Venturi und Rauch: Entwurf für die Zweihundertjahrfeier der USA, Fniladelphia, 1972. Schnitt
Vsevolod M. Eichenbaum herausfordern zu
wollen. Es soll hier keiner Theorie des kri-
tischen Empirismus das Wort geredet wer-
den. Vielmehr sind wir der Auffassung, daß
jede Kritik ihre Struktur in der Tat zugleich
aus sich selbst und aus dem analysierten
Gegenstand gewinnt. Darum kann heute
eine hochspezialisierte Analyse von Archi-
tektur, die durch ein sprachtheoretisches
Verständnis gekennzeichnet ist, nur zueinem
Ergebnis führen: zu einer Tautologie.
Die Zergliederung und Rekonstruktion
der geometrischen Metaphern der ‘“kompo-
sitionellen Rigoristen” kann sich als Spiel
ohne Ende und eventuell als nutzlos erwei-
sen, se/bst wenn, wie in der Arbeit E/sen-
mans, der Vorgang der Montage gänzlich‘
durchsichtig ist und in einer höchst lehr-
buchhaften Form vorgestellt wird. In An-
betracht solcher Arbeiten ist es die Aufga-
be der Kritik, werkimmanent zu beginnen,
um dann so schnell als möglich den Teu-
felskreis einer Sprache zu durchbrechen,
die ausschließlich von sich selbst erzählt.
Offensichtlich liegen die Probleme der Kri-
tik anderswo. Wir glauben nicht an die
“neuen Trends” innerhalb der zeitgenössi-
schen Architektur 25), Dennoch besteht
wenig Zweifel an der Existenz einer weit-
verbreiteten Haltung, die darauf bedacht
ist, den einzigartigen Charakter der ‘Dis-
ziplin’ auf eine Weise wiederzugewinnen,
die ihn von seinen ökonomischen und
funktionalen Kontextbedingungen löst,
und ihn zu einem außergewöhnlichen und
von nun an surrealen Ereignis hochstili-
siert, indem sie ihn aus dem durch den ge-
sellschaftlichen Produktionsprozeß ausgelö-
sten Wandel der Objektwelt ausklammert.
Sind derartige Absichten am Werk, spre-
chen wir von einer “architecture dans le
boudoir”. Und das nicht nur, weil wir uns
einer “Architektur der Grausamkeiten” ge-
genübergestellt sehen, wie bei den Arbeiten
von Stirling und Rossi mit ihrer Grausam-
keit einer Sprache — als —System — von —
Ausklammerungen, sondern auch, weil der
magische Kreis, mit dem diese Sprachexpe-
rimente umgeben werden, auf eine über-
deutliche Affinität zu der strukturellen
Strenge der Schriften des Marquis de Sade
offenbart: ‘Da, wo das ganze Interesse
Sexualität ist, müssen alle von Sexualität
reden‘. Die Utopie des Eros bei De Sade:
das ist die ‘fixe Idee’, maximale Freiheit,
entspringe einem Maximum an Terror.
Dem entspricht der das ganze Werk prägen-
de, äußerste Zwang einer ‘geometrischen’
Erzählstruktur. (Dem gleicht — nach Ta-
furi — die „Grausamkeit“ und „„Geome-
trie‘ der „„Erzählweise“ Stirlina‘s und
A
a
Rossi’s — Anm. d. Übers.). Die Wiederge-
winnung einer „Ordnung des Diskurses“‘
mag heute als der Gewinn subjektiver
Freiheiten erscheinen, besonders nach
der Zerstörung ihrer Illusionen durch die
Avantgarde, ihrer Infragestellung der
Techniken der Masseninformationen und
dem Verschwinden künstlerischer Arbeit
im Prozeß der Massenproduktion. Den-
noch bleiben zwei mit der Wiedergewin-
nung einer Ordnung des Diskurses ver-
bundene Widersprüche bestehen: einer-
seits sind solche Versuche dazu bestimmt,
zu zeigen, daß Freiheit nur dazu dient,
das Schweigen der Dinge zum Sprechen
zu bringen d.h., daß mit voluntaristischen
Handlungen die bestehende Struktur
nicht bekämpft werden kann; anderer-
seits bilden die „Regeln des Diskurses’”
einen Versuch, über diesen toten Punkt
hinauszugehen und eine Basis für eine
neue Architekturkonzeption zu
schaffen. (.....) Dennoch sind
wir bisher dem hermetischen Spiel der
Sprache nicht entkommen.
Folgende Fragen muß die Kritik heute
stellen: Welche Bedingungen ermöglichen
erst derartige Studien und Forschungen?
