tektur aus der Wirklichkeit beinhaltet ein
umfassendes Ziel, das deutlich wird, wenn
wir die Forschungen, die auf Arbeiten von
Leuten wie Raymond Unwin, Barry Parker,
Clarence Stein, Charles Harris Whitaker,
Henry Wright, Fritz Schumacher, Ernst May
und Hannes Meyer aufbauen, verstehen.
Das, was den roten Faden in diesen Ar-
beiten bildet, ist die Vorrangstellung struk-
tureller Untersuchungen. Wir sehen
hierin eine Alternative zu den vorher analy-
sierten Werken. Gewiß ist es möglich, die
urbanen Modelle von New Earswick, Pull-
man Town, Radburn oder von Battery Park
City sprachtheoretisch zu analysieren. Aber
wir müssen uns bewußt sein, daß es bei einem
Kunstgriff bleibt: so, wie im Fall desjeni-
gen, der sich bei der Analyse einer Assem-
blage von Rauschenberg bereitwillig darin
verliert, die Herkunft jedes Einzelstücks zu
katalogisieren. In Wirklichkeit interpretie-
ren diejenigen, auf die wir uns jetzt bezie-
hen — und das läßt sich historisch nachwei-
sen — die Architektur als ein alles in allem
jedoch nebensächliches Phänomen. Von
vorrangigem Interesse sind vielmehr typo-
logische Analysen — die Einführung eines
Konzeptes ökonomischen Kreislaufs als der
bestimmenden Variable für jede vorgeschla-
gene Struktur und die Eingriffe zur Len-
kung des Einsatzes der produktiven Kapazi-
täten ebenso wie die Entwicklung eines Re-
gionalplanes.
In all dem ist der Versuch einer radikalen
Änderung der sozialen Arbeitsteilung ent-
halten und damit eine Änderung der Auf-
gabe der Planung und des Entwurfs. Der
Verzicht auf professionelle Praxis und die
Übernahme des Posten des Chief-Architect
für Wiederaufbau und Stadtplanung beim
Gesundheitsministerium durch Raymond
Unwin (1918), die Erfüllung eines neuen
Professionalismus durch Martin Wagner als
Stadtbaurat von Berlin zwischen 1925 und
1933, die technisch-politische Tätigkeit
von Rexford Tugwell innerhalb der Resett-
lement Administration während der New
Deal-Epoche, und die Techniker, die es
heutzutage vorziehen, in Verbindung mit
Kooperativen oder Kommunalverwaltun-
gen zu arbeiten, streben zweifellos nach
anderen Alternativen als jene, die von der
Erhaltung einer sprachlichen ‘Aura’ der
Architektur besessen sind.
Letztere geraten nicht in politische Miß-
verständnisse und Ambiguitäten, aber sie
erkaufen ihren Wunsch nach Reinheit teuer
mit einer Ungleichzeitigkeit — ein zweifel-
los nicht immer zweitrangiger Grund ihres
Charms. Die Ersteren wollen demgegenüber
nach ihren politischen Aktionen beurteilt
werden, auch wenn sie nicht insgesamt er-
folgreich sind. Das ist darin begründet, daß
sie in ihrer Arbeit einer Logik folgen, die
eine zweideutige Stellung zwischen der ka-
pitalistischen Entwicklung, den Institutio-
nen und der Klassenbewegung einzunehmen
scheint. Unter günstigen Bedingungen ha-
ben sie versucht, eine unmittelbare Über-
einstimmung zwischen den Zielen der urba-
nen Reformen, den Veränderungen der ge-
sellschaftlichen Produktionsverhältnisse
und den Strategien der Arbeiterbewegung
und deren Organisationen zu erreichen.
Berechtigterweise ist das die ideologische
Seite dieses Vorgehens, ein mystifizieren-
der Aspekt gegen den jede Polemik gezwun-
gen ist, eine po/itische Haltung einzuneh-
men. Es existiert jedoch eine Untergrund-
bewegung, die sich von der architektoni-
schen Disziplin entfernt hat -- von der
Form zur Reform — und welche möglicher-
weise bestimmte Ambiguitäten überwinden
kann. Unter all diesen verschiedenen Ver-
suchen wird immerhin eine neue Tendenz
erkennbar: die Rolle der “neuen Techni-
ker”, die, eingebunden in die Organisatio-
nen der Bauproduktion und der Regional-
planung, nicht so sehr Spezialisten der Spra-
che als vielmehr Produzenten sind.
Sich den Architekten als Produzent vor-
zustellen, fordert die Abkehr von fast allen
festgefügten Wertvorstellungen und Mei-
nungen. Wenn der gesamte Produktionspro-
zeß und nicht so sehr ein einzelnes Werk
betrachtet wird, dann muß die kritische
Analyse auf die den Produktionszyklus be-
stimmenden materiellen Zwänge ausgerich-
tet werden. Das alleine reicht jedoch noch
nicht aus. Die spezifische Analyse muß zu
der Dynamik des gesellschaftlichen Produk:
tionsprozesses kompatibel sein, um nicht
jenen Mißverständissen zu unterliegen, die
von einer Sichtweite herrühren, die die
Ökonomie als einen der Architektur nach-
geordneten Bereich betrachtet. Mit anderen
Worten: Das Aktionsfeld, das die Architek-
tur einzunehmen wünscht, oder über das sie
gerne verfügen möchte, ist dahingehend zu
verändern, daß es der wirklichen Bedeu-
tung des Bauens entspricht; d.h. wir müssen
adäquate Parameter finden, die uns erlau-
ben, die Rolle, die das Bauen im gesamten
kapitalistischen System einnimmt, zu beur-
teilen. Es kann hier eingewendet werden,
daß eine derart ökonomische Sichtweise .
der Bauproduktion eben nur ganz andere
Akzente einführt als eine Sichtweise, die
die Architektur als Kommunikationssystem
betrachtet. Wir können hierauf nur entgeg-
nen, daß, will man die Tricks eines Zaube-
rers erkennen, es oft zweckmäßiger ist, ihn
von dem Hintergrund der Bühne aus zu be-
obachten, als ihn fortwährend aus dem
Publikum anzustarren.
