der Arbeitskraft notwendig sind. Der 
Lohn deckt allerdings nicht nur die Preise von Gütern 
und Dienstleistungen, die zur Sicherung des physischen 
Existenzminimums dienen, sondern auch von zusätz- 
lichen Gütern und Dienstleistungen, die dem Lebens- 
standard der Lohnabhängigen auf einer bestimmten 
Stufe der Kultur und Produktivität der Arbeit entspre- 
chen. 
Steigt die Produktivität in Landwirtschaft und In- 
dustrie, so sinkt der Wert und damit der Preis der ent- 
sprechenden Güter. Soweit sich damit der Lebensunter- 
halt der Lohnabhängigen verbilligt, sinkt auch der Wert 
der Arbeitskraft. Bleibt gleichzeitig der Lohn konstant, 
so können neue, zusätzliche Güter oder Dienstleistungen 
gekauft werden und der Lebensstandard erhöht sich. 
Gehen die neuen Güter auf Dauer in die Haushalte der 
Lohnabhängigen ein und entsteht ein neues Existenz- 
minimum auf höherer Stufe, erhöht sich auch der Wert 
der Arbeitskraft. 
Dies bedeutet jedoch nicht automatisch, daß der 
gesellschaftliche Reichtum gerechter verteilt wird. Zwar 
hat sich nach dem Kriege in der BRD das Bruttosozial- 
produkt ständig erhöht und wuchsen die Nettolöhne 
(von 1950 bis 1972 um durchschnittlich 140%). Aber 
die Produktivität stieg schneller als die Löhne und die 
Zahl der unselbständig Beschäftigten nahm zu. (1950: 
68,6%, 1970: 82,0%) Die Folge: Der Anteil, den jeder 
Lohnabhängige vom steigenden gesellschaftlichen Reich- 
tum bekam, nahm ab, Mit anderen Worten: es trat eine 
relative Verarmung der Lohnabhängigen ein (vgl. Ab- 
bildung 3), 2 
Auf Grund besonderer Bedingungen 40) ist das Bau- 
gewerbe eine der Branchen mit den geringsten Produk- 
tivitätssteigerungen, d.h. der Wert und damit der Preis 
von Bauprodukten — also auch von Wohnungen — sinkt 
vergleichsweise langsam. Darin liegt ein zentrales Hin- 
dernis für die Verbesserung des Wohnstandards: Seit 
Kriegsende sind zwar eine Vielzahl von relativ verbillig- 
ten Industrieprodukten als selbstverständlich in die 
Haushalte der Lohnabhängigen eingegangen, für die 
meisten von ihnen ist jedoch die Möglichkeit, eine gut 
belichtete und belüftete Wohnung mit Bad, WC und 
Sammelheizung beziehen zu können, immer noch die 
Ausnahme. nicht die Regel. 
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