Full text: ARCH+ : Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen (1978, Jg. 10, H. 37-42)

tektur aus der Wirklichkeit beinhaltet ein 
umfassendes Ziel, das deutlich wird, wenn 
wir die Forschungen, die auf Arbeiten von 
Leuten wie Raymond Unwin, Barry Parker, 
Clarence Stein, Charles Harris Whitaker, 
Henry Wright, Fritz Schumacher, Ernst May 
und Hannes Meyer aufbauen, verstehen. 
Das, was den roten Faden in diesen Ar- 
beiten bildet, ist die Vorrangstellung struk- 
tureller Untersuchungen. Wir sehen 
hierin eine Alternative zu den vorher analy- 
sierten Werken. Gewiß ist es möglich, die 
urbanen Modelle von New Earswick, Pull- 
man Town, Radburn oder von Battery Park 
City sprachtheoretisch zu analysieren. Aber 
wir müssen uns bewußt sein, daß es bei einem 
Kunstgriff bleibt: so, wie im Fall desjeni- 
gen, der sich bei der Analyse einer Assem- 
blage von Rauschenberg bereitwillig darin 
verliert, die Herkunft jedes Einzelstücks zu 
katalogisieren. In Wirklichkeit interpretie- 
ren diejenigen, auf die wir uns jetzt bezie- 
hen — und das läßt sich historisch nachwei- 
sen — die Architektur als ein alles in allem 
jedoch nebensächliches Phänomen. Von 
vorrangigem Interesse sind vielmehr typo- 
logische Analysen — die Einführung eines 
Konzeptes ökonomischen Kreislaufs als der 
bestimmenden Variable für jede vorgeschla- 
gene Struktur und die Eingriffe zur Len- 
kung des Einsatzes der produktiven Kapazi- 
täten ebenso wie die Entwicklung eines Re- 
gionalplanes. 
In all dem ist der Versuch einer radikalen 
Änderung der sozialen Arbeitsteilung ent- 
halten und damit eine Änderung der Auf- 
gabe der Planung und des Entwurfs. Der 
Verzicht auf professionelle Praxis und die 
Übernahme des Posten des Chief-Architect 
für Wiederaufbau und Stadtplanung beim 
Gesundheitsministerium durch Raymond 
Unwin (1918), die Erfüllung eines neuen 
Professionalismus durch Martin Wagner als 
Stadtbaurat von Berlin zwischen 1925 und 
1933, die technisch-politische Tätigkeit 
von Rexford Tugwell innerhalb der Resett- 
lement Administration während der New 
Deal-Epoche, und die Techniker, die es 
heutzutage vorziehen, in Verbindung mit 
Kooperativen oder Kommunalverwaltun- 
gen zu arbeiten, streben zweifellos nach 
anderen Alternativen als jene, die von der 
Erhaltung einer sprachlichen ‘Aura’ der 
Architektur besessen sind. 
Letztere geraten nicht in politische Miß- 
verständnisse und Ambiguitäten, aber sie 
erkaufen ihren Wunsch nach Reinheit teuer 
mit einer Ungleichzeitigkeit — ein zweifel- 
los nicht immer zweitrangiger Grund ihres 
Charms. Die Ersteren wollen demgegenüber 
nach ihren politischen Aktionen beurteilt 
werden, auch wenn sie nicht insgesamt er- 
folgreich sind. Das ist darin begründet, daß 
sie in ihrer Arbeit einer Logik folgen, die 
eine zweideutige Stellung zwischen der ka- 
pitalistischen Entwicklung, den Institutio- 
nen und der Klassenbewegung einzunehmen 
scheint. Unter günstigen Bedingungen ha- 
ben sie versucht, eine unmittelbare Über- 
einstimmung zwischen den Zielen der urba- 
nen Reformen, den Veränderungen der ge- 
sellschaftlichen Produktionsverhältnisse 
und den Strategien der Arbeiterbewegung 
und deren Organisationen zu erreichen. 