Es ist klar, daß, wenn die Rolle der archi-
tektonischen Ideologie als dem Produkti-
onszyklus eingeordnet gesehen wird — ob-
gleich als ein zweitrangiges Element — es
recht einfach wird, die Pyramide der Wer-
tungen, die normalerweise von der Archi-
tekturbetrachtung verfolgt werden, umzu-
stoßen. Haben wir dies erst einmal als Be-
urteilungsgrundlage akzeptiert, ist es lächer-
lich danach zu fragen, auf welche Weise
die Wahl einer Sprache oder von Sprachele-
menten eine ‘“freiere’” Lebensweise aus-
drücken oder antizipieren kann. Das, wo-
raufhin die Kritik die Architektur befragen
muß, ist, soweit es sich bei ihr um eine In-
stitution handelt, auf welche Art und Weise
sie in der Lage ist, die Produktionsverhält-
nisse zu beeinflussen. Wir halten es deswe-
gen für wichtig, bestimmte Fragen hier wie-
der aufzugreifen, die Walter Benjamin in
einem seiner bedeutendsten Essavs, “Der
Autor als Produzent”, gestellt hat:
Anstatt nämlich zu fragen: wie steht ein Werk
zu den Produktionsverhältnissen der Epoche? ist
es mit ihnen einverstanden, ist es reaktionär odeı
strebt es ihre Umwälzung an, ist es revolutionär?
—anstele dieser Frage oder jedenfalls vor dieser
Frage möchte ich eine andere Ihnen vorschlagen.
Also ehe ich frage:wie steht eine Dichtung zu
den Produktionsverhältnissen.der Epoche? möch-
te ich fragen: wie steht sie in ihnen? Diese Fra-
ge zielt unmittelbar auf die Funktion, die das
Werk innerhalb der schriftstellerischen Produkti-
onsverhältnisse einer Zeit hat. Sie zielt mit ande-
ren Worten unmittelbar auf ne schriftstellerische
Technik der Werke". 37
Dieser Standpunkt ist für Benjamin ge-
genüber seiner eigenen, mehr ideologischen
Position, wie er sie in Schlußfolgerungen
zum “Kunstwerks im Zeitalter seiner tech-
nischen Reproduzierbarkeit” einnimmt, ein
radikaler Schritt nach vorn. Unter den Fra-
gen, wie er sie in “Der Autor als Produzent”
stellt, gibt es keine Zugeständnisse mehr an
Vorschläge, die die Architektur durch “al-
ternative” Gebrauchsweisen der sprachli-
chen Elemente zu retten versuchen, keine
Ideologie mehr einer “kommunistischen”
im Gegensatz zur “faschistischen” Kunst.
Es gibt lediglich eine — wirklich authentisch
— strukturelle Betrachtung der produkti-
ven Rolle der intellektuellen Aktivitäten,
und somit von Fragen, die ihren möglichen
Beitrag zur Entwicklung der Produtktions-
verhältnisse betreffen. Es gibt sicherlich
schwache Punkte im Text von Benjamin,
die den politischen Wert gewisser techni-
scher Innovationen betreffen — wir denken
an die zwischen dem Dadaismus und dem
Inhalt der politischen Photomontage von
Haertfield 38) gezogenen Verbindungen,
die von Benjamin als ‘“revolutionär” be-
trachtet werden. Dennoch ist die Substanz
seiner Argumente für uns heute in dem Ma:
ße wesentlich, wie sie tatsächlich eine radi-
kale Revision in der Interpretation funda-
mentaler Wendepunkte in der Geschichte
der zeitgenössischen Kunst und Architek-
tur einleiten können. Gegenüber der zentra-
len Frage, welche Position das Kunstwerk
innerhalb der gesellschaftlichen Produkti-
onsverhältnisse einnimmt, erhalten viele
“Meisterwerke” der modernen Architektur
eine zweitrangige, wenn nicht marginale Be-
deutung und ein großer Teil der laufenden
Architekturtheorien erweist sich als peri-
pher.
Vor diesem Hintergrund erweisen sich
unsere abschließenden Bemerkungen, die
die gegenwärtige Suche betreffen, die Ar-
chitektur zu ihrer ursprünglichen “Rein-
heit” zurückzuführen, als gültig. Die Studi-
en, deren Ernsthaftigkeit wir nicht in Frage
stellen, müssen wir als “Parallelaktion” ver-
stehen, d.h. als Vorschläge, die die Herstel-
lung einer nicht verunreinigten Schicht, die
über (oder unter) den wirklich bestimmen-
den Kräften schwebt, beabsichtigen. L‘Art
pour l’art war auf eigene Weise eine Form
des bürgerlichen ‘Protests’ gegen die Zi/vili-
sation. In der Verteidigung der Ku/tur ge-
gen die Zivilisation schreibt Thomas Mann
“ .... Die Betrachtungen eines Unpoliti-
schen”, die, denken wir sie zu Ende, die
von Schiller angeführte Identifikation von
Kunst und Spiel bekräftigen — der “Mut
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