Welcher Art sind die Kontexte und Struk-
turen innerhalb derer sie ausgeführt werden?
Welche Rolle spielen sie im heutigen gesell-
schaftlichen Produktionsprozeß?
Einige Teile dieser Fragen wurden bereits
in unserer Diskussion beantwortet. Wir
können jedoch hinzufügen, daß diese Fragen
von einem gesellschaftlichen Produktions-
system aufgeworfen wexden, das folgenden
grundsätzlichen Zwängen unterliegt
1. Es muß die Formen seiner Produkte stän-
dig erneuern; es muß sich die peripheren
Sektoren der professionellen Organisatio-
nen unterwerfen, denen die Aufgabe des
Experimentierens mit neuen Formen, ‘“Mo-
dellen’’, zufällt (es wäre in der Tat sinnvoll,
den Weg zu verfolgen, auf dem die neuen
Formmodelle, kreiert von isolierten Form-
Entwerfern, in die Massenproduktion über-
führt werden);
2. Es muß eine höchst differenzierte Öf-
fentlichkeit zusammenführen, spricht es
doch die Rolle der ‘“Jungfrauen der Diszip-
lin” gerade denen zu, deren Aufgabe es ist,
das Konzept und die Rolle der Architektur
als ein traditionales Objekt zu erhalten, als
ein Objekt, das die wahren Qualitäten der
Kommunikation bewahrt.
Somit verlassen wir das Objekt selbst und
gehen stattdessen über auf das System,
welches durch sich selbst Bedeutung
vermittelt. Die Kritik verlagert damit ihre
Nachforschungen explizit von einer spezifi-
schen Aufgabe auf die Struktur, die den
gesamten Bedeutungsumfang des Objektes
bedingt. Jetzt wird unsere These deutlich,
daß es zur Aufgabe der Kritik gehört, die
Grenzen ihres Gegenstandes zu überschrei-
ten. Ausgehend von der Untersuchung der
gegensätzlichen Versuche, die die Architek-
tur wieder in das Reich des Diskurses
zurückführen wollen, wobei wir uns nach
der Stellung und der Reichweite derartiger
Versuche gefragt haben, sind wir dazu
gelangt, die Rolle des architektonischen
Diskurses selbst zu spezifizieren.
Bei verschiedenen Gelegenheiten haben
wir versucht zu zeigen, daß die Alternati-
ven, die im Wechsel der historischen Avant-
garden als Gegensätze erscheinen (etwa:
Ordnung und Unordnung, Gesetz und Ver-
änderung, Struktur und Chaos), sich in
Wahrheit vollkommen komplementär zu-
einander verhalten 26). Wir haben das bei-
spielhaft an der Gallaratese-Nachbarschaft
in Mailand gesehen, in der die Dialektik
von Purismus und Konstruktivismus zum
Ausdruck gebracht wird. Die historische
Bedeutung dieses solcherart komplementä:
ren Systems geht allerdings über das spezi-
elle Beispiel hinaus. Man degradiert den
Stoff, aus dem Kommunikation gemacht
ist, wenn man ihn auf die Ebene von Ge-
meinplätzen bringt und dazu zwingt, im
gierigen Sumpf des Kommerzes gespiegelt
und auf erstaunte und entleerte Zeichen re-
duziert zu werden - das ist ein Vorgang, der
von der tragischen Clownerie des Cabaret
Voltaire bis zu dem Merzbau von Kurt
Schwittes und dem telefonisch komponier-
ten Bildern von Laszlo Maholy-Nagy führt.
Dennoch gibt es ein überraschendes Ergeb-
nis: das erniedrigende Eintauchen in das
Chaos wird zur Voraussetzung für die Exi-
stenz einer neuen Bedeutung, die, nachdem
sie die Logik des Chaos in sich aufgenom-
men hat, dieses nun von innen her be-
herrscht.
Damit haben wir die Form des Informel-
len als Sieg (über das Chaos). Auf der einen
Seite haben wir die Manipulation der rei-
nen Zeichen als Grundlage des architekto-
nischen Konstruktivismus, auf der anderen
Seite die Anerkennung des Unbestimmten,
des Zerfallsprozesses. Die Kontrolle des
Chaos und des Zufälligen erfordert eine
zweifache Grundhaltung. Wie Rudolf Arn-
heim richtig bemerkt: ‘Das frühzeitige In-
sistieren auf Minimalformen von maximaler
Präzision (die Arbeiten von Jean Arp sind
hierfür symptomatisch) und die nachfolgen-
den Manifestationen anderenorts in Er-
scheinung tretender Unordnung, sind in
Wahrheit Symptome ein und desselben