Berechtigterweise ist das die ideologische 
Seite dieses Vorgehens, ein mystifizieren- 
der Aspekt gegen den jede Polemik gezwun- 
gen ist, eine po/itische Haltung einzuneh- 
men. Es existiert jedoch eine Untergrund- 
bewegung, die sich von der architektoni- 
schen Disziplin entfernt hat -- von der 
Form zur Reform — und welche möglicher- 
weise bestimmte Ambiguitäten überwinden 
kann. Unter all diesen verschiedenen Ver- 
suchen wird immerhin eine neue Tendenz 
erkennbar: die Rolle der “neuen Techni- 
ker”, die, eingebunden in die Organisatio- 
nen der Bauproduktion und der Regional- 
planung, nicht so sehr Spezialisten der Spra- 
che als vielmehr Produzenten sind. 
Sich den Architekten als Produzent vor- 
zustellen, fordert die Abkehr von fast allen 
festgefügten Wertvorstellungen und Mei- 
nungen. Wenn der gesamte Produktionspro- 
zeß und nicht so sehr ein einzelnes Werk 
betrachtet wird, dann muß die kritische 
Analyse auf die den Produktionszyklus be- 
stimmenden materiellen Zwänge ausgerich- 
tet werden. Das alleine reicht jedoch noch 
nicht aus. Die spezifische Analyse muß zu 
der Dynamik des gesellschaftlichen Produk: 
tionsprozesses kompatibel sein, um nicht 
jenen Mißverständissen zu unterliegen, die 
von einer Sichtweite herrühren, die die 
Ökonomie als einen der Architektur nach- 
geordneten Bereich betrachtet. Mit anderen 
Worten: Das Aktionsfeld, das die Architek- 
tur einzunehmen wünscht, oder über das sie 
gerne verfügen möchte, ist dahingehend zu 
verändern, daß es der wirklichen Bedeu- 
tung des Bauens entspricht; d.h. wir müssen 
adäquate Parameter finden, die uns erlau- 
ben, die Rolle, die das Bauen im gesamten 
kapitalistischen System einnimmt, zu beur- 
teilen. Es kann hier eingewendet werden, 
daß eine derart ökonomische Sichtweise . 
der Bauproduktion eben nur ganz andere 
Akzente einführt als eine Sichtweise, die 
die Architektur als Kommunikationssystem 
betrachtet. Wir können hierauf nur entgeg- 
nen, daß, will man die Tricks eines Zaube- 
rers erkennen, es oft zweckmäßiger ist, ihn 
von dem Hintergrund der Bühne aus zu be- 
obachten, als ihn fortwährend aus dem 
Publikum anzustarren. 
Es ist klar, daß, wenn die Rolle der archi- 
tektonischen Ideologie als dem Produkti- 
onszyklus eingeordnet gesehen wird — ob- 
gleich als ein zweitrangiges Element — es 
recht einfach wird, die Pyramide der Wer- 
tungen, die normalerweise von der Archi- 
tekturbetrachtung verfolgt werden, umzu- 
stoßen. Haben wir dies erst einmal als Be- 
urteilungsgrundlage akzeptiert, ist es lächer- 
lich danach zu fragen, auf welche Weise 
die Wahl einer Sprache oder von Sprachele- 
menten eine ‘“freiere’” Lebensweise aus- 
drücken oder antizipieren kann. Das, wo- 
raufhin die Kritik die Architektur befragen 
muß, ist, soweit es sich bei ihr um eine In- 
stitution handelt, auf welche Art und Weise 
sie in der Lage ist, die Produktionsverhält- 
nisse zu beeinflussen. Wir halten es deswe- 
gen für wichtig, bestimmte Fragen hier wie- 
der aufzugreifen, die Walter Benjamin in 
einem seiner bedeutendsten Essavs, “Der 
Autor als Produzent”, gestellt hat: 
Anstatt nämlich zu fragen: wie steht ein Werk 
zu den Produktionsverhältnissen der Epoche? ist 
es mit ihnen einverstanden, ist es reaktionär odeı 
strebt es ihre Umwälzung an, ist es revolutionär? 
