Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1978, Jg. 10, H. 37-42)

Venturi und Rauch: Entwurf für die Zweihundertjahrfeier der USA, Fniladelphia, 1972. Schnitt 
Vsevolod M. Eichenbaum herausfordern zu 
wollen. Es soll hier keiner Theorie des kri- 
tischen Empirismus das Wort geredet wer- 
den. Vielmehr sind wir der Auffassung, daß 
jede Kritik ihre Struktur in der Tat zugleich 
aus sich selbst und aus dem analysierten 
Gegenstand gewinnt. Darum kann heute 
eine hochspezialisierte Analyse von Archi- 
tektur, die durch ein sprachtheoretisches 
Verständnis gekennzeichnet ist, nur zueinem 
Ergebnis führen: zu einer Tautologie. 
Die Zergliederung und Rekonstruktion 
der geometrischen Metaphern der ‘“kompo- 
sitionellen Rigoristen” kann sich als Spiel 
ohne Ende und eventuell als nutzlos erwei- 
sen, se/bst wenn, wie in der Arbeit E/sen- 
mans, der Vorgang der Montage gänzlich‘ 
durchsichtig ist und in einer höchst lehr- 
buchhaften Form vorgestellt wird. In An- 
betracht solcher Arbeiten ist es die Aufga- 
be der Kritik, werkimmanent zu beginnen, 
um dann so schnell als möglich den Teu- 
felskreis einer Sprache zu durchbrechen, 
die ausschließlich von sich selbst erzählt. 
Offensichtlich liegen die Probleme der Kri- 
tik anderswo. Wir glauben nicht an die 
“neuen Trends” innerhalb der zeitgenössi- 
schen Architektur 25), Dennoch besteht 
wenig Zweifel an der Existenz einer weit- 
verbreiteten Haltung, die darauf bedacht 
ist, den einzigartigen Charakter der ‘Dis- 
ziplin’ auf eine Weise wiederzugewinnen, 
die ihn von seinen ökonomischen und 
funktionalen Kontextbedingungen löst, 
und ihn zu einem außergewöhnlichen und 
von nun an surrealen Ereignis hochstili- 
siert, indem sie ihn aus dem durch den ge- 
sellschaftlichen Produktionsprozeß ausgelö- 
sten Wandel der Objektwelt ausklammert. 
Sind derartige Absichten am Werk, spre- 
chen wir von einer “architecture dans le 
boudoir”. Und das nicht nur, weil wir uns 
einer “Architektur der Grausamkeiten” ge- 
genübergestellt sehen, wie bei den Arbeiten 
von Stirling und Rossi mit ihrer Grausam- 
keit einer Sprache — als —System — von — 
Ausklammerungen, sondern auch, weil der 
magische Kreis, mit dem diese Sprachexpe- 
rimente umgeben werden, auf eine über- 
deutliche Affinität zu der strukturellen 
Strenge der Schriften des Marquis de Sade 
offenbart: ‘Da, wo das ganze Interesse 
Sexualität ist, müssen alle von Sexualität 
reden‘. Die Utopie des Eros bei De Sade: 
das ist die ‘fixe Idee’, maximale Freiheit, 
entspringe einem Maximum an Terror. 
Dem entspricht der das ganze Werk prägen- 
de, äußerste Zwang einer ‘geometrischen’ 
Erzählstruktur. (Dem gleicht — nach Ta- 
furi — die „Grausamkeit“ und „„Geome- 
trie‘ der „„Erzählweise“ Stirlina‘s und 
A 
a 
Rossi’s — Anm. d. Übers.). Die Wiederge- 
winnung einer „Ordnung des Diskurses“‘ 
mag heute als der Gewinn subjektiver 
Freiheiten erscheinen, besonders nach 
der Zerstörung ihrer Illusionen durch die 
Avantgarde, ihrer Infragestellung der 
Techniken der Masseninformationen und 
dem Verschwinden künstlerischer Arbeit 
im Prozeß der Massenproduktion. Den- 
noch bleiben zwei mit der Wiedergewin- 
nung einer Ordnung des Diskurses ver- 
bundene Widersprüche bestehen: einer- 
seits sind solche Versuche dazu bestimmt, 
zu zeigen, daß Freiheit nur dazu dient, 
das Schweigen der Dinge zum Sprechen 
zu bringen d.h., daß mit voluntaristischen 
Handlungen die bestehende Struktur 
nicht bekämpft werden kann; anderer- 
seits bilden die „Regeln des Diskurses’” 
einen Versuch, über diesen toten Punkt 
hinauszugehen und eine Basis für eine 
neue Architekturkonzeption zu 
schaffen. (.....) Dennoch sind 
wir bisher dem hermetischen Spiel der 
Sprache nicht entkommen. 
Folgende Fragen muß die Kritik heute 
stellen: Welche Bedingungen ermöglichen 
erst derartige Studien und Forschungen? 