—anstele dieser Frage oder jedenfalls vor dieser 
Frage möchte ich eine andere Ihnen vorschlagen. 
Also ehe ich frage:wie steht eine Dichtung zu 
den Produktionsverhältnissen.der Epoche? möch- 
te ich fragen: wie steht sie in ihnen? Diese Fra- 
ge zielt unmittelbar auf die Funktion, die das 
Werk innerhalb der schriftstellerischen Produkti- 
onsverhältnisse einer Zeit hat. Sie zielt mit ande- 
ren Worten unmittelbar auf ne schriftstellerische 
Technik der Werke". 37 
Dieser Standpunkt ist für Benjamin ge- 
genüber seiner eigenen, mehr ideologischen 
Position, wie er sie in Schlußfolgerungen 
zum “Kunstwerks im Zeitalter seiner tech- 
nischen Reproduzierbarkeit” einnimmt, ein 
radikaler Schritt nach vorn. Unter den Fra- 
gen, wie er sie in “Der Autor als Produzent” 
stellt, gibt es keine Zugeständnisse mehr an 
Vorschläge, die die Architektur durch “al- 
ternative” Gebrauchsweisen der sprachli- 
chen Elemente zu retten versuchen, keine 
Ideologie mehr einer “kommunistischen” 
im Gegensatz zur “faschistischen” Kunst. 
Es gibt lediglich eine — wirklich authentisch 
— strukturelle Betrachtung der produkti- 
ven Rolle der intellektuellen Aktivitäten, 
und somit von Fragen, die ihren möglichen 
Beitrag zur Entwicklung der Produtktions- 
verhältnisse betreffen. Es gibt sicherlich 
schwache Punkte im Text von Benjamin, 
die den politischen Wert gewisser techni- 
scher Innovationen betreffen — wir denken 
an die zwischen dem Dadaismus und dem 
Inhalt der politischen Photomontage von 
Haertfield 38) gezogenen Verbindungen, 
die von Benjamin als ‘“revolutionär” be- 
trachtet werden. Dennoch ist die Substanz 
seiner Argumente für uns heute in dem Ma: 
ße wesentlich, wie sie tatsächlich eine radi- 
kale Revision in der Interpretation funda- 
mentaler Wendepunkte in der Geschichte 
der zeitgenössischen Kunst und Architek- 
tur einleiten können. Gegenüber der zentra- 
len Frage, welche Position das Kunstwerk 
innerhalb der gesellschaftlichen Produkti- 
onsverhältnisse einnimmt, erhalten viele 
“Meisterwerke” der modernen Architektur 
eine zweitrangige, wenn nicht marginale Be- 
deutung und ein großer Teil der laufenden 
Architekturtheorien erweist sich als peri- 
pher. 
Vor diesem Hintergrund erweisen sich 
unsere abschließenden Bemerkungen, die 
die gegenwärtige Suche betreffen, die Ar- 
chitektur zu ihrer ursprünglichen “Rein- 
heit” zurückzuführen, als gültig. Die Studi- 
en, deren Ernsthaftigkeit wir nicht in Frage 
stellen, müssen wir als “Parallelaktion” ver- 
stehen, d.h. als Vorschläge, die die Herstel- 
lung einer nicht verunreinigten Schicht, die 
über (oder unter) den wirklich bestimmen- 
den Kräften schwebt, beabsichtigen. L‘Art 
pour l’art war auf eigene Weise eine Form 
des bürgerlichen ‘Protests’ gegen die Zi/vili- 
sation. In der Verteidigung der Ku/tur ge- 
gen die Zivilisation schreibt Thomas Mann 
“ .... Die Betrachtungen eines Unpoliti- 
schen”, die, denken wir sie zu Ende, die 
von Schiller angeführte Identifikation von 
Kunst und Spiel bekräftigen — der “Mut 
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