Welcher Art sind die Kontexte und Struk- 
turen innerhalb derer sie ausgeführt werden? 
Welche Rolle spielen sie im heutigen gesell- 
schaftlichen Produktionsprozeß? 
Einige Teile dieser Fragen wurden bereits 
in unserer Diskussion beantwortet. Wir 
können jedoch hinzufügen, daß diese Fragen 
von einem gesellschaftlichen Produktions- 
system aufgeworfen wexden, das folgenden 
grundsätzlichen Zwängen unterliegt 
1. Es muß die Formen seiner Produkte stän- 
dig erneuern; es muß sich die peripheren 
Sektoren der professionellen Organisatio- 
nen unterwerfen, denen die Aufgabe des 
Experimentierens mit neuen Formen, ‘“Mo- 
dellen’’, zufällt (es wäre in der Tat sinnvoll, 
den Weg zu verfolgen, auf dem die neuen 
Formmodelle, kreiert von isolierten Form- 
Entwerfern, in die Massenproduktion über- 
führt werden); 
2. Es muß eine höchst differenzierte Öf- 
fentlichkeit zusammenführen, spricht es 
doch die Rolle der ‘“Jungfrauen der Diszip- 
lin” gerade denen zu, deren Aufgabe es ist, 
das Konzept und die Rolle der Architektur 
als ein traditionales Objekt zu erhalten, als 
ein Objekt, das die wahren Qualitäten der 
Kommunikation bewahrt. 
Somit verlassen wir das Objekt selbst und 
gehen stattdessen über auf das System, 
welches durch sich selbst Bedeutung 
vermittelt. Die Kritik verlagert damit ihre 
Nachforschungen explizit von einer spezifi- 
schen Aufgabe auf die Struktur, die den 
gesamten Bedeutungsumfang des Objektes 
bedingt. Jetzt wird unsere These deutlich, 
daß es zur Aufgabe der Kritik gehört, die 
Grenzen ihres Gegenstandes zu überschrei- 
ten. Ausgehend von der Untersuchung der 
gegensätzlichen Versuche, die die Architek- 
tur wieder in das Reich des Diskurses 
zurückführen wollen, wobei wir uns nach 
der Stellung und der Reichweite derartiger 
Versuche gefragt haben, sind wir dazu 
gelangt, die Rolle des architektonischen 
Diskurses selbst zu spezifizieren. 
Bei verschiedenen Gelegenheiten haben 
wir versucht zu zeigen, daß die Alternati- 
ven, die im Wechsel der historischen Avant- 
garden als Gegensätze erscheinen (etwa: 
Ordnung und Unordnung, Gesetz und Ver- 
änderung, Struktur und Chaos), sich in 
Wahrheit vollkommen komplementär zu- 
einander verhalten 26). Wir haben das bei- 
spielhaft an der Gallaratese-Nachbarschaft 
in Mailand gesehen, in der die Dialektik 
von Purismus und Konstruktivismus zum 
Ausdruck gebracht wird. Die historische 
Bedeutung dieses solcherart komplementä: 
ren Systems geht allerdings über das spezi- 
elle Beispiel hinaus. Man degradiert den 
Stoff, aus dem Kommunikation gemacht 
ist, wenn man ihn auf die Ebene von Ge- 
meinplätzen bringt und dazu zwingt, im 
gierigen Sumpf des Kommerzes gespiegelt 
und auf erstaunte und entleerte Zeichen re- 
duziert zu werden - das ist ein Vorgang, der 
von der tragischen Clownerie des Cabaret 
Voltaire bis zu dem Merzbau von Kurt 
Schwittes und dem telefonisch komponier- 
ten Bildern von Laszlo Maholy-Nagy führt. 
Dennoch gibt es ein überraschendes Ergeb- 
nis: das erniedrigende Eintauchen in das 
Chaos wird zur Voraussetzung für die Exi- 
stenz einer neuen Bedeutung, die, nachdem 
sie die Logik des Chaos in sich aufgenom- 
men hat, dieses nun von innen her be- 
herrscht. 
Damit haben wir die Form des Informel- 
len als Sieg (über das Chaos). Auf der einen 
Seite haben wir die Manipulation der rei- 
nen Zeichen als Grundlage des architekto- 
nischen Konstruktivismus, auf der anderen 
Seite die Anerkennung des Unbestimmten, 
des Zerfallsprozesses. Die Kontrolle des 
Chaos und des Zufälligen erfordert eine 
zweifache Grundhaltung. Wie Rudolf Arn- 
heim richtig bemerkt: ‘Das frühzeitige In- 
sistieren auf Minimalformen von maximaler 
Präzision (die Arbeiten von Jean Arp sind 
hierfür symptomatisch) und die nachfolgen- 
den Manifestationen anderenorts in Er- 
scheinung tretender Unordnung, sind in 
Wahrheit Symptome ein und desselben
	        
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